Was bezweckt Syriza mit den Reparationsforderungen an Deutschland?

Ein Kommentar

In der Auseinandersetzung über die griechischen Staatsschulden hat die Athener Regierung die Forderung nach deutschen Entschädigungszahlungen für die Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg erhoben.

Bereits in seiner Regierungserklärung vom 8. Februar hatte Ministerpräsident Alexis Tsipras erklärt, die Einforderung von deutschen Reparationszahlungen sei eine „moralische Pflicht“ gegenüber dem griechischen Volk, gegenüber der Geschichte und „gegenüber allen Völkern Europas, die ihr Blut in den Kampf gegen den Faschismus gaben“. In den folgenden Wochen wiederholten Tsipras und andere Regierungsmitglieder dann mehrmals die Forderung nach deutschen Reparationen.

Nun haben sie präzise Zahlen genannt. Am vergangenen Wochenende bezifferte der stellvertretende Finanzminister Dimitris Mardas die Reparationsansprüche auf 278,7 Milliarden Euro. Diese Summe hat eine sechsköpfige Kommission errechnet, die angeblich mehr als 50.000 Dokumente ausgewertet hat. Wie Spiegel Online am 13. März berichtete, stammen die Unterlagen zum Teil aus 1945 in Deutschland beschlagnahmten Beständen, die „der griechischen Regierung auf Filmbändern von den USA zugespielt“ wurden.

Die genannte Summe ist fast so hoch wie der jährliche deutsche Bundeshaushalt von 299 Mrd. Euro und die Gesamtverschuldung Griechenlands von 320 Mrd. Euro. Sie umfasst Reparationen für die zerstörte griechische Infrastruktur, Entschädigungszahlungen für individuelle Opfer sowie die Rückzahlung einer Zwangsanleihe, die die deutschen Besatzer erpresst hatten und deren heutigen Wert die Kommission auf 10,3 Mrd. Euro taxiert.

Die deutsche Regierung lehnt diese Forderungen kategorisch ab. „Die Frage von Reparationen und Entschädigungszahlungen ist rechtlich und politisch abgeschlossen“, hatte Regierungssprecher Steffen Seibert bereits vor einem Monat erklärt. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der auch der SPD vorsteht, bezeichnete die Verknüpfung von Schulden und Reparationen als „dumm“. Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble lehnt jede Entschädigung für die Kriegsverbrechen der Nazis ab.

Die griechische Regierung rechtfertigt ihre Forderung mit der Spur der Verwüstung, welche die deutschen Besatzer zwischen 1941 und 1944 in Griechenland hinterließen. Sie töteten 130.000 Partisanen und Zivilisten in grausigen Massakern, verschleppten 70.000 Juden in Vernichtungslager und ließen 300.000 Griechen verhungern und erfrieren, indem sie Brennstoffe und Nahrungsmittel beschlagnahmten. Als sie wieder abzogen, waren die Hälfte der Industrie- und Gewerbebetriebe, drei Viertel des Straßen- und Eisenbahnnetzes sowie neun Zehntel der Handelsflotte zerstört.

Für diese Verbrechen wurde kaum jemand zur Rechenschaft gezogen. Die Bundesrepublik blockte als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs die Entschädigungs- und Wiedergutmachungsforderungen Athens immer wieder erfolgreich ab. Die einzige Ausnahme bildete die bescheidene Summe von 115 Millionen Euro, die sie in den 1960er Jahren vor allem für jüdische Opfer des Nazi-Terrors nach Griechenland überwies.

Die Forderung nach Wiedergutmachung dieses Unrechts findet sowohl in der griechischen wie auch in Teilen der deutschen Bevölkerung Unterstützung. Dabei spielt auch der Umstand eine Rolle, dass die Arroganz, mit der deutsche Politiker und Medien heute drastische soziale Einschnitte in Griechenland verlangen, an das rücksichtslose Auftreten der Nazis erinnert, und dass die überlebenden Opfer der Nazi-Verbrechen von diesen Sparmaßnahmen besonders hart betroffen sind.

Vielen stößt zudem bitter auf, dass die deutsche Regierung auf der Rückzahlung aller griechischen Schulden beharrt, sich selbst aber strikt weigert, die Verantwortung für einen Zwangskredit zu übernehmen, zu der sie nach Ansicht vieler Juristen verpflichtet wäre.

Trotzdem haben die Reparationsforderungen nichts mit der Wiedergutmachung vergangenen Unrechts und noch weniger mit „moralischer Pflicht“ und Antifaschismus zu tun, wie Tsipras behauptet. Die griechische Regierung nutzt die Frage als Druckmittel in den Verhandlungen über die Schulden und um ihre eigene reaktionäre Politik abzudecken. Sie setzt sie ein, um den Widerstand gegen den verheerenden Sparkurs in eine nationalistische Sackgasse zu lenken.

