Biographien der Attentäter widerlegen die Behauptung, Kanada sei terroristisches Angriffsziel

Seitdem am 20. Oktober ein Feldwebel der kanadischen Streitkräfte auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums St. Jean-sur-Richelieu (in der Provinz Quebec) absichtlich überfahren wurde, stellt die konservative kanadische Regierung das Land so dar, als sei es ein unter Angriff genommenes Ziel des organisierten Terrorismus geworden.

Diese Kampagne wurde dramatisch intensiviert, nachdem der Attentäter Michael Zehaf-Bibeau am Mittwoch an der Nationalen Kriegsgedenkstätte im Stadtzentrum von Ottawa den Oberstabsgefreiten Nathan Cirillo niedergeschossen und anschließend im Hauptgebäude des kanadischen Parlaments um sich geschossen hatte.

In einer landesweit übertragenen Fernsehansprache am Mittwochabend sprach der konservative Premierminister Stephen Harper wiederholt von „Terrorismus“ und „terroristischen Angriffen“ und behauptete, Kanada und die kanadische Demokratie seien unter Beschuss. Nachdem er das Gespenst eines Kanadas im Belagerungszustand an die Wand gepinselt hatte, gelobte er feierlich: „Wir lassen uns nicht einschüchtern. Kanada wird sich niemals einschüchtern lassen.“

In seiner Parlamentsrede am Morgen des Folgetages versprach Harper, Kanadas drakonische Antiterrorgesetze umfassend zu stärken. Die Regierung hat bereits angekündigt, dass Kanadas Sicherheitsdienste autorisiert würden, enger mit ausländischen Geheimdiensten zusammenzuarbeiten, um kanadische „Terrorismusverdächtige“ zu überwachen, die ins Ausland reisen. Sie sagte außerdem, dass künftig denjenigen, die dem Canadian Security Intelligence Service (CSIS), dem führenden Inlandsgeheimdienst, Informationen liefern, eine Einstufung zukommen werde, laut der sie „privilegierte“ Immunität genießen. Das heißt, die Identitäten der CSIS-Informanten werden in Gerichtsprozessen nicht bloß geheim gehalten, sondern auch Verteidiger und selbst Richter können diese nicht befragen.

Laut Nachrichtenberichten bereitet die Regierung darüber hinaus eine Ausweitung der staatlichen Befugnisse vor, um Personen in präventiven Gewahrsam nehmen zu können, das heißt, sie ohne Gerichtsbeschluss, lediglich auf Verdacht hin, für einen weit längeren Zeitraum als die üblichen 24 Stunden festhalten zu können. Die Regierung soll außerdem die Einführung von an Großbritannien orientierten Gesetzen erwägen, mit denen das „Loben“ eines terroristischen Anschlags oder die „Anstiftung“ von Menschen zum Terrorismus illegalisiert wird.

Die Oppositionsparteien waren bestrebt, den Versuchen der Regierung, Kanada als terroristisches Angriffsziel zu präsentieren, einen Anstrich von Glaubwürdigkeit zu verleihen. Thomas Mulcair, Anführer der von den Gewerkschaften unterstützten Neuen Demokratischen Partei (NDP), behauptete am Mittwochnachmittag, ähnlich wie Harper in seiner Rede, dass die Schüsse auf das Parlament ein Angriff auf „unsere Nation und unsere Werte“ seien.

Am nächsten Morgen versammelten sich Parlamentsabgeordnete von der NDP und den Liberalen gemeinsam mit konservativen Parlamentariern an der Kriegserinnerungsstätte im Zentrum von Ottawa, um nationale Einigkeit zur Schau zu stellen. Sie marschierten sodann unter Führung Harpers die kurze Strecke zum Parlament und dem Unterhaus.

Nachdem Harper eine reaktionäre Rede gehalten hatte, die ganz im Einklang mit seinen Versuchen vom Vortag stand, Kanada als Opfer „terroristischer Angriffe“ darzustellen, sah der Premierminister sich von Mulcair und Justin Trudeau, dem Führer der Liberalen, umarmt.

