Perspektive

Die Katastrophe in Libyen

Die Evakuierung des amerikanischen diplomatischen Personals aus der libyschen Hauptstadt Tripolis ins benachbarte Tunesien am Wochenende ist der Höhepunkt der Katastrophe, die der Nato-Krieg in Libyen vor drei Jahren entfesselt hat.

Die Kämpfe in der libyschen Hauptstadt zwischen rivalisierenden Milizen waren so heftig, dass sich die Vertreter der USA nicht trauten, vom nahegelegenen Flughafen von Tripolis abzufliegen. Stattdessen flohen die Diplomaten und ihr schwerbewaffnetes von den US-Marines gestelltes Wachpersonal auf dem Landweg in einer Karawane aus Bussen und Geländewagen. Drohnen und Kampfflugzeuge flogen über ihnen, vor der Küste kreuzte ein Zerstörer, der bereit war, alles wegzusprengen, was ihnen in den Weg gekommen wäre.

Washington und die anderen imperialistischen Mächte hatten diese Milizen 2011 im Rahmen eines Krieges zum Regimewechsel bewaffnet, um im Oberst Muammar Gaddafi zu stürzen. Sie ließen dadurch ein zerstörtes Land zurück: die Ölindustrie, das Herz seiner Wirtschaft, droht zusammenzubrechen und ganz Libyen ist in einen außer Kontrolle geratenen Bürgerkrieg verwickelt.

Wie die WSWS damals warnte, war der Krieg ein imperialistischer Raubzug gegen eine wehrlose ehemalige Kolonie. Zehntausende Libyer sind durch die Bombenangriffe der USA, Großbritanniens, Frankreichs und ihrer Verbündeten aus dem Nahen Ostens ums Leben gekommen. Gleichzeitig bewaffneten sie bunt zusammengewürfelte mit Al Qaida verbündete islamistische Milizen, Stammeskräfte und Einheiten von Überläufern des Gaddafi-Regimes, die sie als Bodentruppen einsetzten.

"Wir kamen, wir sahen, er starb," brüstete sich Hillary Clinton lachend auf CBS News, nachdem Gaddafi von diesen amerikanischen Stellvertretertruppen in den zerstörten Ruinen seiner Heimatstadt Sirte festgehalten, gefoltert und ermordet wurde.

Genau wie zuvor in Afghanistan und dem Irak haben die schrecklichen Todesopfer und die Zerstörungen durch die imperialistische Intervention nur die Vorbedingungen für noch mehr Chaos geschaffen. Der Versuch, in einem zerstörten Land, das von rivalisierenden Islamisten und Stammesmilizen kontrolliert wird, ein prowestliches Marionettenregime einzurichten, ist kläglich gescheitert. Im Jahr 2012 wurde der amerikanische Botschafter Christopher Stevens in Bengasi von einer islamistischen Miliz ermordet, der von den USA unterstützte Premierminister Ali Zeidan musste im März nach einem Putsch aus dem Land fliehen, die Flucht aus der amerikanischen Botschaft in Tripolis ist nur die aktuellste Demütigung.

Dieses Ergebnis ist eine Anklage für die ganze blutige Intervention des amerikanischen und europäischen Imperialismus im Nahen Osten. Ihre Außenpolitik wird von einer verschworenen Gemeinschaft von politischen Gangstern und zwielichtigen Figuren im Interesse des Finanzkapitals und der Ölindustrie bestimmt. Westliche Regierungen und Unternehmen rechnen offensichtlich damit, dass sie das Blutvergießen in Libyen von außen beobachten und früher oder später mit denjenigen regionalen Milizen, die sich durchsetzen, ihre Geschäfte machen können.

Im Rahmen ihrer widerlichen Operationen haben sich die USA und ihre Verbündeten immer wieder mit Kräften verbündet, die mit Al Qaida verknüpft sind – wie die Miliz, die vom Abdelhakim Belhadj angeführt wird, der von der CIA entführt und einer "außerordentlichen Überstellung" unterzogen wurde, in deren Rahmen er in Libyen wegen Terrorverdachts eingesperrt wurde. Später wurde er zuerst gegen Gaddafi mobilisiert, danach gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad in Syrien.

Am Montag wurden Berichte bekannt, laut denen das irakische Regime, das während der amerikanischen Besetzung des Landes von 2003 bis 2011 aufgebaut wurde, angesichts der Offensive der sunnitischen, mit Al Qaida verbündeten Milizen vor dem Zusammenbruch steht. Angeblich sitzt die Militärführung in Bagdad "auf gepackten Koffern" für den Fall, dass sie fliehen muss. Der Irak ist, genau wie Libyen zerstört und in drei Lager eines eskalierenden Bürgerkrieges gespalten: den sunnitischen Westen, einen schiitisch-arabischen Rumpfstaat, der an den Iran angrenzt, und einen belagerten kurdischen Staat im Norden. Das ist das Ergebnis der Politik des Plünderns, des Teilens und Herrschens, die die amerikanische Besatzungsmacht angewandt hat.