Imperialistischer Krieg und Reparationen

Reparationsforderungen sind kein taugliches Mittel im Kampf gegen Faschismus, Krieg und soziale Angriffe. Sie beseitigen deren Ursachen nicht, sondern reproduzieren sie. Sie sind eine Quelle ständiger Konflikte, verschärfen internationale Spannungen und schaffen einen fruchtbaren Nährboden für chauvinistische Propaganda.

Das bekannteste historische Beispiel dafür ist der Versailler Vertrag von 1919, mit dem die Siegermächte des Ersten Weltkriegs Deutschland hohe Reparationszahlungen auferlegten. Diese Zahlungen trugen nicht zur Verbesserung der Lage der Bevölkerung Englands, Frankreichs und anderer Empfängerländer bei. Sie ruinierten aber die deutsche Wirtschaft, verschärften die Gegensätze in Europa, lieferten den Nazis eine Fülle an Agitationsmaterial und führten schließlich in den Zweiten Weltkrieg.

Die Anerkennung griechischer Reparationsforderungen in dreistelliger Milliardenhöhe würde nicht nur das politische Klima in Europa vergiften, sondern auch einen internationalen Präzedenzfall schaffen.

Wenn die heutige griechische Regierung für die Verbrechen der Nazis vor 70 Jahren voll entschädigt wird, was ist dann mit der Türkei und den mehreren hunderttausend Griechen, die dort während und nach dem Ersten Weltkrieg umgebracht oder vertrieben wurden? Was mit den Opfern der Atombomben von Hiroschima und Nagasaki? Was mit den Millionen Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Osten des besiegten Deutschen Reichs verlassen mussten? Was mit den Serben, Kroaten, Bosniern, Kosovaren usw., die in den Balkankriegen, dem Ersten Weltkrieg, dem Zweiten Weltkrieg und nach der Auflösung Jugoslawiens ihr Leben oder ihre Heimat verloren?

Die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Sie bietet Stoff für unendliche Konflikte in sämtlichen Regionen der Welt und wirft unlösbare Fragen auf. Welche Forderungen sind berechtigt, welche sind es nicht? Gibt es einen Zeitraum, nach dem solche Forderungen verjähren?

Sowohl der Erste wie der Zweite Weltkrieg waren imperialistische Kriege. Ihre tiefere Ursache war der Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem historisch überholten Nationalstaatensystem, auf dem der Kapitalismus beruht. Jede imperialistische Macht versuchte, diesen Widerspruch zu lösen, indem sie um die eigene Vormachtstellung in der Welt kämpfte.

Der deutsche Imperialismus spielte dabei eine besonders aggressive und verbrecherische Rolle. Das hing mit seiner verspäteten kapitalistischen Entwicklung, der Dynamik seiner Produktivkräfte und seiner beengten Lage im Zentrum Europas zusammen. Doch auch die anderen Großmächte und ihre kleineren Verbündeten auf beiden Seiten der Front kämpften für imperialistische Ziele und verübten Kriegsverbrechen.

Reparationen für diese Verbrechen beseitigen die imperialistischen Widersprüche nicht. Sie verschärfen sie und tragen so dazu bei, dass neue Kriege ausbrechen. Die einzige Möglichkeit, imperialistische Kriege zu verhindern, ist die Abschaffung seiner Ursache, des Kapitalismus.

Die griechische Bourgeoisie und die Reparationsfrage

Griechenland war nicht nur Opfer des Zweiten Weltkriegs. Es war wie Deutschland, wo die Arbeiterbewegung zum ersten Opfer der Nazi-Herrschaft wurde, in Klassen gespalten.

Die rechte Regierung in Athen setzte nach Kriegsende den blutigen Kampf der Nazis gegen linke Partisanen mit britischer und amerikanischer Unterstützung und unter stillschweigender Duldung Stalins dreieinhalb Jahre lang fort. Auf Druck der USA, die Deutschland als Verbündeten im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion brauchten, verzichtete Griechenland damals darauf, die Reparationsforderungen zu verfolgen, die ihm 1946 auf einer Konferenz in Paris zugestanden worden waren.

Auch das Obristenregime, das Griechenland nach einem Militärputsch von 1967 bis 1974 mit Rückendeckung der Nato regierte, setzte die blutige Unterdrückung der Arbeiterklasse in der Tradition der Nazis fort.

Spätere Regierungen nutzten die Reparationsfrage als Druckmittel, um der griechischen Bourgeoisie auf Kosten der Abeiterklasse einen Platz am Tisch der europäischen Großmächte zu sichern. So gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen der deutschen Unterstützung für die Aufnahme Griechenlands in die Europäische Union (1981) und in die Eurozone (2001) und der Tatsache, dass die griechische Regierung 1991 bei der deutschen Wiedervereinigung auf Reparationsforderungen verzichtete. Berlin führt führt dies heute als juristischen Beweis an, dass sämtliche Entschädigungsforderungen, auch die individueller Opfer, verwirkt seien.

Die Regierung Tsipras knüpft direkt an diese Traditionen an. Während Deutschland seine außenpolitische Zurückhaltung aufgibt, militärisch aufrüstet und erneut eine Vormachtstellung in Europa anstrebt, nutzt sie die Reparationsfrage als Druckmittel, um sich einen Platz an der Seite des deutschen Imperialismus zu sichern.

