Herfried Münkler erklärt Deutschland zum „Hegemon“ Europas

Drei Wochen lang hörte man nichts von Herfried Münkler. Nun scheint der Humboldt-Professor und Ideologe des deutschen Imperialismus der Gegenwart aus dem Urlaub zurück zu sein. Und wenig überraschend macht der aufgeblasene Professor genau da weiter, wo er vor der Sommerfrische aufgehört hat. In einem Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wiederholt er sein berüchtigtes Mantra, Deutschland sei dazu berufen, die Führung in Europa und der Welt zu übernehmen.

Unter der Überschrift „Wir sind der Hegemon“ erklärt Münkler Deutschland zur „europäischen Zentralmacht, der es obliegt, die zuletzt dramatisch angewachsenen Zentrifugalkräfte in der Union zu bändigen, die unterschiedlichen Interessen von Nord- und Süd-, West- und Osteuropäern zusammenzuführen, dabei nach einer gemeinsamen Linie zu suchen und schließlich auch noch dafür zu sorgen, dass die Herausforderung des einen Randes auch die gegenüberliegende Seite der EU etwas angeht“.

Münklers Rufe nach deutscher Führung in alle Himmelsrichtungen sind nicht nur Legion, sondern auch ein Gradmesser für die Geschwindigkeit und Aggressivität, mit der sich lange überwunden geglaubte deutsche Großmachtgelüste und historische Feindbilder unter den Eliten Berlins wieder breit machen.

Hatte der Professor im Juli noch erklärt, Deutschland müsse sich als „zur Zeit die stärkste Macht in der EU“ zwar mehr engagieren, aber zusammen mit Frankreich ein „Kerneuropa“ bilden, ist er mittlerweile offensichtlich zum Schluss gelangt, dass mit dem früheren Erzfeind nicht wirklich ein Staat zu machen sei. Paris habe zwar „über Jahrzehnte mit Deutschland zusammen“ ein Duo im Europaprojekt gebildet, nun habe es aber „die Führungsposition verloren“ und sei „insgesamt zurückgefallen“.

Münklers Schlussfolgerung: Einzig und allein Deutschland kann und muss Europa führen! Er schreibt: „Das Problem ist nämlich, dass, wenn die Deutschen versagen, kein Alternativ- oder Reservekandidat bereitsteht, der einspringen und diese Rolle übernehmen könnte. Will man es dramatisch formulieren: Scheitert Deutschland an den Aufgaben der europäischen Zentralmacht, dann scheitert Europa.“

Münkler, den einige seiner politischen Anhänger bewundernd mit dem nationalistischen und antisemitischen Historiker Heinrich von Treitschke (1834-1896) im Berlin der Kaiserzeit vergleichen, steht damit in den „besten“ Traditionen des deutschen Imperialismus und Militarismus. Auch die Ideologen der deutschen Monarchie und des Dritten Reichs hatten immer wieder betont, dass Europa unter deutscher Führung geeint werden müsse, da es sonst nicht bestehen könne und dem Untergang geweiht sei.

So erklärte Walter Rathenau, der damalige Chef der deutschen „Kriegsrohstoffbehörde“, der das Septemberprogramm des Reichskanzlers Bethmann-Hollwegs stark beeinflusste, zu Beginn des Ersten Weltkriegs: „Die endgültige Führerschaft Europas [ist] unentbehrlich, weil eine aufstrebende Zentralmacht wie Deutschland immer wieder unter der Eifersucht der Nachbarn zu leiden haben wird, sofern sie nicht die Kraft hat, diese Nachbarn organisch anzugliedern. […] Es ist die deutsche Aufgabe, den alt-europäischen Körper zu verwalten und zu stärken.“

In den Richtlinien von Nazi-Außenminister Joachim von Ribbentrop für einen im April 1943 neu geschaffenen „Europa-Ausschuss“ hieß es: „Feststehend ist […] schon heute, dass das künftige Europa nur bei der voll durchgesetzten Vormachtstellung des Großdeutschen Reiches Bestand haben kann. Die Sicherung dieser Vormachtstellung ist demnach als der Kern der künftigen Neuordnung anzusehen.“

Wenige Wochen später notierte Joseph Goebbels in sein Tagebuch: „Es muss das Ziel unseres Kampfes bleiben, ein einheitliches Europa zu schaffen. Europa kann aber eine klare Organisation nur durch die Deutschen erfahren. Eine andere Führungsmacht ist praktisch nicht vorhanden.“

Es gibt nicht nur frappierende Parallelen zwischen den Europakonzepten Münklers und der Bundesregierung und denen der Nazis und des Kaiserreichs. Auch der Versuch des Professors, die Ziele des deutschen Imperialismus zu beschönigen, weist Ähnlichkeiten zu früheren Propagandastrategien auf. Hatten die Vertreter des Kaiserreichs und die Nazis ihr aggressives vorgehen als Defensive dargestellt, behauptet Münkler, Deutschland werde von seinen Nachbarn in die Rolle des Hegemons gedrängt.