Diese Politik drückt den Charakter der imperialistischen herrschenden Elite aus: sie schafft nichts, sondern plündert, stiehlt und reißt alles an sich, vor allem in schwachen, ölreichen Ländern. Das Regime von Gaddafi – einem bürgerlichen Nationalisten, der durch die Verstaatlichung der Ölindustrie in den 1970er Jahren den Lebensstandard in seinem Land deutlich erhöhen konnte – war für die Imperialisten ein Hindernis. Von ihrem Standpunkt aus war ein Bürgerkrieg mit hunderttausenden Todesopfern in Libyen, wie auch im Irak nur die Startinvestition für die profitträchtige Plünderung des Öls der Region.

Man sollte sich daran erinnern, wie diese blutige Operation der Öffentlichkeit verkauft wurde: unter dem betrügerischen Deckmantel der Menschenrechte. Die imperialistischen Mächte waren von den Aufständen der Arbeiterklasse in Tunesien und Ägypten Anfang 2011, die zum Sturz prowestlicher Diktaturen führten, gelähmt und verängstigt und versuchten, den Krieg zum Regimewechsel in Libyen, das zwischen den beiden Ländern liegt, zu nutzen, um dort ein von den USA kontrolliertes Marionettenregime zu errichten,

Zur Unterstützung bei der Propagierung des Krieges setzten die herrschenden Klassen eine Reihe von kleinbürgerlichen Parteien und Komplizen aus dem Akademikermilieu ein, die versuchten, der Plünderung Libyens ein "linkes" Gesicht zu verleihen, indem sie sie als humanitären Krieg zum Schutz der Oppositionskräfte darstellten, denen angeblich wegen ihrer demokratischen Revolution gegen Gaddafi die Unterdrückung drohe.

Als der Nato-Krieg begann, veröffentlichte die französische Neue Antikapitalistische Partei (NPA) eine Erklärung mit dem Titel "Unterstützt die libysche Revolution! Weg mit Gaddafi“, in der sie den "Kampf bis zum Tod zwischen dem Volk und der Diktatur" in Libyen verherrlichte.

In den USA verurteilte Professor Juan Cole von der Universität von Michigan alle, die sich, wie die WSWS, aus Prinzip gegen imperialistische Interventionen in Libyen aussprachen. Cole schrieb: "Den Antiimperialismus ohne Verstand über alle anderen Werte zu stellen, führt zu, ehrlich gesagt, absurden Positionen" und fügte hinzu: "Wenn die Nato mich braucht, bin ich da."

Damals enthüllte die WSWS, dass diese Kräfte den rechten Charakter des Aufstandes in Libyen und ihre bankrotte Verteidigung des Imperialismus vertuschten. Die blutige Katastrophe in Libyen für die Kräfte wie die NPA und Professor Cole politisch verantwortlich sind, bestätigte die prinzipientreue Opposition der WSWS.

Als Washington im Jahr 2012 Zeidans kurzlebiges libysches Marionettenregime errichtete, verhöhnte Cole diejenigen, die den Krieg abgelehnt und vor seinen Folgen gewarnt hatten und verleumdete sie als Unterstützer Gaddafis. Nach einer Reise nach Libyen, bei der er eine Protestveranstaltung libyscher Milizen am Flughafen von Tripolis nur knapp verpasst hatte, lachte er über diesen Vorfall und stellte die Plünderung Libyens in schillernden Farben dar.

Cole schrieb: "Über Libyen kursiert eine Art schwarzer Legende, es sei ein gescheiterter, chaotischer Staat geworden, in dem überall bewaffnete Milizionäre seien, dass jeder ein Sezessionist sei, dass die Übergangsregierung nichts tue, dass Menschen aus Gebieten südlich der Sahara in den Straßen belästigt würden, etc. Diese schwarze Legende wird zum Teil von Überbleibseln des Gaddafi-Regimes und seinen Bewunderern im Westen verbreitet, teilweise auch von übereifrigen kleinbürgerlichen Libyern ... Libyen ist nicht wie Somalia! Es ist nicht einmal wie der Jemen."

Diese Verfälschung der schrecklichen Realität des Nachkriegs-Libyens ist das Ergebnis von Feigheit und Dummheit der pseudolinken Politik, die die Interessen privilegierter, proimperialistischer Teile der oberen Mittelschicht ausdrückt. Diese Kräfte lernen nie etwas aus den Katastrophen, die sie angerichtet haben und propagieren jetzt blutige imperialistische Interventionen in Syrien und der Ukraine als demokratische und humanitäre Unternehmen.

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