Jürgen Habermas – der Staatsphilosoph der Bundesrepublik wird 85

Der 85. Geburtstag von Jürgen Habermas, der am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren wurde, hat eine Flut von Gratulations- und Jubelartikeln ausgelöst. „Eindrucksvolle intellektuell-politische Autorität“, „moralisch-philosophische Instanz“, „größter zeitgenössischer Denker Europas“ – die Superlative für Habermas kennen kaum Grenzen.

Rechtzeitig zum Geburtstag veröffentlicht der Suhrkamp-Verlag eine 750-Seiten Biographie. SPD-Chef Sigmar Gabriel betont in seinem Glückwunschschreiben, dass die habermasche „Diskursethik in pädagogischer Aufklärungsabsicht“, die „Willensbildung in der deliberativen Demokratie“ sowie die Theorie vom „herrschaftsfreien Diskurs“, von „Selbstermächtigung der Politik gegen die Übermacht des Finanzsektors“ und vom „Verfassungspatriotismus“ aus den gesellschaftskritischen Debatten nicht mehr wegzudenken seien.

Die Lobeshymnen auf Habermas gleichen einem Schwanengesang auf den Untergang von Sozialpartnerschaft und Klassenzusammenarbeit.

Die WSWS hat in der Vergangenheit in mehreren Artikeln aufgezeigt, dass Habermas’ Diskurstheorie und seine Schriften über Gesellschaftsharmonie dazu dienten, den Klassencharakter der Gesellschaft zu verschleiern. Mit der Zuspitzung der kapitalistischen Krise in den vergangenen zwanzig Jahren wurde dies zunehmend unmöglich, und seine theoretischen Konstrukte bildeten die ideologische Begleitmusik für Sozialabbau, die Einschränkung demokratischer Rechte und die Wiederkehr des Militarismus.

Bereits vor 15 Jahren rechtfertigte Habermas den Nato-Krieg gegen Serbien und die WSWS wies nach, wie die „Kritische Theorie“ zur Kriegstheorie mutierte. In jüngster Zeit hat Habermas die Verteidigung der Europäischen Union gegen die wachsende Ablehnung durch breite Bevölkerungsschichten in den Mittelpunkt seiner philosophisch-politischen Betrachtungen gestellt.

Wir reproduzieren hier einen Kommentar von Ulrich Rippert, der sich mit Habermas’ Unterstützung für den Nato-Krieg gegen Serbien befasst. Er ist am 2. Juni 1999 erstmals auf der WSWS erschienen.

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Bestialität, Humanität, Servilität

Wie Jürgen Habermas den Krieg verteidigt

Drei volle Seiten und die Schlagzeile stellte die renommierte Wochenzeitung Die Zeit dem bekannten Frankfurter Philosophen Jürgen Habermas zur Verfügung. Soviel wusste die Redaktion: die Aufgabe würde nicht leicht zu bewältigen sein. Die sechste Kriegswoche hatte gerade begonnen, und die Fragen und Zweifel an diesem Krieg nahmen mit jeder Bombennacht zu.

Längst war das Gerede über humanitäre Ziele und Verteidigung der Kosovaren durch die Realität ad absurdum geführt. Außenminister Fischer und Verteidigungsminister Scharping nahmen zu völlig untauglichen und absurden Vergleichen zwischen dem Regime in Belgrad und dem Nationalsozialismus Zuflucht. Einige besonnenere Historiker erhoben daraufhin mahnend den Zeigefinger. Außerdem stand der Sonderparteitag der Grünen vor der Tür.

Nun war ein wahrer Experte für Moral gefordert.

Unter der Überschrift „Bestialität und Humanität – Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral“ trat Professor Habermas den Zweiflern entgegen und verteidigte das Nato-Bombardement.

Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass sich Habermas in die politische Debatte einmischt. Es gibt kaum ein gesellschaftliches Ereignis, zu dem er in der Vergangenheit nicht Stellung nahm. Neu ist lediglich, dass er unumwunden als Kriegspropagandist auftritt. Als er vor sieben Jahren die Bombardierung des Irak unterstützte, war er noch zögerlich und stimmte nur „schweren Herzens“ zu. Jetzt übernimmt er völlig die Argumente des Nato-Hauptquartiers und handelt als Apologet des Krieges. Die „Kritische Theorie“ fungiert nun als Kriegstheorie.

Habermas verkörpert den politischen Sinneswandel, der gegenwärtig bei vielen zu beobachten ist, die in den späten sechziger Jahren gegen die politischen Verhältnisse, vor allem gegen den Krieg in Vietnam protestierten. Daniel Cohn-Bendit verlangt den schnellen Einsatz von Bodentruppen der Nato im Kosovo. Dasselbe tut Thomas Schmid, der jahrelang den Boykott der Springerpresse forderte und seit einiger Zeit als Chefkorrespondent der Welt seine Brötchen verdient. Bernd Rabehl, einst legendärer Studentenführer neben Rudi Dutschke, heute Professor an der Berliner Freien Universität, gibt Interviews in der rechtsradikalen Postille „Freie Welt“ und warnt vor einer Überfremdung Deutschlands durch Ausländer. Und natürlich Joschka Fischer, der Frankfurter Sponti und Häuserbesetzer und heutige Außenminister, um nur einige wenige zu nennen.

Die Konjunktur der politischen Wendehälse speist sich aus mehreren Quellen. Zum einen sind aus den revoltierenden Söhnen im Laufe der Jahre Erben geworden, und mit ihrem Reichtum wuchsen gesellschaftliche Macht und Anerkennung. Das führte zu „Respekt vor den Institutionen“, wie Thomas Schmid es einmal treffend ausdrückte. Zum anderen war diese Wandlung aber immer auch mit einer Umwälzung der Argumente verbunden, und hier war Habermas nicht selten der Stichwortgeber. Das hängt direkt mit seinen theoretischen Konzeptionen zusammen.

Fragt man sich, wie der kritische Geist derart auf den Hund und in die Feldflasche der Armee geraten ist, so muss man einen Blick auf die Evolution dieses Theoretikers der „Frankfurter Schule“ werfen.

Als Jürgen Habermas 1964 den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie von Max Horkheimer, dem langjährigen Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS) übernahm, spielte die „Frankfurter Schule“ in den Debatten der Studenten eine große Rolle. Der schon aus den vierziger Jahren stammende Horkheimer-Aufsatz „Autoritärer Staat“ erhitzte damals die Gemüter. Horkheimer zeigte darin nicht nur den Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapitalismus auf, sondern wandte sich auch gegen den Stalinismus, den er als „Staatssozialismus“ bezeichnete. Gleichzeitig warnte er vor Illusionen in das Proletariat „als objektiv vorherbestimmten Träger der Revolution“. Die Umwälzung, „die der Herrschaft ein Ende macht“, entspringe dem bewussten „Willen der Einzelnen“.

Horkheimers Gedanken über den „autoritären Staat“ prägten stark die Konzepte der anti-autoritären Studentenbewegung und ihre Vorstellungen von „direkter Aktion“. Habermas wandte sich sehr bald gegen solche Aktionen und verurteilte sie als „Scheinrevolution“. Er trat stattdessen dafür ein, die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Gruppen „mit privilegierten Einflusschancen“ zu suchen, die „Zugang zu den Massenmedien“ hätten. Später betonte er, dass die entscheidende Frage der gesellschaftlichen Veränderung darin bestehe, wie die unterschiedlichen Interessen begründet und diskutiert würden.

