Die Aktualität des Braunbuchs

Kriegs- und Naziverbrecher in der frühen Bundesrepublik

Vor fünfzig Jahren, am 2. Juli 1965, wurde in Ostberlin das „Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik – in Staat, Wirtschaft, Verwaltung, Armee, Justiz, Wissenschaft“ vorgestellt.

In seiner ersten Auflage listete es die SS-Dienstränge und NS-Parteiämter von 1800 Wirtschaftsführern, Politikern und führenden Beamten der Bundesrepublik Deutschland auf, in der dritten Auflage von 1968 sogar von über 2.300 Personen -- darunter von 15 Ministern und Staatssekretären, 100 Generälen und Admirälen der Bundeswehr, 828 Richtern, Staatsanwälten und hohen Justizbeamten, 245 leitenden Beamten des Auswärtigen Amtes und 297 hohen Polizeiangehörigen und Mitarbeitern der Verfassungsschutzbehörden. Die Angaben wurden detailliert mit Aussagen und Zitaten aus Gerichts-, Militär- und Gestapoarchiven und teilweise mit Faksimiles belastender Dokumente belegt.

„Das ganze System ist braun“, erklärte Herausgeber Albert Norden bei der internationalen Pressekonferenz. Das Braunbuch löste eine tiefe politische Krise aus und führte zu zahlreichen Rücktritten von Beamten und Ministern.

Es spielte eine wichtige Rolle in der Protestbewegung der 1960er Jahre. Schlagartig wurde damals klar, dass es eine „Stunde Null“ nie gegeben hatte, das heißt einen gesellschaftlichen Neuanfang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wie dies die Adenauerregierung verkündet hatte. Trotz Verabschiedung des Grundgesetzes und offizieller Entnazifizierungskampagne besetzten die Schlüsselpositionen des Staatsapparats, der Regierung und ihrer Auslandsvertretungen größtenteils ehemalige Nazis.

Das Braunbuch brachte den Stein ins Rollen. Nach 1965 wurden viele weitere ehemalige NS-Täter im deutschen Staatsdienst entlarvt – man denke an den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, dessen Todesurteile als Marinerichter bis in die letzten Kriegstage erst 1978 bekannt wurden.

Doch das Buch über die Kontinuität der Naziseilschaften in der Nachkriegs-BRD ist nicht nur ein historisches Dokument. Auch heute ist es wieder sehr aktuell und zeigt in erschreckender Weise, auf welcher Tradition die gegenwärtige deutschen Außenpolitik, die massive Aufrüstung der Bundeswehr und ihre Beteiligung an Kriegsmanövern der Nato gegen Russland beruht.

Das liegt auch daran, dass im Braunbuch nicht nur Namen und Funktionen aufgezählt sind, sondern in den zitierten Verlautbarungen der einzelnen NS-Funktionäre und Wehrmachtsoffiziere die aggressiven Ziele des deutschen Imperialismus im Zweiten Weltkrieg zur Sprache kommen. Mancher Tonfall hat frappierende Ähnlichkeit mit heutigen Aufrufen zu mehr militärischer Verantwortung Deutschlands in der Welt.

Da wird zu Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion, als der Generalstab noch von einem schnellen Sieg ausging, schon über weitere Pläne zur Weltherrschaft diskutiert. Spezielle Sonderstäbe im Ribbentrop‘schen Außenamt beschäftigten sich mit der Frage der Neuaufteilung des kolonialen Besitzes in Afrika und Asien, wo die alten Kolonialmächte England und Frankreich vertrieben werden sollten. Es gehe um das Ziel der „dauernden Ausschaltung Englands aus dem vorderasiatischen Raum und die dauernde Sicherung deutschen Einflusses auf die dortigen Erdölvorkommen“, heißt es beispielsweise in einer Aufzeichnung des damaligen Unterstaatssekretärs Ernst Woermann vom 6. November 1941 zur Arbeit des Sonderstabs von Grobba. Viele Beteiligte der Sonderstäbe finden sich nach 1945 in den Auslandsvertretungen der Bundesrepublik wieder.