Die Angriffe aus der letzten Woche waren reaktionäre Gewaltakte, verübt von Personen, die unter dem Einfluss extremistischer islamistischer Ideologie standen. Die Angriffe forderten nicht nur zwei Menschenleben sowie den Tod der beiden Angreifer, sondern spielten außerdem der Regierung in die Hände. Sie lieferten ihr Munition, um Kanadas Teilnahme am jüngsten von den Vereinigten Staaten angeführten Krieg im Nahen Osten sowie die abermalige Ausweitung des nationalen Sicherheitsapparates und die Angriffe auf demokratische Rechte im Inneren rechtfertigen zu können.

Die Behauptung allerdings, Kanada stehe im Fadenkreuz von Terroristen, ist eine Lüge – sie ist ein Ammenmärchen, das der Öffentlichkeit Furcht einjagen soll, um der Regierung und der kanadischen herrschenden Elite einen politischen Vorwand zu liefern, ihre längst beschlossenen reaktionären Pläne umzusetzen.

Alle Informationen zu den Angriffen der letzten Woche und zu den Attentätern, die publik geworden sind, widerlegen die Lügengeschichte der Regierung.

Die Angriffe wurden von isolierten, marginalisierten, desorientierten und psychisch gestörten Individuen ausgeführt. Weder Zehaf-Bibeau noch der Attentäter aus St. Jean-sur-Richelieu, Martin Couture-Rouleau, gehörten einer „einheimischen“ Gruppe an oder hatten Verbindungen zu einer ausländischen Terrororganisation.

Es scheint, dass keiner von beiden eine Botschaft hinterlassen hat, die seine Handlungen erklären sollte. Außerdem hatten die beiden Attentäter keine Verbindung zueinander.

Die kanadische Fernsehanstalt (CBC) zitierte eine hochrangige Quelle, “die Geheimdienstberichte zu beiden Männern einsah” und beschrieb ihre gemeinsamen Merkmale. „Beide entstammten zerrütteten Familienverhältnissen, führten ein haltloses Leben, nahmen Drogen und gerieten in eine Selbstradikalisierung,“ sagte die Quelle laut dem Bericht.

Der 25-jährige Couture-Rouleau war kürzlich zum Islam konvertiert und offenbar schnell von radikalen islamistischen Ansichten angezogen. Laut Leuten, die ihn kannten, wurde vor etwa einem Jahr das Reinigungsunternehmen ausgeraubt, das er betrieb. Er versank in Depressionen, als die Täter nicht verfolgt wurden.

Die Polizei bestätigte, das Couture-Rouleau auf ihrer „Beobachtungsliste“ von Terrorverdächtigen stand. Diese besteht aus Personen, von denen die Behörde annimmt, dass sie ins Ausland fahren könnten, um sich einer Terrorgruppe wie Isis anzuschließen. Sein Reisepass wurde eingezogen, um ihn daran zu hindern, eben das zu tun.

Couture-Rouleau betätigte sich in sozialen Netzwerken unter dem Pseudonym Ahmed Rouleau. Sein Netzwerkprofil beinhaltete Bilder, Videos und Beiträge, die nahelegen, dass er Isis und andere dschihadistische Gruppen unterstützte. Freunde kommentierten, dass er verärgert über die kanadische Teilnahme an der von den USA angeführten Bombardierung von Isis im Irak und Syrien war.

Michael Zehaf-Bibeau wies trotz der von ihm zum Ausdruck gebrachten frommen muslimischen Ansichten eine lange Geschichte von Drogenmissbrauch und kleineren Straftaten auf. Berichten zufolge nahm er gewohnheitsmäßig Crack, Phencyclidin (PCP) und Heroin zu sich.