In seinem Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handelns“ untermauerte Habermas diese gesellschaftliche „Diskurs-Theorie“. Neben die menschliche Arbeit tritt als „erkenntnisleitender Mechanismus“ gleichberechtigt, aber getrennt davon die Sprache. Durch Arbeit werde die äußere Natur angeeignet, durch Sprache verständigten sich die Menschen untereinander und organisierten ihr Zusammenleben. Die Wirklichkeit zerfällt in zwei Bereiche mit eigener Logik.

Folgt die Logik im Bereich der Arbeit der Struktur „zweckrationalen und am Erfolg orientierten Handelns“, so richtet sie sich im „Zusammenhang kommunikativen Handelns“ nach „obligatorisch geltenden Normen, die reziproke Verhaltenserwartungen definieren und von mindestens zwei handelnden Subjekten verstanden und anerkannt werden müssen.“ „Der institutionelle Rahmen einer Gesellschaft“ besteht laut Habermas aus solchen „Normen, die sprachlich vermittelte Interaktion leiten.“ (Zitiert nach: J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1973)

„Der gute alte Dualismus...“ kommentiert Christoph Türcke, Privatdozent für Philosophie an der Gesamthochschule Kassel, in seinem Essay „Habermas oder Wie kritische Theorie gesellschaftsfähig wurde“. Türcke macht deutlich, was sich hinter der hochtrabenden, „bis zum Gähnen umständlichen, fremdwortüberladenen Wissenschaftssprache“ verbirgt. Der pompöse „soziologische Begriffsklapperatismus“ diene nur dazu, den dürftigen theoretischen Kern zu verbergen, dass man alles kritisch diskutieren und interpretieren könne, ohne an der Wirklichkeit auch nur das Geringste zu ändern.

Habermas‘ kritische Kommunikantionstheorie hob die „Herrschaftskritik auf ein Niveau, auf dem sie nicht mehr fürchten musste, unter einen Radikalenerlass oder in Resignation zu fallen“, bilanziert er. Hinter der wortreich verfochtenen „Entschränkung der Kommunikation“ – sprich schrankenlosen Kommunikation – verbirgt sich der Aufruf, dass jeder sagen solle, was er wolle, und aus der Forderung nach Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse macht Habermas die „Demokratisierung der Verständigungsverhältnisse“.

In einer Situation, in der jede Woche nicht weniger als achtzig Talkshows im deutschsprachigen Fernsehen stattfinden und viele Politiker, wie Schröder und sein Außenminister Fischer, Politik inszenieren, als wären sie in einer permanenten Talkshow, wurde der Theoretiker des allgemeinen Palavers zum viel zitierten und gefeierten Modephilosophen.

Nun aber zur Habermasschen Kriegsrechtfertigung.

Das Auffallendste ist auch hier, dass die Wirklichkeit völlig außen vor bleibt. Die Frage nach der Ursache des Krieges, der wahre Grund, warum 19 Nato-Staaten in einem pausenlosen Bombardement mit modernsten Waffen ein kleines Land in Schutt und Asche legen und die Bevölkerung terrorisieren, interessieren den Professor nicht. Hier wiederholt er lediglich die alte Leier der Kriegspropaganda und spricht von Durchführung einer „militärischen Strafaktion gegen Jugoslawien“, die nach dem Scheitern von Rambouillet unvermeidlich geworden sei und deren erklärtes Ziel darin bestehe, „liberale Regelungen für die Autonomie des Kosovo innerhalb Serbiens durchzusetzen“.

Das schreibt jemand nach sechs Wochen äußerst brutalem Krieg, in dem die Lebensgrundlagen sowohl in Serbien, als auch im Kosovo weitgehend zerstört wurden.

In besseren Tagen sprach Habermas, gestützt auf Hegel, über Form und Inhalt und machte darauf aufmerksam, dass auch die Form einer gesellschaftlichen Entwicklung durch den Inhalt geprägt und wesentlich sei. Was muss dann aus der äußerst brutalen Form der Nato-Kriegsführung in Bezug auf Ziel und Inhalt dieses Krieges geschlussfolgert werden? Der Herr Professor schweigt.

