Perspektive

Lehren aus dem Volkswagen-Skandal

Der Volkswagen-Skandal zieht immer weitere Kreise. Der neben Toyota größte Autobauer der Welt hat nicht nur in den USA gezielt Abgaswerte manipuliert. Die zur Täuschung benutzte Software wurde weltweit in elf Millionen Autos eingebaut. Allein in Deutschland sind nach Angabe von Verkehrsminister Alexander Dobrindt 2,8 Millionen Autos betroffen. Das sind über 5 Prozent aller zugelassenen Kraftfahrzeuge.

Im Konzern, dessen Aktienkurs in den vergangenen Tagen steil abgestürzt ist, rollen inzwischen die Köpfe. Der Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn musste gehen, ebenso einige weitere Topmanager. Doch die kriminelle Energie, die VW aufgewandt hat, um seine Kunden und die Behörden zu täuschen, lässt sich nicht mit dem Fehlverhalten einiger Weniger erklären.

Nach Informationen der F.A.Z. wurde die illegale Software bereits 2005 entwickelt, um mit dem Argument der Umweltfreundlichkeit deutsche Diesel-PKWs in den USA zu verkaufen. Da es nicht gelang, die strengen US-Schadstoffgrenzwerte mit technischen Mitteln zu erreichen, griff man zu Täuschung und Manipulation. Angesichts der langen Zeitdauer und der hohen Zahl betroffener Fahrzeuge müssen sehr viele davon gewusst haben.

Der Volkswagenkonzern beschäftigt weltweit 600.000 Mitarbeiter und vereint zwölf Marken unter seinem Dach – neben den Massenherstellern VW, Skoda, Seat und Audi auch Edelmarken wie Porsche, Bentley und Bugatti und die Lastwagenproduzenten Scania und MAN. Volkswagen verdankt seinen Erfolg nicht zuletzt deutscher Ingenieurskunst und dem mit ihr verbundenen Ruf der Zuverlässigkeit. Dass diese Ingenieurskunst systematisch eingesetzt wurde, um zu betrügen und zu täuschen, bezeugt nicht nur die kriminelle Energie einzelner VW-Mitarbeiter, sondern die Irrationalität des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, in dem der Konzern operiert.

VW ist kein Einzelfall. Auch andere Autokonzerne, wie General Motors und Toyota, und Weltkonzerne wie Siemens haben ähnliche Skandale erlebt.

Andere Produzenten von Dieselfahrzeugen – darunter BMW, Opel, Peugeot und Mercedes – stehen im Verdacht, ebenfalls Abgaswerte manipuliert zu haben. Messungen von Umweltorganisationen ergeben seit Jahren massive Abweichungen des tatsächlichen Oxidausstoßes von den Laborwerten. Die betroffenen Unternehmen bestehen zwar darauf, dass dies die Folge von legalen „Tricks“ – wie vollgeladenen Batterien, überhöhtem Reifendruck und unrealistischen Laborbedingungen – sei, und nicht von gezielter Manipulation durch eine eigens entwickelte Software wie bei VW. Doch das ist nur ein gradueller Unterschied.

All diese Konzerne operieren global und stehen unter dem ständigen Druck, ihre Rendite zu steigern. Bereits seit den 1980er Jahren ist die kurzfristige Steigerung des Aktienkurses, der shareholder value, und nicht die langfristige Entwicklung der Produktion zum leitenden Prinzip der Wirtschaft geworden. Die Eroberung zusätzlicher Marktanteile, die Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Senkung der Arbeitskosten entscheiden dabei über Aufstieg oder Absturz ganzer Konzerne.

Mit der Finanzkrise von 2008 hat dies irrwitzige Ausmaße angenommen. Die Notenbanken überfluten die Märkte mit billigem Geld, das aufgrund niedriger Zinssätze zu einem erheblichen Teil in die Spekulation mit Aktien fließt. Der DAX, der während der Finanzkrise von seinem bisherigen Rekord von 8.000 Punkten unter 4.000 stürzte, hat zwischenzeitlich Werte über 12.000 erreicht. Eine kleine Finanzelite hat sich daran maßlos bereichert und besteht darauf, ihren obszönen Reichtum auf Kosten der Arbeiterklasse zu verteidigen.

