Zweifacher Mord während einer Live-Übertragung

Die sozialen und historischen Dimensionen der Todesschüsse in Virginia

Die tödlichen Schüsse auf die Fernsehjournalistin Alison Parker und ihren Kameramann Adam Ward in Moneta, Virginia, am Mittwochmorgen vor laufender Kamera waren ein schockierendes und entsetzliches Ereignis.

Zehntausende in der Region sahen, wie die Morde vor ihren Augen geschahen. Der Angreifer, Vester Flanagan bzw. Bryce Williams (sein Reportername), filmte die Morde mit seinem Handy. Dabei wartete er, bis Ward die Kamera auf Parker richtete und sie damit im Blickfeld der Zuschauer war, ehe er das Feuer eröffnete. Dann stellte er das Video bei den sozialen Medien ins Netz.

Flanagan war psychisch krank. In einem 23-seitigen Fax, das er am Tag der Tat an ABC News sandte, hieß es: „Ich bin schon seit einiger Zeit ein menschliches Pulverfass… warte nur darauf, BOOM!!! zu machen“, und „Ich bin völlig durchgeknallt.“

Eine umfassende Erklärung für seinen mörderischen Gewaltausbruch erfordert natürlich eine Untersuchung seiner Biografie und der Entwicklung seines psychischen Störung.

Doch einige Aspekte der Tragödie sind so offensichtlich und sagen so viel über die Gesellschaft aus, dass es nachlässig wäre, sie zu ignorieren. Das gilt umso mehr, als die korrupten, eigennützigen Medien und das politische Establishment um jeden Preis verhindern wollen, dass jemand ernsthafte und wichtige Schlussfolgerungen zieht.

Flanagan war zum Zeitpunkt der Tat wohl gestört, aber auch Geistesstörungen folgen einer Logik. Ihnen liegt nicht anderes zu Grunde, „als das, was ihr unsere dreidimensionale Welt und die engere Welt der Klassengesellschaft liefert“ (Trotzki). Im vorliegenden Fall, dem Mord an Reportern in aller Öffentlichkeit, spiegelt der Wahnsinn die gesellschaftliche Realität, wenn auch in verzerrter Form, wieder.

Dass Flanagans Geistesgestörtheit diesen speziellen tödlichen Ausdruck fand, kann nicht isoliert von einigen der schlimmsten Merkmale des gesellschaftlichen Lebens in Amerika gesehen werden: die Seuche der narzisstischen Selbstdarstellung und des Verlangens, um jeden Preis im „Scheinwerferlicht“ zu stehen, die Förderung von Identitätspolitik, und, was am wichtigsten ist, die sozialpsychologischen Auswirkungen der endlosen Interventionen (Invasionen, Drohnenangriffe, Mordprogramme, etc.) der amerikanischen Regierung und des Militärs auf der ganzen Welt. Hinzu kommt das Wüten schrankenloser Polizeigewalt im Inland, das den Glauben daran fördert, man könne mit Gewalt die Probleme im eigenen Leben lösen.

In dem Fax an ABC (ABC hat nur wenige Passagen daraus veröffentlicht), zeigt Flanagan eine paranoide, antisoziale und auf die eigene Person beschränkte Sicht der Dinge. Fox News kommentierte, „mindestens neun Fotos aus seinem Berufsleben schmücken Flanagans Kühlschrank, und ein weiteres Pressefoto hängt an der Wand daneben.“

Flanagan beklagt sich, dass er beruflich von Arbeitgebern und Kollegen unfair behandelt worden sei, und präsentiert eine lange Liste von Ärgernissen. „Er sagt, er sei von schwarzen Männern und weißen Frauen belästigt worden. Er erwähnt, dass er angegriffen wurde, weil er ein schwuler, schwarzer Mann sei.“ ABC News zu Folge habe er auch „rassistische Diskriminierung, sexuelle Belästigung und Mobbing am Arbeitsplatz erfahren“.

Flanagan wollte Nachrichtenreporter beim Fernsehen werden. Fotografien im Netz zeigen ihn als jovialen, lächelnden Reporter. Das sonnige Gemüt und das eingefrorene Grinsen amerikanischer Nachrichtenredaktionen sind aufgesetzt und falsch. Flanagan versuchte bei mehreren Fernsehsendern, dieses Spiel mitzuspielen, war aber psychisch nicht in der Lage, seinen Zorn und seine Verbitterung im Zaum zu halten. Er konnte sich nicht beherrschen, und jede Entlassung oder Enttäuschung schürte und steigerte nur seine Wut.

In der Ankündigung seines Selbstmordes per Fax lobt Flanagan die Täter der Massaker an der Virginia Tech (2007) und an der Columbine High School (1999) und erklärt, dass die Ermordung von neun Afro-Amerikanern durch einen weißen Rassisten in einer Kirche in Charleston im Süden Carolinas im Juni „einfach zu viel war für mich“.

„Ja, es wird sich so anhören, dass ich zornig bin“, schreibt Flanagan. „Ich bin es tatsächlich, und zwar mit vollem Recht. Aber wenn ich diese Welt verlasse, möchte ich nur Frieden in mir spüren.“

„Ich habe versucht, mich selbst aus dem Schlamassel zu befreien“, doch „das Kind war schon in den Brunnen gefallen und wenn man erst einmal da angelangt ist, kann man einfach nichts tun, die Traurigkeit zu überwinden und glücklich zu sein. Das funktioniert nicht so. Zum Arzt gehen? Nein. Es ist zu viel.“

Die Reaktion der amerikanischen Medien auf diese jüngste Tragödie verbindet Ignoranz, Selbsttäuschung und gezielte Versuche, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von der Ursache des Problems abzulenken.

