Podiumsdiskussion über die Perspektiven des Lokführerstreiks

Der Vorsitzende der Partei für Soziale Gleichheit (PSG), Ulrich Rippert, und der Bezirksvorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) Berlin-Sachsen-Brandenburg, Frank Nachtigall, diskutierten am Freitag um 14 Uhr vor dem Streiklokal am Berliner Ostbahnhof über die Aufgaben und Perspektiven des Lokführerstreiks.

Die Podiumsdiskussion vor dem Berliner Streiklokal

Rund 80 Zuhörer, vorwiegend streikende Lokführer, verfolgten die einstündige Podiumsdiskussion aufmerksam, die von Christoph Dreier von der PSG moderiert wurde. Sie brachte die gegensätzlichen Standpunkte sehr deutlich hervor.

Ulrich Rippert betonte, dass der Streik vor politischen Aufgaben stehe, dass die GDL den Streik ausverkaufen werde, wenn er unter ihrer Kontrolle und dem Einfluss ihrer beschränkten, gewerkschaftlichen Perspektive bleibe, und dass der Streik zum Auftakt einer breiten Mobilisierung der Arbeiterklasse insgesamt werden müsse.

Frank Nachtigall lehnte das ab. Er beharrte darauf, dass die GDL nicht für die großen politischen Fragen zuständig sei und sich darauf beschränken müsse, für die 35.000 Mitglieder der GDL Verbesserungen zu erreichen.

Als erstes fragte Christoph Dreier, woran es liege, „dass die Bundesregierung und der Bahnvorstand in gemeinsamer Front mit den DGB-Gewerkschaften beschlossen haben, das Streikrecht anzugreifen und in eine Offensive gegen die Lokführer zu gehen“.

Bereits die Antworten auf diese Frage machten die unterschiedlichen Standpunkte deutlich.

Nachtigall nannte als Grund den Koalitionsvertrag der Großen Koalition. Er nannte drei Schwerpunkte, auf die sich CDU/CSU und SPD geeinigt hätten. Der Mindestlohn und die Rente mit 63 seien „als Kind der SPD geboren“. Da habe man für die Arbeitgeberseite auch noch etwas schaffen müssen und sich die Frage der Tarifeinheit vorgenommen, ein Projekt, das 2010 vom damaligen Arbeitgeberpräsidenten Dieter Hundt und dem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer angestoßen worden sei.

Ulrich Rippert sagte dagegen, das Tarifeinheitsgesetz sei „eine Reaktion auf eine immer schärfere internationale Krise des gesamten kapitalistischen Systems und auch der Europäischen Union“. Die Bundesregierung reagiere auf diese internationale Krise, indem sie die Ausbeutungsbedingungen ständig weiter verschärfe. „Die Arbeitsbedingungen werden nicht nur bei der Bahn, sondern überall radikal abgebaut. Das Arbeitsleben wird nahezu unerträglich.“

In schärfster Form zeige sich das in Griechenland, wo die Bundesregierung ein ganzes Land systematisch ruiniere, erläuterte Rippert. „Diese Entscheidungen wurden hier im Kanzleramt getroffen, hier in Berlin. Wenn ihr den Charakter dieser Regierung verstehen wollt, die ja eine sozialdemokratische-konservative Koalition ist, dann muss man nach Griechenland schauen.“

Außerdem reagiere die Bundesregierung auf die kapitalistische Krise mit Militarismus und Kriegsvorbereitung, fuhr Rippert fort. Im letzten Jahr habe der sozialdemokratische Außenminister Frank Walter Steinmeier erklärt, die Zeit der militärischen Zurückhaltung der Bundesrepublik sei zu Ende. Deutschland werde wieder weltweit aktiv und eigenständig eingreifen. Seitdem finde eine systematische militärische Aufrüstung statt. Die Kosten für die Aufrüstung treibe die Regierung durch radikale Sparmaßnahmen ein.

„Um jeden Widerstand gegen die Verschärfung der Krise, der Ausbeutung und auch der Wiederkehr von Militarismus und Krieg zu unterdrücken, wird das Streikrecht angegriffen“, folgerte Rippert. Darin bestehe die Aufgabe des Tarifeinheitsgesetzes. Mit seiner Hilfe werde versucht, die DGB-Gewerkschaften einzusetzen, um jede selbständige Regung in den Betrieben unter Kontrolle zu halten und zu unterdrücken.

Man könne nur erfolgreich gegen das Tarifeinheitsgesetz kämpfen, wenn diese internationalen Zusammenhänge in Rechnung gestellt würden, sagte Rippert. Hier finde ein fundamentaler Angriff auf das Streikrecht statt. Deshalb müsse man verstehen, dass die Konfrontation, die sich nach zehn Monaten Arbeitskampf und der achten Streikaktion aufbaue, eine Konfrontation mit der Regierung sei und nicht einfach auf gewerkschaftlicher Ebene geführt werden könne.

„Das ist eine politische Auseinandersetzung, sie erfordert eine politische Perspektive, ein politisches Programm, und sie erfordert eine politische Partei“, betonte Rippert. „Das ist der Grund, warum wir sagen: Die Arbeiterklasse braucht ihre eigene unabhängige Partei. Und der Streik hier muss aus dem engen Rahmen, den engen Schranken der GDL als Spartengewerkschaft herausgehoben werden und zum Auftakt einer breiten politischen Mobilisierung der Arbeiterklasse insgesamt gemacht werden.“

Frank Nachtigall, Christoph Dreier und Ulrich Rippert (von links)

