Die Wiederkehr der Geheimen Staatspolizei

Der Spiegel veröffentlichte in seiner Ausgabe der vergangenen Woche mehr als 50 NSA-Dokumente, die der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden bereits im vergangenen Jahr den Medien übergeben hatte. Diese „Top secret“-Dokumente machen die enge Zusammenarbeit des amerikanischen Geheimdienstes mit dem Bundesnachrichtendienst (BND) und dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) deutlich.

Sie widerlegen die Behauptung führender Mitarbeiter des Sicherheitsapparats und des Innenministeriums, sie seien über die umfangreichen Aktivitäten der NSA in Deutschland überrascht und schockiert. Die Spiegel-Dokumente machen deutlich, dass der BND und der Verfassungsschutz, aber auch Ministeriumsvertreter genau über die Fähigkeiten und Tätigkeiten der NSA Bescheid wussten.

Offenbar haben die deutschen Geheimdienste sogar auf eine noch engere Zusammenarbeit mit der NSA gedrängt. BND und Verfassungsschutz nutzen die NSA-Spionagetätigkeit auf deutschem Boden, um ihre eigenen Aktivitäten stark auszubauen und einen Sicherheitsapparat zu schaffen, der sich jeglicher demokratischen Kontrolle entzieht und einen Staat im Staat bildet.

Der Spiegel schreibt: „Die Dokumente zeichnen das Bild einer omnipotenten amerikanischen Behörde, die in den vergangenen 13 Jahren ein immer engeres Verhältnis zu den Deutschen entwickelt und zugleich ihre Präsenz massiv ausgebaut hat.“ In der Bundesrepublik gebe es „wie in keinem anderen Land in Europa“ eine geheime Überwachungsstruktur der NSA, die nicht nur mit dem Wunsch nach Sicherheit, „sondern auch mit dem Streben nach totaler Kontrolle“ zu tun habe. Mindestens ein Dutzend aktiver Sammelstellen wies die NSA im Jahr 2007 in Deutschland aus.

Nach Ansicht der Spiegel-Redaktion legen die Unterlagen nahe, dass die in Deutschland gewonnen Erkenntnisse auch für die „Festnahme oder Tötung“ von angeblichen Terroristen genutzt werden. „Dient Deutschland also als Brückenkopf für Amerikas tödliche Operationen gegen mutmaßliche Terroristen? Nutzen die CIA und das amerikanische Militär Daten, die die NSA in Deutschland gesammelt hat, für die Einsätze ihrer Kampfdrohnen?“, fragen die Redakteure. Eine Anfrage des Spiegels dazu sei von der NSA unbeantwortet geblieben. Die Fakten lassen aber kaum eine andere Antwort als „Ja“ zu.

Die in den Geheimberichten sichtbar werdende NSA-Spionagetätigkeit ist nach deutschem Recht illegal. „Ist es denkbar, dass die Bundesregierung von all diesen Aktivitäten der NSA auf deutschem Boden nichts gewusst hat?“, fragt der Spiegel und antwortet: „Kaum vorstellbar.“ Denn die NSA sei nicht nur seit Jahrzehnten in Deutschland tätig, sie arbeitet in enger Abstimmung mit dem BND und dessen Fachaufsicht liegt im Kanzleramt.

In einem Dokument mit der Überschrift „NSA Intelligence Relationship with Germany“ (NSA-Geheimdienstbeziehung mit Deutschland) vom 17. Januar 2013 beschreibt die NSA die langjährige Zusammenarbeit mit dem BND und später auch mit dem Verfassungsschutz (BfV) und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Die Zusammenarbeit mit dem BND begann demnach bereits 1962 mit „extensive analytical, operational, and technical exchanges“, also dem ausgiebigen Austausch auf analytischer, operativer und technischer Ebene.

Wörtlich heißt es in dem Dokument: „Die NSA begrüßt den Eifer (eagerness) von BND-Präsident Gerhard Schindler, die bilaterale Kooperation zu stärken und auszubauen.“ Die deutschen Dienste hätten Eigeninitiative und Unabhängigkeit bei der Aufgabe bewiesen, die amerikanischen Bedürfnisse zu unterstützen, die eigenen SIGINT-Fähigkeiten zu verbessern und den Informationsaustausch zu steigern.

„SIGINT“ ist die Abkürzung für „Signals Intelligence“, das heißt: die Gewinnung von Informationen durch das Abfangen elektronischer Signale, zum Beispiel durch das Abfangen von Satellitenfunk oder das Anzapfen von Datenleitungen.

Auch Die Zeit berichtet ausführlich über dieses Dokument und schreibt: „Darin stehen Schachtelsätze wie: ‚Die NSA hat außerdem mehrere multilaterale Treffen mit BND, BfV und CIA veranstaltet, um neue Methoden vorzustellen, mit denen die Fähigkeiten des BfV erweitert werden können, Daten aus der Inlandsüberwachung auszunutzen, zu filtern und zu verarbeiten und mit denen potenziell größere Zugangspunkte entwickelt werden können, von denen sowohl Deutschland als auch die USA profitieren können.‘“

Die Kooperation der amerikanischen und deutschen Geheimdienste ging soweit, dass der BND auf die Bundesregierung Einfluss nahm, den deutschen Datenschutz zu lockern, damit er noch enger mit der NSA zusammenarbeiten kann. Zumindest schreibt das die NSA. Zitat aus dem Dokument: „Die deutsche Regierung hat ihre Interpretation des G-10-Gesetzes, das die Kommunikation von deutschen Staatsbürgern schützt, modifiziert, um dem BND mehr Flexibilität zu geben, geschützte Informationen mit ausländischen Partnern zu teilen.“