Die offiziellen liberalen Medien versteifen sich auf das Thema Schusswaffenkontrolle. Nicholas Kristof, einer der wichtigsten „moralischen Instanzen“ der Nation, macht in der New York Times auf erschreckende statistische Zahlen aufmerksam (bei etwa 33.000 Toten jährlich in den USA spielen Schusswaffen eine Rolle) und zieht dann diese „Lehre“: „Todesfälle durch Schusswaffengebrauch sollten wir als Krise des öffentlichen Gesundheitssystems auffassen. Zum Schutz der Öffentlichkeit gibt es Vorschriften für Spielzeug und Investmentfonds, für Leitern und Swimmingpools. Sollten wir nicht genauso strenge Vorschriften für Schusswaffen haben?“

Kristof hat seinen Teil dazu beigetragen, eine mörderische Atmosphäre zu schaffen, indem er eine imperialistische „Menschenrechts“-Intervention nach der anderen unterstützt hat, die von Mal zu Mal einen höheren Blutzoll forderte.

Die Redaktion der Washington Post fragt in einer Schlagzeile: „Wird Amerika endlich handeln, um dem Blutvergießen durch Schusswaffen ein Ende zu bereiten?“ Klar, dass es der Post noch nie in den Sinn kam zu fragen: „Wird Amerika endlich handeln, um dem vom US-Militär entfachten Blutvergießen im Nahen Osten ein Ende zu bereiten?“

Der Leitartikel erklärt: „Die dramatischen Morde, die die Nachrichten dominieren, erinnern uns daran, dass Schusswaffen keine edlen Werkzeuge der Freiheit sind; sie sind höchst gefährliche Maschinen, die manchmal legitim und sehr oft illegitim eingesetzt werden. Jede vernünftige Regierung würde ihren Gebrauch streng regeln.“

Der leichte Zugang zu Waffen und ihre Bevorratung durch Teile der Bevölkerung sind bestimmt kein Anzeichen einer gesunden Gesellschaft, doch weder die Times noch die Post verlieren ein Wort über die Krankheiten, die Amerika regelrecht zerfressen: die grassierende soziale Polarisierung, der beherrschende Einfluss der Finanz- und Wirtschaftsaristokratie, die offizielle Verherrlichung einer gigantischen Militärmaschinerie, eine würdelose und entwürdigende Popkultur, die Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten von den staatlichen Institutionen, der Pessimismus von Millionen in ihre Zukunft, etc. … die Krankheiten, die die vergiftete Atmosphäre hervorbringen, welche die Häufung von Massenmorden möglich macht.“

Die „harte Methode“, mit den Morden umzugehen, bietet ebenfalls nur stumpfsinnige Antworten. Ein rechter Kommentar beginnt so: „Am Mittwoch machte Amerika Bekanntschaft mit einem zutiefst bösen Menschen: Vester Lee Flanagan II, den man auch als den Reporter Bryce Williams kannte.“ Ein anderer Kommentar schlägt in dieselbe Kerbe: „Mörder wird es immer geben, und Waffen auch. Kain tötete Abel mit einem Stein. Schusswaffenkontrolle ist nicht das Thema.“

Aus ihrer Unfähigkeit heraus, irgendetwas zu erklären, greifen manche amerikanische Medien wie nach einem rettenden Strohhalm zu einer neueren Studie von Dr. Adam Lankford, Professor für Strafrecht an der University of Alabama, mit dem Titel “Mass Shooters, Firearms, and Social Strains: A Global Analysis of an Exceptionally American Problem” (Schusswaffen-Massenmörder, Handfeuerwaffen und soziale Spannungen: Globale Analyse eines vorwiegend amerikanischen Problems).

Lankford, dessen Untersuchungsergebnisse vergangenen Sonntag auf der Jahrestagung der American Sociological Association in Chicago vorgestellt wurden, hat die bisher einzige Studie über Massenmorde durch Schusswaffengebrauch zwischen 1996 und 2012 durchgeführt. Ein Ergebnis lautet, dass in den USA 31 Prozent dieser Ereignisse stattfanden, obwohl die USA nur fünf Prozent der Weltbevölkerung stellen.

Lankford sagte gegenüber dem Magazin Newsweek, „Verbrechen und abweichendes Verhalten ereignen sich, weil zwischen den Träumen und Zielen von Menschen und ihrer Fähigkeit, diese zu realisieren, eine ungesunde Kluft besteht“. Der Professor meint, „unsere Kultur lässt Menschen zu oft nach den Sternen greifen und dabei straucheln und stürzen“.

Newsweek kommentiert: „Dass Schulen und Arbeitsstätten diese Sorgen verkörpern, sowie auch die Kluft zwischen den eigenen Zielen und Möglichkeiten, diese Träume zu verwirklichen, könnte erklären, warum Massenmörder mit Schusswaffen in Amerika eher Schulen und Arbeitsstätten angreifen als in anderen Ländern.“

Lankford vertritt in seinem Papier die Auffassung, dass „manche Massenmörder mit Schusswaffen ihre eigene Größe gewaltig überschätzen und durch das Töten Bekanntheit und Ruhm erlangen wollen. Sie wissen genau, dass ihr Name und Gesicht nur dann auf Magazinen, Zeitungen und im Fernsehen gezeigt wird, wenn sie unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder ermorden.“

In diesen Argumenten mag ein Körnchen Wahrheit enthalten sein. Sie erklären aber nicht, warum das Chaos in den letzten Jahrzehnten solche Ausmaße angenommen hat. Dazu muss man konkrete historische und soziale Phänomene berücksichtigen, insbesondere die enorme Brutalität der Klassenbeziehungen in den USA und das Beispiel, das die amerikanische herrschende Elite mit ihrem weltweiten Gewaltfeldzug vorlebt.

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