Frank Nachtigall lehnte eine solche politische Perspektive ab. „Wir sind eine Gewerkschaft und machen Gewerkschaftspolitik, wir machen keine Staatspolitik“, sagte er. Er gestand zwar ein, dass die GDL nicht unpolitisch sein könne: „Wer in diesem Land streikt, wer in diesem Land dafür sorgt, dass Bahnverkehr ausfällt, der kann nicht von sich behaupten, unpolitisch zu sein. Aber ich denke tatsächlich, dass Staatspolitik, dass Europapolitik, dass Weltpolitik nicht die Aufgabe der GDL ist und sein kann.“

Nachtigall sagte, er sehe „ehrlich gesagt gar nicht so schwarz, was die Gewerkschaftslandschaft betrifft“. Er glaube, „dass wir ein Stück weit Motor sind, ein Stück weit Mut machen“. Als Beleg fügte er an, dass die Dienstleistungsgesellschaft Verdi heute mehr Streiks organisiere als vor drei, vier Jahren und dass einige Verantwortliche begriffen hätten: „Wir müssen unsere Leute wieder rausholen.“

In einem Punkt stimme er zu: „In den letzten 20 Jahren haben viele Gewerkschaften vergessen, wozu sie eigentlich da sind, hat die Verquickung zwischen Gewerkschaft und Politik, gerade die Verquickung zwischen DGB und SPD dazu geführt, dass man keine vernünftigen Abschlüsse mehr gemacht hat.“ Hier trete er für „eine vernünftige Trennung“ ein. Er sei aber überzeugt, dass eine „Selbstgesundung“ einsetzen könne. Das hänge „immer vom mündigen Bürger ab, vom Bürger mit gesundem Menschenverstand“.

Unter Verweis auf das Grundgesetz, an dem sich die GDL laut Satzung orientiert, betonte Nachtigall: „Die politische Landschaft dieses Landes verändert man, indem man zur Wahlurne geht, und nicht indem man streikt.“

Ulrich Rippert vertrat eine völlig andere Einschätzung der Gewerkschaften. Er stellte die Frage: „Woher kommt es, dass sich die Gewerkschaften ganz offen in Agenturen des Managements verwandelt haben und sich sogar als Co-Manager bezeichnen? Warum arbeitet die Bundesregierung aufs Engste mit dem DGB zusammen, um jede selbständige Regung in den Betrieben zu unterdrücken?“

Er verwies auf den ehemaligen IG-Metall Vorsitzenden Berthold Huber, der derzeit den Aufsichtsrat von VW, des zweitgrößten Autokonzerns der Welt leitet, und auf Norbert Hansen, der vom Vorsitz der Bahn-Gewerkschaft Transnet in den Vorstand der Deutschen Bahn wechselte.

Der Grund für diese Verwandlung der Gewerkschaften sei nicht nur die persönliche Korruption von Spitzenfunktionären, erklärte Rippert, sondern eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft. Die Globalisierung der Produktion habe dazu geführt, dass die Arbeitsmarktbedingungen nicht mehr national geregelt werden könnten. Der „gesunde Wettbewerb“, auf den Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaftsführer immer wieder verwiesen, wenn sie „maßvolle“ Lohnerhöhungen anmahnten, sei ein Wettbewerb um das Lohnniveau in Deutschland, China, Rumänien und anderen Ländern. Die nationale Strategie der Gewerkschaften sei da mit ihrem Latein am Ende.

Es sei nicht mehr möglich, im nationalen Rahmen, im Rahmen der Sozialpartnerschaft bestimmte soziale Verbesserungen zu erreichen, sagte Rippert. „Jetzt setzen nicht die Gewerkschaften die Unternehmer unter Druck, um Verbesserungen für die Arbeiter zu erreichen. Jetzt sagen die Gewerkschaften: ‚Wir müssen dafür sorgen, dass die Konkurrenzbedingungen unseres Unternehmens im internationalen Wettbewerb gestärkt werden und dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir Arbeitsplätze abbauen und die Ausbeutungsbedingungen in den Betrieben verschärfen.‘“

Auch die GDL sei vor dieser Entwicklung nicht gefeit, sagte Rippert. Er warnte, dass die Führung der GDL nicht bereit sei, einen Kampf gegen die Regierung zu führen: „Ist die GDL in der Lage und bereit, die Auseinandersetzung gegen diese Regierung durchzusetzen? Und da ist meine Antwort: Nein. Sie versucht einen Kompromiss zu finden. Und wisst Ihr, was ein Kompromiss heißt? Der Streik geht vielleicht noch einige Tage weiter, möglicherweise findet sogar noch ein befristeter Streik statt, und dann wird gesagt: ‚Wir haben alles versucht, wir haben nur das erreichen können, wir gehen erhobenen Hauptes zurück an die Arbeit.‘ Wir kennen all diese Sprüche. Ein Ausverkauf wird schön geredet und es wird so getan, als hätte man nicht mehr erreichen können.“

„Man kann große gesellschaftliche Probleme nicht mit kleinen Lösungen beantworten“, fasste Rippert zusammen. Arbeiter seien heute damit konfrontiert, sich mit dem wirklichen Ausmaß der gesellschaftlichen Krise auseinanderzusetzen.

Er betonte, dass im GDL-Streik weder das Bahn-Management noch die Regierung einen Kompromiss eingehen wollten, weil eine Niederlage dieses Streiks zum Auftakt einer neuen Runde soziale Angriffen auf die gesamte Arbeiterklasse werden solle. Er folgerte: „Der Streik muss ausgeweitet werden. Es ist notwendig, Komitees zu gründen, die direkt die Verbindung aufnehmen zu den Arbeitern in anderen Betrieben, in anderen Industriebereichen, um eine viel größere und politische Auseinandersetzung mit der Regierung vorzubereiten. Anders ist es nicht zu machen.“

Im Anschluss an die Podiumsdiskussion diskutierten viele Lokführer noch lange und interessiert mit Ulrich Rippert und anderen Mitgliedern der PSG.

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