Im Jahr 2011 wurde er wegen eines Raubdeliktes in Vancouver in der Provinz British Columbia festgenommen. Ein psychiatrisches Gutachten aus dieser Zeit bescheinigt, dass er, obwohl nicht an einer Geisteskrankheit leidend, ein „zutiefst gestörter Mann“ sei. Mehrere Bekanntschaften, die zuletzt einige Zeit mit Zehaf-Bibeau in Vancouver und in Ottawa verbracht hatten, sagten, dass sein unberechenbares Verhalten sie glauben ließ, dass er an einer Geisteskrankheit litte.

Aus Berichten in der National Post vom Freitag geht hervor, dass Zehaf-Bibeau im Jahr 2011 dermaßen verzweifelt war, seine Kokainabhängigkeit nicht kontrollieren zu können, dass er darum bat, in Gewahrsam genommen zu werden, obwohl ihm wegen des Raubdeliktes Kaution angeboten wurde.

Die Montreal Gazette wies auf die Versuche von Zehaf-Bibeau hin, psychologische Hilfe zu erhalten. Das Blatt schrieb: „Die beiden Männer, die in dieser Woche Soldaten angriffen, scheinen schwere mentale Probleme gehabt zu haben. Sie versuchten, psychologische Hilfe zu erhalten, die ihnen offenbar verwehrt wurde, weil zu wenige Sachverständige für psychische Gesundheit im öffentlichen System arbeiten.“

Nachdem Zehaf-Bibeau einige Zeit in einem Entziehungszentrum in Vancouver verbracht hatte, sagte er Anfang des Monats zu Bekannten, dass er nach Ottawa fahre, um Näheres über die Verzögerung bei seinem Reisepassantrag zu erfahren. Er sagte, er wolle nach Libyen reisen, wo er auf bessere Möglichkeiten hoffe, seine Drogensucht zu überwinden.

Beamte von Polizei und Geheimdienst sagten, sie nehmen an, der Auslöser für seinen Gewaltausbruch sei gewesen, dass er weder von der kanadischen Regierung noch von der libyschen Botschaft einen Reisepass erhalten konnte. Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass es sich nicht um einen im Voraus geplanten terroristischen Angriff handelte.

Am Wochenende gestand die Polizei ein, dass frühere Behauptungen, Zehaf-Bibeau habe den Wunsch gehabt, nach Syrien zu reisen, falsch gewesen seien. Am Samstag wurde eine Stellungnahme von Susan Bibeau, der Mutter von Zehaf-Bibeau, veröffentlicht, in welcher sie sagte, dass ihr Sohn beabsichtigte, nach Saudi-Arabien zu fahren.

Gemäß der National Post schrieb Bibeau, dass ihr Sohn, nachdem sein Reisepassantrag abgelehnt worden war, wahrscheinlich keinen Ausweg mehr sah: „Nicht in der Lage, das Leben fortzuführen, das er führte und nicht in der Lage, zu dem anderen Leben zu gelangen, das er führen wollte.“ Am Ende ihrer Erklärung fügte sie hinzu: „psychische Erkrankung ist der Grund für diese Tragödie.“

Zehaf-Bibeaus Mutter lebt in Montreal und ist zweite Vorsitzende des Einwandererkomitees des Immigrations- und Flüchtlingsrates von Kanada.

Obwohl die Royal Canadian Mounted Police aktuell 93 kanadische Bürger auf ihrer Terroristenbeobachtungsliste führt, war Zehaf Bibeau nicht unter ihnen.

Sein Vater Bulgasem Zehaf, ein ehemaliger Geschäftsmann in Montreal, ist Libyer. Es gibt Berichte, wenngleich noch unbestätigte, dass sein Vater in Verbindung mit der dschihadistischen Miliz im libyschen az-Zawiyya stand, die an der Nato-geführten Militärkampgange zum Sturz des Regimes von Muammar Gaddafis beteiligt war,

Kanadas Militär spielte eine führende Rolle bei der Bombardierung Libyens und stellte die dschihadistischen Milizen als „Freiheitskämpfer“ dar. Bis vor kurzem verfuhr die kanadische Regierung ebenso in Hinsicht auf Syrien.

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