Ungarn: Massenproteste gegen Internet-Steuer

Am Dienstag demonstrierten in Budapest und zehn anderen ungarischen Städten rund 100.000 Menschen gegen Pläne der Regierung Orban, eine Internet-Steuer einzuführen. Bereits am Wochenende hatten große Demonstrationen stattgefunden. Die Teilnehmer der Aktionen erzeugten mit leuchtenden Mobiltelefonen ein Lichtermeer und skandierten Parolen wie „Orban hau ab!“.

Die neue Steuer soll das Herunter- und das Hochladen von Daten mit umgerechnet 50 Cent pro angefangenem Gigabyte belasten. Nach den Protesten vom Sonntag besserte die Regierung den Gesetzesvorschlag nach, nahm ihn aber nicht zurück. Die Abgabenlast soll nun auf 2,30 Euro im Monat für private Nutzer und auf 16,20 Euro für Firmenkunden beschränkt werden.

Die Proteste, an denen sich vor allem Jugendliche, Studenten und junge Arbeiter beteiligten, sind Ausdruck der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit dem Regime von Viktor Orban. Dessen Fidesz verfügt im Parlament zwar über eine Zweidrittelmehrheit. Sie verdankt diese aber vor allem der hohen Wahlenthaltung und dem auf sie zugeschnittenen Wahlgesetz. Tatsächlich stimmte bei der letzten Parlamentswahl im April nur jeder fünfte Wahlberechtigte für die Regierungspartei.

Die Proteste, die die Regierung überraschten, haben sowohl ökonomische wie politische Ursachen.

Um die öffentliche Verschuldung zu reduzieren, die bei 80 Prozent des BIP liegt, und ein zweites Hilfsprogramm des Internationalen Währungsfond (IWF) zu vermeiden, hat die Regierung wiederholt neue Verbrauchssteuern eingeführt. Diese treffen vor allem Menschen mit geringem Einkommen. So leiden immer mehr Ungarn unter den steigenden Preisen für Lebensmittel und Elektrizität. Auch die Einkommenssteuer, eine Flat Tax von 19 Prozent, belastet vor allem Niedrigverdiener, während der Steuersatz für Reiche im internationalen Vergleich äußerst niedrig ist.

Telefongespräche und SMS werden bereits jetzt besteuert, was viele Nutzer dazu brachte, auf Skype und andere Internetdienste umzusteigen. Die Regierung versucht deshalb, die neue Internet-Steuer als Ausweitung der Telekommunikationssteuer auf die digitale Welt darzustellen. Für die Demonstrationsteilnehmer hat dies das Fass zum Überlaufen gebracht.

Sie betrachten die neue Steuer als weiteren Angriff auf die Meinungsfreiheit, nachdem die Regierung die Freiheit von Presse, Fernsehen und Radio bereits weitgehend beseitigt hat und regierungskritische Medien nur noch über das Internet zu empfangen sind.

Der kritische Journalist Balázs Nagy Navarro, der seit drei Jahren gegen seine Entlassung beim Staatsfernsehen protestiert, sagte der Süddeutschen Zeitung, Leser, die genug von den regierungstreuen Medien hätten, sollten für nonkonforme Meinungen nun extra zahlen.

Ein Kundgebungsredner bezeichnete die Internetsteuer als „Symbol für den Despotismus der Regierung“. Ein 26-jähriger Demonstrationsteilnehmer sagte der Deutschen Welle: „Das Internet ist heutzutage ein fundamentales Recht – uns regt auf, dass die Regierung da mitreden und mitkontrollieren will.“

Auch die Korruption der Regierung und die wachsende Armut breiter Bevölkerungsschichten waren Thema der Demonstrationen.

Politisch sind die Demonstrationen konfus und ohne klare Orientierung. Aufgerufen hat eine Facebook-Initiative, die erst vor zwei Wochen gegründet wurde und der innerhalb einer Woche 200.000 Besucher per Mausklick zustimmten. Auch die Oppositionsparteien – von der sozialistischen MSZP über die Grünen (LMP) bis hin zur rechtsextremen Jobbik – lehnen die neue Steuer ab, stoßen unter den Demonstranten aber auf Skepsis und Ablehnung.

Die Europäische Union versucht, die Bewegung in ihrem Sinne zu vereinnahmen. Ein Sprecher der EU-Kommission führte vor allem wirtschaftliche Gründe gegen die neue Steuer ins Feld. „Die digitale Sparte der Wirtschaft ist momentan wahrscheinlich der Hauptantriebsfaktor, der Europa vor einer Rezession bewahrt“, sagte er. Er bezeichnete die Internet-Steuer aber auch als „Teil eines beunruhigenden Musters von Taten und Gesetzen“ der Orban-Regierung, die dazu dienten, „Freiheiten einzuschränken“.

EU-Kommissarin Neelie Kroes nannte die Internet-Steuer „eine schlechte Idee“. Es sei schädlich, „das Internet durch Steuern zurückzudrängen“. Gerade die digitale Wirtschaft könne helfen, ein Abrutschen in die Rezession zu verhindern. Kroes solidarisierte sich per SMS und Twitter mit den Demonstranten.

Auch der Betreiber des Internet-Portals Atlaszo.hu, Tamás Bodoky, behauptet, die Demonstrationen trügen einen „klar proeuropäischen Charakter – im Gegensatz zum euroskeptischen und prorussischen Kurs von Viktor Orban“. Den Beweis dafür blieb er allerdings schuldig.

Die EU ist die treibende Kraft hinter der Wirtschaftspolitik, die dazu geführt hat, dass mittlerweile fast die Hälfte der ungarischen Bevölkerung unter der offiziellen Armutsgrenze von 260 Euro im Monat lebt. Sie steht mit Orban in Konflikt, weil sich dieser außenpolitisch zunehmend Russland zuwendet.

Während EU und USA Sanktionen gegen Russland verhängt haben, unterstützt Orban Russland mit dem Stopp der durch Ungarn führenden Re-Exporte von Erdgas in die Ukraine. Die russische Rosatom plant den Bau eines neuen Reaktors im ungarischen Atomkraftwerk Paks, mit einem Milliardenkredit der russischen Regierung.

Immer wieder kritisiert Orban die Sanktionen der EU gegen Russland als schädlich für die europäische Wirtschaft. Ungarn solle sich mit jenen EU-Staaten verbünden, die daran interessiert seien, den „Trennungsprozess“ von Russland aufzuhalten, sagte er kürzlich. Die EU habe sich mit den Sanktionen gegen Russland „ins eigene Bein geschossen“.

Auch die USA kritisieren die Orban-Regierung wegen ihrer russlandfreundlichen Politik. Der US-Botschafter in Budapest, André Goodfriend, erklärte kürzlich, die Entwicklung in Ungarn weise eine „sich zunehmend verschlechternde Tendenz“ auf. „Dies kann einmal einen Punkt erreichen, an dem wir mit Ungarn nicht mehr wie mit einem Verbündeten zusammenarbeiten können“, fügte er hinzu.

Vor einer Woche verhängten die USA gegen sechs ungarische Offizielle ein Einreiseverbot wegen Korruption, ein einmaliges Vorgehen gegen Vertreter eines Nato- und EU-Mitgliedsstaates. Unter den betroffenen Personen soll sich auch die Leiterin der Steuerbehörde, Ildiko Vida, befinden. Die Maßnahme wurde als Warnschuss an Ministerpräsident Orban interpretiert.

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