Kita-Streik: Wie Verdi das Abstimmungsergebnis manipuliert

Es ist Urlaubszeit. In dieser Woche haben schon vierzehn von sechzehn Bundesländern Schulferien, und in der nächsten, der ersten Augustwoche, sind sämtliche Schulen und Kindergärten in Deutschland geschlossen. Ausgerechnet in diese Wochen hat die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi die abschließende Phase ihrer Mitgliederbefragung im Kita-Streik gelegt.

Deutlicher könnte sie nicht zeigen, dass sie den Schlichterspruch vom 22. Juni unter allen Umständen durchsetzen und diesen Arbeitskampf beenden will. Sie will erreichen, dass die Beteiligung an der Abstimmung so gering wie möglich ist, um eine Ablehnung praktisch auszuschließen. Um den Schlichterspruch abzulehnen, müssten nach den Arbeitskampfrichtlinien der Gewerkschaft nämlich drei Viertel aller Mitglieder ein „Nein“ einlegen. Für die Annahme reichen dagegen 25 Prozent, wobei Enthaltungen als Zustimmung gewertet werden.

Die Verzögerungsstrategie zeigt, wie groß die Furcht der Gewerkschaftsführung ist, der faule Kompromiss könnte am Ende trotz aller Manöver noch abgelehnt werden. Die Verdi-Führung hat allen Grund, ein Scheitern zu fürchten. Die Opposition gegen den Schlichterspruch vom 24. Juni ist weit verbreitet.

Der Vorschlag der Schlichter, die Einkommen zwischen Null und 4,5 Prozent anzuheben, kommt einer Reallohnsenkung gleich und ist ein Hohn auf das Hauptanliegen des Streiks, den Sozialarbeiter- und Erziehungsberuf aufzuwerten. Außerdem verpflichtet der Spruch die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst, den Kampf um eine höhere Eingruppierung ihrer Tätigkeiten fünf Jahre lang, bis Juni 2020, nicht wieder aufzunehmen.

Für die unteren Lohngruppen bedeutet der Spruch gerade fünfzig Euro mehr im Monat. Sozialarbeiter/innen und Sozialpädagogen/innen sollen zum großen Teil leer ausgehen. Für die vielen Teilzeitbeschäftigten bringt der Spruch keinerlei Erleichterung, bindet ihnen aber fünf Jahre lang die Hände. Das Ergebnis gilt nicht nur für den öffentlichen Dienst, sondern indirekt auch für über eine halbe Million Beschäftigte bei freien und kirchlichen Trägern.

„Dafür haben wir nicht gestreikt“, so die Meinung sehr vieler Betroffener, die sich in Mitglieder-Foren im Internet austauschen.

In einer Resolution, die im Netz kursiert und schon die Unterschrift von über 500 Gewerkschaftsmitgliedern trägt, heißt es: „Die Forderung, den Schlichtungsspruch anzunehmen, beleidigt uns, sie macht uns wütend. Sieht so öffentliche Wertschätzung aus? … Wir appellieren an die Verdi-Mitglieder, den Schlichtungsspruch abzulehnen!“

Ein Beitrag auf dem Mitgliedernetz bringt die Enttäuschung über die gesamte Gewerkschaftsstrategie zum Ausdruck: „Die gesellschaftliche Bedeutung des Sozialen Sektors mit Trillerpfeifen, selbstgemalten Plakaten und infantilen Informationskampagnen verändern zu wollen, treibt einem schlichtweg die Tränen in die Augen. Wie geht’s jetzt weiter für uns mit Frank [Bsirske] und seiner Berliner Clique? Wie kann man erreichen, dass sie nicht als Gurkentruppe unbemerkt durch den Hinterausgang verschwinden? Jeder Abschluss ist jetzt, wie nackt und besoffen am Sonntagmorgen vor der Kirchenpforte aufzuwachen.“ Die ganze Kampagne sei vollkommen „vor die Wand geknallt“.