Je mehr die Wirklichkeit die Propaganda widerlegt, desto mehr hebt Habermas die Debatte auf eine völlig abstrakte Ebene – als hätten abstrakte Begriffe zu den Waffen gegriffen. Seiner Kommunikationstheorie folgend, stellt er Kriegsbefürworter und Kriegsgegner auf eine Ebene. Beides sind in seinen Augen Pazifisten, „Gesinnungspazifisten“ die einen, „Rechtspazifisten“ die anderen, und beide verfügen über gute Argumente. Die „Rechtspazifisten“ orientierten sich am Völkerrecht und verurteilten den Krieg, weil er gegen das Völkerrecht ebenso verstoße wie gegen das verfassungsmäßige Verbot eines Angriffskrieges. Die „Gesinnungspazifisten“ machten die Menschenrechte zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen und legitimierten den Krieg als humanitären Einsatz, um „Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern“.

Dann folgt sein Hauptargument: Mit dem „legal pacifism“ der rot-grünen Regierung stehe „die Transformation des Völkerrechts in ein Recht der Weltbürger auf der Agenda“. Zum ersten Mal nehme die deutsche Regierung die Menschenrechte ernst. „Die unmittelbare Mitgliedschaft in einer Assoziation von Weltbürgern würde den Staatsbürger auch gegen die Willkür der eigenen Regierung schützen.“ Der Krieg müsse als „eine bewaffnete, aber von der Völkergemeinschaft (auch ohne UN-Mandat stillschweigend) autorisierte Frieden schaffende Mission verstanden werden.“ Er stelle „einen Sprung auf dem Wege des klassischen Völkerrechts der Staaten zum kosmopolitischen Recht einer Weltbürgergesellschaft“ dar.

Welch ein Hokuspokus, um die schlichte Tatsache zu vernebeln, dass hier eine Koalition imperialistischer Großmächte ein kleines Land terrorisiert, um über den Kosovo eine Art Nato-Protektorat zu errichten.

Der Diskursethiker will glauben machen, dass durch den Nato-Terror eine demokratische Weltbürgergesellschaft entsteht. Wo bitte wurden die Bürger dazu befragt? Wo haben sie zugestimmt? Gehören auch die Serben zur „Weltbürgergemeinschaft“? Die Argumentation dieses Sozialphilosophen erinnert an die Bemerkung des amerikanischen Generals im Vietnamkrieg, der das Niederbrennen eines Dorfs mit den Worten rechtfertigte, nur so habe es gerettet werden können.

Die Ablehnung und das Misstrauen gegen dies Art „humanitärer Intervention“ wird mit jeder Bombennacht größer, auch wenn sich die wachsende Opposition nur sehr beschränkt artikulieren kann, weil diejenigen Parteien und sozialen Bewegungen, die früher solchen Protest organisierten, jetzt als Regierungsparteien den Krieg unterstützen.

Als demokratische Legitimation des Krieges führt Habermas die „19 zweifelsfrei demokratischen Staaten“ der Nato-Koalition an. „Die ‚Luftschläge‘ haben den Habermas‘schen Demokratiestandard so tief gedrückt, dass selbst die Türkei zu einem ‚zweifelsfrei demokratischen Staat‘ erhöht wird,“ kommentiert Josef Lang in der Schweizer Wochenzeitung vom 20. Mai.

Die Habermas‘sche Kriegspropaganda steuert keinen neuen Gedanken zur Tragödie auf dem Balkan bei, doch verdeutlicht sie die Tatsache, dass die Kritische Theorie der Frankfurter Schule einer politischen Periode angehört, die in diesem Krieg untergeht.

Weitere Artikel der WSWS zu Jürgen Habermas:

Wie Habermas die Europäische Union retten will“, 18. August 2012

Die Bundestagswahl und der Ruf nach Diktatur“, 10. August 2013

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