Unter „Key Issues“ (Schlüsselfragen) heißt es in dem Dokument: „Im Mai 2012 übertrug die NSA die Gesamtverantwortung für die ‚FORNSAT collection mission‘ (FORNSAT bedeutet: Foreign Satellite Collection, d.h. Überwachung ausländischer Satelliten) an den BND in der Absicht neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Deutschland zu entwickeln.“

In einem Geheim-Bericht aus dem Jahr 2007 schreibt die NSA, die Installation und Integration von deutschen Systemen habe die „Sammlung und Entwicklung von Zielen mit hoher Priorität“ signifikant verbessert. Zu den neuen oder verbesserten Fähigkeiten zählten demnach automatische Überwachungssysteme, Metadatensammlungen, Voice-over-IP-Verarbeitung und Metadatensammlungen in Mobilfunknetzen. NSA-Mitarbeiter hätten dafür BND-Mitarbeiter in Theorie und Praxis geschult, um deren Fähigkeiten in der Netzwerkanalyse zu verbessern.

Darüber hinaus wird in dem Dokument die Datenbank DISHFIRE genannt, in der die NSA Daten aus abgefangenen SMS sammelt. Die Joint SIGINT Activity (JSA), die gemeinsame technische Aufklärung von NSA und BND in Bad Aibling, habe neue Datenströme für die NSA-Datenbank eingerichtet. 330.000 SMS-Daten sende JSA täglich an DISHFIRE.

Die illegalen Praktiken der NSA waren also den deutschen Sicherheitsbehörden nicht nur bekannt, sondern sie waren unmittelbar an diesen Überwachungsmaßnahmen beteiligt. BND, BSI, MAD und Verfassungsschutz tauschen täglich Unmengen von Daten mit ihren US-Verbündeten aus. Weder die USA noch die Bundesregierung haben ein Interesse daran, diese enge Zusammenarbeit in irgendeiner Weise einzuschränken. Auch die neue Bundesregierung hat bisher alles getan, um die Aufklärung der NSA-Affäre zu verhindern.

Dennoch war sie gezwungen, der Einrichtung des NSA-Untersuchungsausschusses im Bundestag zuzustimmen, und Anfang Juni kam Generalbundesanwalt Harald Range nicht darum herum, Ermittlungen wegen der Ausspähung des Handys der Kanzlerin anzukündigen.

Die Veröffentlichung der NSA-Dokumente, die dem Spiegel bereits seit längerem vorliegen, steht in diesem Zusammenhang. In den Medien, Wirtschaftskreisen und Teilen der Politik wird die Forderung nach mehr Unabhängigkeit von den USA und mehr Eigenständigkeit der Geheimdienste und des Sicherheitsapparats erhoben.

Das ist nicht mit einer stärkeren parlamentarischen Kontrolle oder Einschränkung der Überwachung verbunden. Ganz im Gegenteil. Die Kritik am NSA-Überwachungssystem wird mit der Forderung verbunden, sich an die „Stärken der deutschen Abwehr“ (Josef Joffe) zu erinnern.

Geradezu symbolisch steht dafür der Einzug der BND-Agenten in den Neubau der Geheimdienstzentrale an der Berliner Chausseestraße in diesem Sommer. Im größten Bürogebäude Europas werden zukünftig über 4.000 Mitarbeiter damit beschäftigt sein, in enger Kooperation mit anderen Geheimdiensten die Weltbevölkerung zu bespitzeln.

Diese Stärkung des BND und der anderen Geheimdienste ist mit einer weitreichenden Umstrukturierung des gesamten Sicherheitsapparats verbunden. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung wurden in den vergangenen zehn Jahren die Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten massiv ausgedehnt. 2004 entstand das „Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum“ (GTAZ), das Vertreter aller deutschen Sicherheitsbehörden unter einem Dach vereint.

In einem eigens dafür errichteten Gebäude in Berlin-Treptow arbeiten das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), der Bundesnachrichtendienst (BND), das Bundeskriminalamt (BKA), die Bundespolizei, der Militärische Abschirmdienst (MAD), das Zollkriminalamt, die Bundesanwaltschaft, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie alle 16 Landesämter für Verfassungsschutz und alle Landeskriminalämter Hand in Hand. Alle beteiligten Behörden haben Zugriff auf die sogenannte „Anti-Terror-Datei“ des BKA.

Die im Grundgesetz festgelegte Trennung von Polizei und Geheimdiensten – eine wesentliche Lehre aus den Erfahrungen der Nazi-Diktatur – ist faktisch aufgehoben worden. Immer deutlicher zeigen sich die Strukturen eines Polizeistaates, der alle Bürger als potenzielle Staatsfeinde betrachtet und überwacht.

Das wird vor allem in der Kriegsfrage sichtbar. Auf die Ankündigung von Bundespräsident Gauck, SPD-Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen, die Zeit der militärischen Zurückhaltung sei vorbei, Deutschland werde künftig wieder selbstbewusst und eigenständig in den Krisenregionen der Welt eingreifen, reagiert die Bevölkerung überwiegend mit Ablehnung.

Auf diese Opposition reagiert die Regierung nicht nur mit einer intensiven Propagandakampagne, sondern mit der Stärkung des Sicherheitsapparats und staatlicher Aufrüstung. So geht die Wiederkehr des deutschen Militarismus Hand in Hand mit dem Aufbau eines Polizeistaats, dessen Befugnissen mehr und mehr an die Geheime Staatspolizei (Gestapo) der Nazis erinnert.

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