Noch ist nicht abzusehen, wie viele tausende oder zehntausende Arbeiter als Folge des VW-Skandals ihren Arbeitsplatz verlieren. Aber eines ist bereits sicher, die Steigerung der Rendite auf Kosten der Belegschaft geht weiter.

Porsche-Chef Matthias Müller, der gestern zum Nachfolger Winterkorns an der Spitze des Gesamtkonzerns ernannt wurde, hat sich für dieses Amt qualifiziert, indem er die Umsatzrendite des Sportwagenherstellers auf 15 Prozent steigerte. Diese Aufgabe hat er nun auch bei VW. Bei einem Hersteller von Luxussportwagen mit Listenpreisen bis zu 768.000 Euro ist dies allerdings leichter, als bei einem Massenproduzenten, bei dem der Konkurrenzdruck wesentlich höher ist.

Die Belegschaft von VW wird die Angriffe auf ihre Arbeitsplätze und Einkommen nicht kampflos hinnehmen. Aber sie steht vor dem Problem, dass sich die gewerkschaftlichen Methoden und Organisationen der Vergangenheit völlig erschöpft haben. Es gibt keinen anderen Betrieb, in dem die Sozialpartnerschaft und die Klassenzusammenarbeit derart perfektioniert wurden, wie bei VW. IG Metall, Betriebsrat und Management sind praktisch verschmolzen. Der ehemalige IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber leitet den Aufsichtsrat und gilt als entscheidender Mann im Konzern.

Gewerkschaft und Betriebsrat betrachten die Zukunft des Konzerns ganz wie die Anteilseigner und das Management vom Standpunkt seiner internationalen Konkurrenzfähigkeit, koste es, was es wolle. Der Betriebsrat hat deshalb bereits im letzten Jahr einen eigenen Plan vorgelegt, jährlich 5 Milliarden Euro einzusparen. Die Belegschaft ist nicht nur mit dem Management, sondern auch mit der Gewerkschaft und dem Betriebsrat als Gegner konfrontiert. Um die Arbeitsplätze und die Einkommen zu verteidigen, braucht sie eine völlig neue Strategie.

Deren Ausgangspunkt muss der internationale Charakter der modernen Produktion sein. Es handelt sich um eine enorm fortschrittliche Entwicklung, die die Leistungsfähigkeit der menschlichen Arbeit stark erhöht und alle materiellen Voraussetzungen schafft, um Armut und Rückständigkeit auf der ganzen Welt zu überwinden und das materielle und kulturelle Niveau der gesamten Menschheit zu steigern.

Aber in den Fesseln des Nationalstaats und des Privateigentums, auf denen der Kapitalismus beruht, verwandelt sie sich ins Gegenteil. Sie wird zum Mittel, die Arbeiter der einzelnen Länder gegeneinander auszuspielen und alle Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens den unersättlichen Ansprüchen des Finanzkapitals zu unterwerfen.

Arbeiter müssen daraus zwei Schlussfolgerungen ziehen:

Um gegen die Angriffe der Unternehmen zu kämpfen, müssen sie mit der nationalistischen Politik der Gewerkschaften brechen, ihre eigenen, unabhängigen Komitees aufbauen und sich international zusammenschließen.

Und sie müssen die Verteidigung ihrer Rechte und Errungenschaften zum Ausgangspunkt des Kampfs für eine sozialistische Gesellschaft machen: für Abeiterkontrolle über die Produktion, für die Vergesellschaftung der Autoindustrie, der großen Konzerne und Banken und für die Reorganisation der gesamten Wirtschaft auf Grundlage der gesellschaftlichen Bedürfnisse statt der Profitansprüche des Kapitals.

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