Perspektive

Wer ist für die Flüchtlingskrise in Europa verantwortlich?

Die herzzerreißenden Bilder eines dreijährigen syrischen Jungen, der an einem türkischen Strand angespült, mit dem Gesicht nach unten im Sand liegt, ehe ihn ein Helfer aufhebt, erschüttern Menschen in aller Welt und zeigen hautnah die verzweifelte Krise, die sich an Europas Grenzen abspielt.

Die Familie des kleinen Alan Kurdi stammte aus Kobane und war wie hunderttausende andere auf der Flucht. Eine wochenlange Belagerung durch den Islamischen Staat (IS) und eine intensive Bombardierung durch die USA haben die Stadt in Schutt und Asche gelegt. Die Häuer sind bloß noch Ruinen, die Strom- und Wasserversorgung und die medizinische Infrastruktur sind zerstört.

Der Junge gehörte zu einer Gruppe von zwölf Personen, die bei dem Versuch ertranken, Griechenland zu erreichen. Zu der Gruppe gehörten auch seine Mutter und sein fünfjähriger Bruder. Sein niedergeschmetterter Vater, der einzige Überlebende der Familie, sagte, er werde mit den Leichen nach Syrien zurückkehren. Zu Verwandten soll er gesagt haben, er hoffe nur noch, ebenfalls zu sterben und neben ihnen begraben zu werden.

Die Schuldzuweisung für diese Toten trifft viele. Alan Kurdi und seine Familie stehen für Tausende, die ihr Leben beim Versuch verloren haben, das Mittelmeer zu überqueren, oder die erstickt sind, als sie wie Sardinen in luftdicht abgeschlossenen LKWs zusammengepfercht wurden.

Die konservative Regierung Kanadas hatte im Juni einen Antrag der Tante des Jungen, die in British Columbia lebt, auf Asyl für Alans Familie abgelehnt.

Die Länder der Europäischen Union reagieren auf die Flüchtlingswelle ausschließlich mit Unterdrückung und Abschreckung. Sie errichten neue Stacheldrahtzäune, bauen KZ-artige Sammellager und stellen Bereitschaftspolizei auf, um eine Festung Europa zu schaffen, die verzweifelte Familien, wie die von Alan, auf Abstand hält und viele Tausende dem sicheren Tod überlässt.

Aber wie steht es um die USA? Amerikanische Politiker und Medien schweigen sich über die zentrale Rolle aus, die die Regierung in Washington für diese Tragödie an Europas Grenzen spielt.

Die Washington Post erklärte zum Beispiel Anfang der Woche in einem Leitartikel: „Man kann von Europa nicht erwarten, dass es mit einem Problem, das in Afghanistan, dem Sudan, in Libyen und –vor allem – in Syrien entstanden ist, ganz allein fertig werde.“ Ähnlich die New York Times: „Die Wurzeln dieser Katastrophe liegen in Krisen, die die Europäische Union nicht alleine lösen kann: im Krieg in Syrien und im Irak, sowie im Chaos in Libyen …“

Was aber sind die „Wurzeln“ der Krisen dieser Länder, die zu einer solchen „Katastrophe“ geführt haben? Die Antwort auf diese Frage ist betretenes Schweigen.

Jede ernsthafte Untersuchung der Gründe für die Flüchtlingskrise in Europa führt zu der unausweichlichen Schlussfolgerung, dass sie nicht nur eine Tragödie ist, sondern ein Verbrechen. Genauer gesagt: Sie ist die tragische Nebenwirkung der kriminellen Aggressionskriege und Interventionen zum Regimewechsel, die der US-Imperialismus mit seinen westeuropäischen Verbündeten seit 25 Jahren führt.

Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 fühlte sich die herrschende amerikanische Elite frei, Amerikas konkurrenzlose Militärmacht einzusetzen, um den langfristigen wirtschaftlichen Niederlang des US-Kapitalismus auszugleichen. Die amerikanische Regierung setzte militärische Aggression ein, um ihre Vorherrschaft über Schlüsselmärkte und Rohstoffe zu etablieren, und ihre ersten Opfer waren die energiereichen Regionen des Nahen Ostens und Zentralasiens.

Das Wall Street Journal fasste diese Strategie 1991, nach dem ersten Krieg gegen den Irak, in der plumpen Parole zusammen: „Gewalt funktioniert“.

Heute kann die Welt die Folgen dieser Politik der letzten Zeit beobachten: Eine Welle verzweifelter Flüchtlinge versucht, Europa zu erreichen.

Jahrzehntelange Kriege in Afghanistan und im Irak unter dem Vorwand eines „Kriegs gegen den Terror“ und der berüchtigten Lüge über irakische „Massenvernichtungswaffen“ haben lediglich ganze Gesellschaften zerstört und hunderttausende Männer, Frauen und Kinder getötet.

Darauf folgte der Krieg der USA und Nato für einen Regimewechsel in Libyen. Er stürzte die Regierung von Muammar Gaddafi und verwandelte das Land in einen so genannten gescheiterten Staat, der von ständigen Kämpfen zwischen verfeindeten Milizen zerrissen ist. Dann brach der syrische Bürgerkrieg aus, angestachelt, bewaffnet und finanziert vom US-Imperialismus und seinen Verbündeten mit dem Ziel, Baschar al-Assad zu stürzen und eine fügsamere Marionette des Westens in Damaskus zu installieren.

Die räuberischen Interventionen in Libyen und Syrien wurden im Namen von „Menschenrechten“ und „Demokratie“ gerechtfertigt. Mit diesem Argument erhielten sie die Unterstützung zahlreicher pseudolinker Organisationen, die privilegierte Schichten der Mittelklasse repräsentieren, wie in Deutschland die Linkspartei, in Frankreich die Neue Antikapitalistische Partei, in den USA die International Socialist Organisation und andere mehr. Einige gingen so weit, die von der CIA bewaffneten und finanzierten Aktionen islamistischer Milizen als „Revolution“ zu feiern.

Die momentane Situation und der unerträgliche Druck durch Tod und Zerstörung, der Hunderttausende Menschen in eine verzweifelte, oft tödliche Flucht treibt, ist das Ergebnis all dieser Verbrechen des Imperialismus. Der Aufstieg des IS und die andauernden Bürgerkriege im Irak und in Syrien sind Folgen der Zerstörung des Irak durch die USA und der Unterstützung, die der US-Imperialismus und seine regionalen Verbündeten dem IS und ähnlichen islamistischen Milizen in Syrien gewährt haben.

Für diese Verbrechen ist niemand zur Verantwortung gezogen worden. Bush, Cheney, Rumsfeld, Rice, Powell und andere in der früheren Regierung, die im Irak einen Aggressionskrieg auf der Grundlage von Lügen geführt haben, erfreuen sich völliger Straffreiheit. Auch die jetzige Regierung, mit Obama an der Spitze, muss für die Katastrophen, die sie in Libyen und Syrien angerichtet hat, erst noch zur Verantwortung gezogen werden. Sie haben zahlreiche Komplizen, vom Kongress, der die Kriegspolitik gutheißt, über die Medien, die der amerikanischen Öffentlichkeit als Kriegsgrund Lügen unterjubeln, bis zu den Pseudolinken, die dem US-Imperialismus und seinen „humanitären Interventionen“ einen progressiven Mantel umhängen.

Sie alle sind gemeinsam für das verantwortlich, was sich an den europäischen Grenzen abspielt. Es ist mehr als eine Tragödie. Es ist ein anhaltendes Kriegsverbrechen.

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