Der Nazi-Rechtsprofessor und „Ostforscher“ an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität) Wilhelm Grewe, der in zahlreichen Politikzeitschriften publizierte, forderte die Hegemonie Deutschlands nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt. In der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ (Bd. 103) schrieb er laut Braunbuch: „Der Kampf geht jetzt nur noch darum, ob wir in ein ‚amerikanisches Jahrhundert’ eintreten, in dem den Vereinigten Staaten die Lenkung der Welt zufällt -- oder ob sich die von den Mächten des Dreier-Paktes verkörperte Neuordnung der Welt durchsetzt.“

1940 forderte derselbe Grewe in der „Zeitschrift für Politik“ (S. 233): „Zerstörung aller Pariser Kirchen, Paläste, Theater, Hospitäler, Akademien, Konservatorien, Gerichtsgebäude, Hallen, Triumphbögen, Kolonaden, der Börse, der Bank, des Stadthauses und der Brücken als Folgerung realistischen Denkens.“ Und 1941 feierte er in der gleichen Zeitschrift (S. 749) den Überfall auf die Sowjetunion als Beginn einer „weltgeschichtlichen Mission“. Grewe leitete nach 1945 die Rechtsabteilung und dann die Politische Abteilung des Bonner Auswärtigen Amtes, danach wurde er westdeutscher Botschafter in den USA und später Nato-Vertreter in Paris.

Herausgeber des Braunbuchs war Albert Norden, Professor der Humboldt-Universität für Neuere Geschichte von 1953 bis 1955 und später im SED-Politbüro Verantwortlicher für die Aufarbeitung der Kriegs- und Naziverbrechen. Schon 1933 hatte der Sohn eines Rabbiners und langjährige KPD-Mitglied am Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror mitgewirkt. Er arbeitete mit dem Ostberliner Juristen Friedrich Karl Kaul zusammen, der sich als Anwalt auch in Westdeutschland in vielen NS-Verfahren einen Namen machte, wie im Frankfurter Auschwitzprozess, der zeitgleich mit der Veröffentlichung des Braunbuchs stattfand, oder im Essener Dora-Prozess und im Düsseldorfer Treblinka-Prozess. Einen großen Teil der Recherchen für das Braunbuch hat Norbert Podewin erstellt, der ab 1961 an der Humboldt-Universität Geschichte studierte. Er starb im vergangenen Jahr. 2002 gab er die erweiterte Auflage des Braunbuchs von 1968 neu heraus.

Die Adenauer-Regierung hatte nach Gründung der Bundesrepublik 1948 die Entnazifizierung mit der Begründung eingestellt, man müsse einen Schlussstrich unter die Nazi-Vergangenheit ziehen. Amnestiegesetze von 1949 und 1954 ermöglichten die Begnadigung von Zehntausenden NS-Tätern. Schon an der Ausarbeitung dieser Gesetze waren ehemalige Mitarbeiter des Reichsjustizministeriums wie Werner Best und Kriegs- und Sonderrichter beteiligt. Zudem beschloss der Bundestag die sogenannte 131er Regelung, die allen, die sich bei Entnazifizierungsverfahren als Mitläufer darstellen konnten, wieder eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst ermöglichte.

Entsprechend hysterisch war die Reaktion in Medien und Politik, als das Braunbuch erschien. Der 1966 zum Bundeskanzler der Großen Koalition aufgestiegene Kurt Georg Kiesinger, selbst im Braunbuch als führender Nazi enttarnt, diffamierte es als „kommunistisches Propagandawerk“ und ließ die zweite Auflage von 1967 auf der Frankfurter Buchmesse in einer spektakulären Polizeiaktion beschlagnahmen. Bis 1945 war Kiesinger als Vertrauensmann von Ribbentrop und Goebbels für die Auslandspropaganda in den besetzten Gebieten zuständig. Die Enthüllung seiner NS-Vergangenheit spielte eine große Rolle in der Protestbewegung gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition.

