Prozess gegen früheren SS-Mann Oskar Gröning beginnt in Lüneburg

Am Dienstag, den 21. April, beginnt vor der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg der Prozess gegen den 93-jährigen früheren SS-Unterscharführer Oskar Gröning. Die Anklage lautet auf Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen. Gröning war von September 1942 bis Oktober 1944 SS-Wachmann und „Buchhalter“ im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz im besetzten Polen.

Über 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 wird es wohl einer der letzten Prozesse gegen noch lebende Täter sein, die an den unbeschreiblich grauenvollen Verbrechen beteiligt waren, die sich in diesem und anderen Vernichtungslagern der Nazis abspielten.

Der Name des Nazi-Todeslagers Auschwitz steht stellvertretend für die größten Verbrechen und Schrecken des 20. Jahrhunderts und ist Synonym für die Barbarei des Kapitalismus in ihrer extremsten Form. Mehr als 1,1 Millionen Menschen fanden hier den gewaltsamen Tod. Hunderttausende wurden direkt nach ihrer Ankunft in den Gaskammern vernichtet, andere starben an Hunger, an physischer Erschöpfung oder an grauenvollen medizinischen Experimenten durch Ärzte wie Josef Mengele, der von den Häftlingen den Beinamen „Engel des Todes“ erhielt.

90 Prozent der im Lager Getöteten waren Juden; außerdem wurden 150.000 nichtjüdische Polen, darunter auch politische Gefangene, 23.000 Roma und Sinti, 15.000 sowjetische Kriegsgefangene sowie Angehörige anderer nationaler Minderheiten, der Zeugen Jehovas und Homosexuelle ermordet.

Außer Gröning stehen derzeit noch zwei weitere ehemalige SS-Männer wegen Beihilfe zum Mord in Tausenden Fällen unter Anklage. Gegen den 94-jährigen Hubert Z. aus Mecklenburg-Vorpommern läuft ein Verfahren der Staatsanwaltschaft Schwerin und gegen den 94-jährigen Reinhold Z. aus Nordrhein-Westfalen ein Verfahren der Staatsanwaltschaft Dortmund.

Die jetzt angeklagten SS-Männer sollen nicht selbst getötet, aber durch ihren Dienst in Auschwitz zum Funktionieren der Mordmaschinerie beigetragen haben. Gröning selbst hat seine Rolle in Auschwitz als „Rädchen im Getriebe“ beschrieben.

Oskar Gröning hatte sich im Alter von 21 Jahren als überzeugter Nationalsozialist freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und war auf Befehl des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamts am 25. September 1942 zur Verwaltung des Konzentrationslagers Auschwitz versetzt worden.

Da er vorher in einer Sparkasse gearbeitet hatte, wurde er in Auschwitz in der Häftlingsgeldverwaltung eingesetzt. Seine Aufgabe bestand darin, an der Rampe des Konzentrationslagers Wache zu stehen und nach der Selektion der mit Viehwaggons angelieferten Opfer deren Habseligkeiten und Wertsachen einzusammeln. Das dabei erbeutete Geld wurde von ihm gezählt, registriert und an die SS-Zentrale in Berlin geschickt.

Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hannover, die in Niedersachsen für die Verfolgung von NS-Verbrechen zuständig ist, beschränkt sich auf die Zeit der sogenannte „Ungarn-Aktion“ vom 16. Mai bis 11. Juli 1944. In diesen zwei Monaten deportierte die SS rund 425.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz. Etwa 300.000 wurden direkt nach ihrer Ankunft in die Gaskammern abgeführt und ermordet.

In diesem Zeitraum kamen 137 Eisenbahntransporte in der Todesfabrik der Nazis an. Es gehörte zu den Aufgaben von SS-Mann Gröning, die zurückgelassenen Gepäckstücke der Abgeführten vom Bahnsteig und der Rampe einzusammeln. „Damit sollten die Spuren der Massentötung für nachfolgende Häftlinge verwischt werden“, heißt es in der 85 Seiten langen Anklageschrift. Durch seine Tätigkeit habe er das systematische Morden des NS-Regimes unterstützt.