Auch über die jüngste Verzögerungstaktik herrscht großer Unmut. Ein Mitglied namens „Norbert“ beschreibt, welche chaotischen Zustände herrschen, und äußert sein Misstrauen in die Verdi-Führung:

„Ruft im Bezirk an, geht zur Geschäftsstelle. Kontrolliert, ob wirklich alle Betroffenen zur Mitgliederbefragung konkret (namentlich!!) aufgerufen, d.h. aufgesucht werden. Ruft in den betroffenen Einrichtungen bei den Kollegen an und fragt nach … War jemand mit der Urne da? Wurden alle Betroffenen erreicht? Wann kommt endlich einer? Wurde ordnungsgemäß d.h. namentlich mit Stimmzettel (Plakat und Flugblatt ist unzulässig) aufgerufen? Ist im Bezirk ein für die Befragung zuständiger Funktionär erreichbar? … Organisiert die Stimmabgabe! Die Mitgliederbefragung sollte schon über eine Woche laufen!“

Aus Bremen schreibt ein Mitglied: „Am Donnerstag, den 23. Juli, wurde uns nun ‚endgültig’ von Verdi Bremen mitgeteilt, wie die Abstimmung laufen soll. Es kommt alles wie befürchtet. Die Abstimmung zieht sich nicht nur in die Sommerferien, nein, auch in die Schließungszeit vieler Häuser! Wir sollen uns kommende Woche (ab 27.07) im DGB-Haus zu Bremen einfinden und dort abstimmen. Super, da ist in unserem Haus Schließungszeit, und so gut wie keiner wird den Weg ins DGB-Haus finden… Für mich ist das Wahlergebnis schon jetzt klar.“

Im Blog „Kampfente“ vom 24. Juli heißt es: „Alle Hamburger Mitglieder sind mit der Begründung, sie hätten nur aus Solidarität mit den KollegInnen aus den anderen Bezirken gestreikt, von der Befragung ausgeschlossen worden … Das Ergebnis der Schlichtung ist eine Beleidigung für die Beschäftigten und von Aufwertung weiter entfernt als die Erde von der Sonne.“

Besonders enttäuscht und verärgert sind die Sozialarbeiter/innen, die komplett leer ausgehen, wie auch die Fachkräfte, die mit Behinderten arbeiten. Der Berufsverband der letzteren ruft in einer Stellungnahme zur Ablehnung des Schlichterspruchs auf und schildert, wie der Kampf für eine bessere Bewertung der Tätigkeit seit einem Vierteljahrhundert untergraben wird.

So habe schon die Einführung des Tarifvertrags des Öffentlichen Dienstes (TVÖD) im Jahre 2005 die Löhne zweigeteilt und für Neueingestellte verschlechtert. Deshalb hätten sich große Erwartungen an diesen Arbeitskampf geknüpft. Doch die Aufwertung sei „weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben“. Zur Laufzeit bis 2020 schreibt der Berufsverband, es sei „nicht verständlich, wie dann fast dreißig Jahre eine Berufsgruppe tariflich umhergeschoben und behandelt wird! … Empfehlung: Ablehnung!“

Ende April hatten weit über neunzig Prozent der Gewerkschaftsmitglieder von Verdi, GEW und bdd (Beamtenbund) für Streik gestimmt, um die längst fällige Anerkennung ihrer anspruchsvollen Tätigkeit mit Kindern, Behinderten, sozial Benachteiligten oder auch mit Flüchtlingen zu erkämpfen. Ein richtiger Paradigmenwechsel sollte es sein, und er sollte sich in einem um mindestens zehn Prozent höheren Gehalt niederschlagen.

Kundgebung zum Streikbeginn in Frankfurt am Main

Noch am 8. Juli gab die baden-württembergische Verdi-Landeschefin Leni Breymaier gegenüber der Stuttgarter Zeitung zu, dass der Streik auch in der Bevölkerung große Unterstützung hatte: „Es gibt kaum einen Menschen in der Republik, der unsere Forderungen für unberechtigt hält. Die Gesellschaft ist eigentlich bei uns.”