Später erwiesen sich die Angaben des Braunbuchs zu fast hundert Prozent als korrekt. Obwohl die enthaltenen Fakten offiziell in den westdeutschen Medien geleugnet wurden, traten zahlreiche Beamte von ihren Posten zurück, darunter Generalbundesanwalt Wolfgang Fränkel, dem das Braunbuch 50 Todesurteile am Reichsgericht Leipzig nachwies, und der Minister für Vertriebene Hans Krüger, der als blutiger Nazi-Sonderrichter in Chojnice/Polen (Konitz) entlarvt wurde. Dessen Vorgänger Theodor Oberländer, ehemaliger Gauleiter in Ostpreußen, Reichsleiter des Bundes Deutscher Osten und Abwehroffizier im OKW, war schon 1960 abgelöst worden, nachdem ihm die DDR Kriegsverbrechen nachgewiesen hatte. Unter anderem verübte das von ihm aufgebaute Bataillon „Nachtigall“, bestehend aus ukrainischen Faschisten, Massaker an Tausenden Zivilisten in Lwow (Lemberg) und anderen Städten Osteuropas und der Sowjetunion.

Der Chef des Bundeskanzleramts von Konrad Adenauer, Hans Globke, trat ebenfalls schon vor Erscheinen des Braunbuchs 1963 zurück, nachdem ihn die DDR wegen seiner Mitwirkung an den Nürnberger Rassegesetzen verklagt hatte. 1969 gab schließlich auch der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke, der sich nach 1945 als Widerstandskämpfer dargestellt hatte, sein Amt auf. Das Braunbuch hatte seine Vergangenheit als KZ-Baumeister und Bauleiter in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde sowie als Vertrauensmann der Gestapo aufgedeckt.

Noch heute ist das Braunbuch eine Fundgrube und dient historischen Forschungen als Quelle. So floss das Kapitel des Braunbuchs zu den „Diplomaten Ribbentrops im Auswärtigen Dienst Bonns“ in die Untersuchung „Das Amt und die Vergangenheit“ von 2010 ein, die eine vom Auswärtigen Amt selbst beauftragte Historikerkommission erstellt hatte. Die Angaben in diesem Kapitel, dass 1965 nicht weniger als 520 Nazi-Diplomaten im Dienst der Bonner Republik standen, darunter mehr als 30 in Spitzenfunktionen, und dass ehemalige Gestapo-Mitarbeiter ausgerechnet die Ostabteilung leiteten, wurden 2010 im Wesentlichen bestätigt.

Brisant sind die Einträge, die die Väter heutiger Politiker und hoher Militärs betreffen: beispielsweise zu LotharDomröse, Vater des heutigen Bundeswehrgenerals Hans-Lothar Domröse, der derzeit die Nato-Manöver in Osteuropa vor den Toren Russlands leitet und einer der Scharfmacher für Kriegsvorbereitung und militärische Aufrüstung ist. Sein Vater, laut Braunbuch vor 1945 Ordonanzoffizier bei General Blumentritt, hat im Nürnberger Prozess 1948 den Kriegsverbrecher Hermann Hoth mit der Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung zu entlasten versucht. Das hinderte die Bundesregierung nicht daran, ihn 1966 zum Leiter der Pressestelle im Bundesverteidigungsministerium zu machen.

Oder zu Ulrich de Maizière, dem Vater des heutigen Innenministers Thomas de Maizière, der für die massive Aufrüstung von Polizei und Geheimdiensten eintritt. Das Braunbuch schreibt: „De Maiziere genoss das besondere Vertrauen Hitlers und der faschistischen Wehrmachtsführung. Er wurde noch im Februar 1945 in den ‚Führerbunker‘ geholt. Dort berichtete er als Oberstleutnant i.G. und 1. Generalstabsoffizier (Ia) der Operationsabteilung des Generalstabes des Heeres regelmäßig vor Hitler über die Lage und sorgte für die Arbeitsfähigkeit dieses eingeschlossenen ‚Befehlsstandes‘ Hitlers, Bormanns und Goebbels.“

Nach 1945 gehörte De Maizières Vater zum sogenannten Amt Blank, der Vorgängerinstitution des 1955 gegründeten Bundesverteidigungsministeriums, in dem die Wiederbewaffnung und der Wiederaufbau einer deutschen Armee betrieben wurden. Er sorgte dafür, dass auch berüchtigte Hitler-Generäle wie Heusinger und Speidel beteiligt wurden.

50 Jahre nach Veröffentlichung des Braunbuchs zeigt sich, dass noch heute die oberen Ränge des Militärs und der Politik von einer Kaste dominiert werden, deren Vorfahren zutiefst in die schlimmsten Verbrechen der Menschheit verwickelt waren. Diese ist dabei, wieder in ihre Fußstapfen zu treten.

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