Während das deutsche Kaiserreich im Ersten Weltkrieg von einem „Verteidigungskrieg“ gegen die Entente sprach und die Nazis ihren Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion als „Präventivschlag“ gegen ein „Komplott der jüdisch-bolschewistischen Kriegsanstifter“ im Kreml rechtfertigten, schreibt Münkler, es habe „mehrfacher Aufforderung von außen bedurft, bis sich schließlich, zumindest in der politischen Klasse, die Einsicht durchgesetzt hat, dass die Bundesrepublik die ihr faktisch längst zugefallene Rolle auch annehmen und bewusst spielen muss, um ihr gerecht werden zu können und darin nicht zu versagen“.

In Wirklichkeit ist der von Münkler unterstützte jüngste deutsche Griff nach der Weltmacht genauso geplant und ausgearbeitet worden – und man kann hinzufügen: zum Scheitern verurteilt! – wie der Schlieffenplan vor dem Ersten Weltkrieg und die wahnwitzigen Welteroberungsphantasien der Nazis vor dem Zweiten Weltkrieg. Die World Socialist Web Site hat in den letzten Monaten in vielen Artikeln detailliert nachgewiesen, wie die Rückkehr des deutschen Militarismus vorbereitet wurde und umgesetzt wird.

Hier eine knappe Zusammenfassung: Zwischen November 2012 und September 2013 arbeiteten über 50 führende Politiker, Journalisten, Militärs, Wirtschaftsvertreter und Professoren das Strategiepapier „Neue Macht – Neue Verantwortung“ aus. Es legte die Grundlage für die außenpolitische Wende, die von Bundespräsident Gauck und der Bundesregierung auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 verkündet wurde und seither – um nur einige Beispiele zu nennen – mit der Nato-Aufrüstung in Osteuropa, dem militärischen Eingreifen im Nahen und Mittleren Osten und der Ausplünderung Griechenlands in die Tat umgesetzt wird.

Das Papier enthält viele Formulierungen, die kurze Zeit später teilweise wörtlich in die Reden von Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen Eingang fanden. Unter anderem fordert es, dass Deutschland als „Handels- und Exportnation“ seine wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen aggressiver verteidigt. „Aufwendige und längerfristige militärische Einsätze“ müssten Teil „einer pragmatischen deutschen Sicherheitspolitik“ sein, heißt es darin.

Münklers Name ist zwar nicht in der offiziellen Autorenliste des Papiers gelistet. Aber das Thema der deutschen „Zentralmacht in Europa“ oder der „Macht in der Mitte“, das er aggressiv entwickelt, findet sich auch darin wieder. Im Abschnitt „Wozu Europa?“ heißt es, dass Deutschland auch „hier öfter und entschiedener [wird] führen müssen“. Die Gründe seien „seine Geschichte, seine Lage, aber noch mehr seine gegenwärtige wirtschaftliche Stärke und sein neues geopolitisches Gewicht“.

Eine weitere Forderung des Papiers, die der Professor in seinem jüngsten Kommentar aufgreift, ist die nach einer „effektivere[n] politische[n] Kontrolle und engagiertere[n] Kommunikation mit der deutschen Öffentlichkeit“, um die „staatliche Außenpolitik“ und „ihre Ziele und Anliegen effektiver zu kommunizieren“ und „die eigenen Bürger […] zu überzeugen“.

So schreibt Münkler in der F.A.Z.: Um „den Herausforderungen zu genügen, die an die Zentralmacht Europas gerichtet sind“, bedürfe es „der Bereitschaft des überwiegenden Teils der Wahlbevölkerung, sich diesen Herausforderungen zu stellen und die mit ihnen verbundenen Belastungen zu tragen“. Erforderlich sei „eine gesellschaftliche Debatte [...], in der Chancen und Risiken der Zentralmachtrolle offen angesprochen und diskutiert werden“.

Es gehört schon Chuzpe dazu, wenn ausgerechnet Münkler von der Notwendigkeit einer „Debatte“ spricht. Zusammen mit seinem Waffenbruder im Geiste, Jörg Baberowski, versucht Münkler an der Humboldt-Universität jeden mundtot zu machen, der, wie die Studierendengruppen Münkler-Watch oder die International Youth and Students for Social Equality, die „Chancen und Risiken“ der neuen deutschen Großmachtpolitik und ihre historische Kontinuität offen anspricht: wie 1914 und 1939 sind das Krieg und Zerstörung nach außen und Diktatur und Unterdrückung nach innen.

Nach zwei Jahren ohrenbetäubender Kriegspropaganda sind Münkler und Konsorten zunehmend verzweifelt darüber, dass sie die deutsche Bevölkerung nach den Gräueln zweier Weltkriege nicht für einen dritten „Griff nach der Weltmacht“ einspannen können und der Widerstand gegen Militarismus und Krieg wächst. Vor diesem Hintergrund haben Münklers Ergüsse auch etwas Gutes: Sie machen jedes mal klarer, welche Ziele Berlin wieder verfolgt und dass die Arbeiterklasse politisch eingreifen muss, bevor der deutsche Imperialismus Europa und die Welt erneut in eine Katastrophe stürzt.

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