Doch gerade der große Erfolg des Streiks war für die Gewerkschaftsführung ein Grund, ihn schleunigst abzubrechen. Hinzu kam die Gefahr, dass er sich zusammen mit andern Streiks – der Postler, der Charité-Mitarbeiter, der Lokführer, der Karstadt- und Kaufhof-Beschäftigten und vieler anderer – zu einer breiten sozialen Bewegung gegen die Regierung und die Austeritätspolitik in Europa entwickelt. So wurde Anfang Juni beschlossen, den Streik abzuwürgen und in die Schlichtung zu gehen.

Nach der überraschenden Eröffnung der Schlichtung organisierte der DGB am 13. Juni bundesweit vier Kundgebungen. Dort signalisierten die Gewerkschaften den kommunalen Arbeitgebern ihre Bereitschaft, den Streik auszuverkaufen: Sie luden Spitzenpolitiker als Redner ein, die in Bund, Ländern und Kommunen allesamt für Kürzungen und Sozialabbau verantwortlich sind. Neben Vertretern von CDU, SPD, Grünen und Linkspartei sprach auch Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel.

Verdi-Verhandlungsführer Achim Meerkamp kündigte auf der Kundgebung vom 13. Juni in Köln an: „Es deutet sich möglicherweise an, dass wir den Durchmarsch komplett nicht schaffen.“ Verdi hatte den Ausverkauf zu diesem Zeitpunkt längst beschlossen. Die Gewerkschaft hatte den Arbeitskampf von Anfang an auf eine Zeitspanne bis maximal zu den Sommerferien 2015 geplant. Das geht aus einer internen Power-Point-Präsentation von Ende Dezember 2014 hervor.

Interne Präsentartion vom 14. November 2014: Verdi weiß schon, wann der Arbeitskampf endet

Als eine Streikdelegiertenkonferenz am 24. Juni in Frankfurt den Schlichterspruch ablehnte, reagierte Verdi-Chef Frank Bsirske mit der Drohung, eine Fortsetzung des Streiks werde in der Niederlage enden. Wer jetzt ablehne, werde am Ende alles verlieren und „verbrannte Erde“ und „zerrüttete Verhältnisse“ hinterlassen. „Wir können natürlich ablehnen“, sagte Bsirske. „Aber darauf warten die Kommunalen Arbeitgeber nur.“

Seither sind auch die Streiks bei der Post, bei der Charité und bei der Bahn abgewürgt worden, ohne ihre Ziele erreicht zu haben. Bei der Post stimmte die Konzerntarifkommission einem Ergebnis zu, das die Existenz der 49 Post-eigenen Billigfirmen der Delivery GmbH festschreibt, ohne dass es eine Mitgliederbefragung oder Urabstimmung gab.

Der Ausgang dieser Arbeitskämpfe erinnert auffällig an das Ergebnis des Referendums in Griechenland vom 5. Juli: Die arbeitende Bevölkerung bringt ihren Willen mit großer Deutlichkeit zum Ausdruck und Politiker und Gewerkschaftsbürokraten reagieren, indem sie genau das Gegenteil tun.

Der Grund dafür ist, dass pseudolinke Parteien wie Syriza und Gewerkschaften wie Verdi nicht die Interessen der Arbeiterklasse, sondern die Interessen einer wohlhabenden Mittelschicht vertreten. Während Alexis Tsipras das EU-Diktat gegen die griechische Bevölkerung durchsetzt, ist Verdi-Chef Bsirske entschlossen, den fünfjährigen Knebelvertrag der Schlichter gegen den erklärten Willen der Betroffenen zu erzwingen.

Arbeiter müssen die Konsequenzen daraus ziehen: Um einen erfolgreichen Arbeitskampf zu führen, müssen sie mit den Gewerkschaften brechen, sich unabhängig von ihnen organisieren, sich auf die Kraft der internationalen Arbeiterklasse stützen und den Kampf für ein sozialistisches Programm aufnehmen.

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