Da der Prozess international auf großes Interesse stößt und über 60 Überlebende sowie Angehörige von Opfern aus Ungarn, USA, Kanada, Israel und England in dem Prozess als Nebenkläger aussagen wollen, wurde er vom Landgericht Lüneburg in ein größeres Gebäude, die Ritterakademie, verlegt.

Wie schon bei anderen Verfahren wegen Verbrechen in der Nazi-Zeit drängt sich auch diesmal die Frage auf: Warum kommt der Prozess so spät?

Der wichtigste Grund liegt darin, dass die deutsche Politik und Justiz, in denen viele alte Nazis nach dem Krieg ungehindert weiter Karriere machten, eine juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Hintergründe systematisch verhinderten.

Von den vielen Tausenden NS-Verbrechern wurden nur relativ wenige vor Gericht gestellt. Seit Kriegsende ermittelte die deutsche Justiz zwar in über 100.000 Fällen, aber nur 6.500 Beschuldigte wurden verurteilt. Gemessen an den monströsen Verbrechen, an denen sie beteiligt waren, erhielten sie meist recht milde Strafen. In der Regel beriefen sich die Täter auf „Befehlsnotstand“, was die Gerichte anerkannten.

Von den 6.500 SS-Leuten, die im Vernichtungslager Auschwitz ihre mörderische Arbeit verrichteten und den Krieg überlebten, wurden in der Bundesrepublik laut einem Bericht des Spiegels nur 29 verurteilt, in der DDR etwa 20.

Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hatte bereits 1977 gegen Oskar Gröning ermittelt, die Ermittlungen jedoch 1985 eingestellt. Rechtsanwalt Thomas Walther, der jetzt im Lüneburger Prozess mehr als 30 Nebenkläger, Opfer des Nazi-Regimes und deren Angehörige vertritt, sagte dazu der Süddeutschen Zeitung: „Die hatten den Fall nicht begraben, sondern verscharrt.“ In den 1970er und 1980er Jahren habe es noch „Tausende Grönings gegeben“, da hätten sich die Aufklärer lieber zurückgehalten.

Und in der Deutschen Welle betonte er: „In der Bundesrepublik hätten Tausende Männer und Frauen angeklagt werden müssen, wenn die heutigen Kriterien früher gegolten hätten. Aber das wollte man nicht.“ Die Nazi-Helfer sollten nicht verfolgt werden. Auch Oskar Gröning wurde für seinen Dienst in der Mordfabrik nie bestraft.

2011 verurteilte das Landgericht München den inzwischen verstorbenen früheren SS-Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk, wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Juden zu fünf Jahren Haft. Seither muss Angeklagten keine konkrete Tatbeteiligung an einem Mord mehr nachgewiesen werden. Das ist einer der Gründe, warum jetzt wieder Prozesse gegen noch lebende ehemalige SS-Leute geführt werden.

Im Unterschied zu vielen Angeklagten in früheren Prozessen will Oskar Gröning vor Gericht zu den Geschehnissen und Abläufen in Auschwitz aussagen. Er hatte bereits früher in Interviews offen über seine Tätigkeit und Erlebnisse in Auschwitz gesprochen und sie für seine Familie und Freunde aufgeschrieben, um sich zu erklären.

Als ihm ein Bekannter ein Buch über die „Auschwitz-Lüge“ schickte, sandte er es mit dem Hinweis zurück, es sei alles wahr, was über Auschwitz berichtet werde: Selektionen, Vergasungen, Verbrennungen. 1,5 Millionen Juden seien in Auschwitz umgebracht worden. Er habe alles erlebt. Dennoch fühle er sich wegen der Morde nicht schuldig, da er nicht direkt an den Gaskammern tätig gewesen sei.

Der Verlauf des jetzt beginnenden Prozesses wird zeigen, wie weit er ein Stück zur Aufklärung eines der größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts beitragen wird. Die Überlebenden und Angehörigen der Opfer, die an dem Prozess als Nebenkläger teilnehmen, erhoffen sich zumindest etwas, wenn auch sehr, sehr späte Gerechtigkeit.

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