Sie ergänzt ihre bombastischen Reparationsforderungen mit unterwürfigen Schmeicheleien. Während Tsipras in Athen die Einforderung deutscher Reparationen zur „moralischen Pflicht“ erklärte, versicherte er bei seinem offiziellen Antrittsbesuch in Berlin: „Das heutige Deutschland, das demokratische Deutschland, hat nichts mit dem Deutschland des Dritten Reichs zu tun, das so viel Blutzoll gekostet hat.“ Außenminister Kotzias signalisierte, dass die griechische Regierung eine symbolische Lösung der Reparationsfrage anstrebe, und Finanzminister Varoufakis erklärte, man gebe sich notfalls auch mit einem Euro zufrieden.

Die Reparationsforderungen der griechischen Regierung sind lediglich die Kehrseite ihrer Unterwerfung unter das Diktat der Finanzmärkte. Seit sie vor zweieinhalb Monaten die Amtsgeschäfte übernahm, hat sie sämtliche Wahlversprechen gebrochen und der Troika versichert, sie werde alle Schulden zurückzahlen und für einen dauerhaften Primärüberschuss im Haushalt sorgen. Das ist nur möglich durch eine weitere Verschärfung der Sparmaßnahmen.

Um den Widerstand gegen diesen Sparkurs zu unterdrücken und einzuschüchtern, schürt die Regierung den griechischen Nationalismus. Das zeigte sich bereits, als die „Koalition der Radikalen Linken“ (Syriza) ein Regierungsbündnis mit den ultanationalistischen „Unabhängigen Griechen“ (Anel) schloss.

Tsipras‘ Regierungserklärung überbordete dann von nationalistischer Rhetorik. Er beschwor „die Wiederherstellung der Würde unseres Volkes“, „die Vision eines wirtschaftlich autarken, sozial gerechten und national stolzen Griechenlands“ und „die unerschöpflichen Kräfte eines vereinten und souveränen Volkes“.

Der Zusammenhang zwischen der Verschärfung der Sparpolitik und dem Schüren von Nationalismus mithilfe der Reparationsforderungen ist derart offensichtlich, dass er selbst rechten Beobachtern nicht entging. So schrieb der private US-Nachrichtendienst Stratfor: “Athen wird schmerzhafte Maßnahmen einführen müssen, um die Finanzierung durch Europa sicherzustellen und mit seinen Gläubigern zu verhandeln, die von Deutschland angeführt werden. Premierminister Alexis Tsipras und seine Syriza-Partei versuchen eine parlamentarische Mehrheit zusammenzuhalten und in der Öffentlichkeit populär zu bleiben. … Das bedeutet, den griechischen Nationalismus mit antideutschen Stimmungen zu nähren.“

In einem früheren Artikel hatten wir die griechischen Entschädigungsforderungen als „berechtigt“ bezeichnet. Diese Einschätzung trifft nur aus Sicht der individuellen Opfer zu, die ihre Angehörigen, ihren Besitz und ihre Existenzgrundlage verloren haben oder als Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden; sie haben ein Recht auf Entschädigung. Bezogen auf die Reparationsforderungen der Regierung Tsipras ist sie dagegen falsch. Diese sind in jeder Hinsicht reaktionär.

Die Wiedergutmachung vergangenen Unrechts ist – wie der Kampf gegen das Spardiktat der Troika, gegen Krieg und gegen Faschismus – untrennbar mit einer sozialistischen Perspektive verbunden. Sie erfordert den Zusammenschluss der europäischen Arbeiterklasse auf der Grundlage eines revolutionären Programms, das die Abschaffung der Europäischen Union, die Errichtung von Arbeiterregierungen, die Vergesellschaftung der großen Konzerne und Banken und die Reorganisation der Gesellschaft im Rahmen Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa zum Ziel hat.

Auf dieser Grundlage wird es möglich sein, die gewaltigen Reichtümer sowie die technischen und humanen Ressourcen Europas zur Entwicklung des ganzen Kontinents einzusetzen und den Lebensstandard aller Arbeiter, einschließlich der griechischen, auf ein viel höheres Niveau zu heben.

Eine solche Perspektive lehnen Syriza und die pseudolinken Gruppen, die sie unterstützen, entschieden ab. Sie sprechen nicht für die Arbeiterklasse, sondern für einen Flügel der griechischen Bourgeoisie und privilegierte Mittelschichten, die einen Platz im Kreis der imperialistischen Großmächte und einen Anteil an der Ausbeutung der griechischen Arbeiterklasse einfordern.

Während Tsipras und Syriza in Griechenland den Nationalismus schüren und in Berlin, Brüssel und Washington den Machthabern und den Vertretern des Finanzkapitals schmeicheln, lehnen sie eines kategorisch ab: einen Appell an die europäische und internationale Arbeiterklasse, sich gegen den Kapitalismus zu erheben.

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