Wütende Proteste nach Bombenanschlag in der Türkei

Bei einem Bombenanschlag am Samstag auf eine regierungskritische Friedensdemonstration in der türkischen Hauptstadt Ankara wurden mindestens 97 Menschen getötet und weitere 246 verletzt. Als Reaktion darauf kam es in Ankara und anderen Städten zu mehreren Demonstrationen mit tausenden von Teilnehmern. Die Demonstranten machten die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan für den Anschlag verantwortlich, der die friedliche Demonstration in ein Blutbad verwandelt habe. Erdogans Regierung führt seit Wochen eine massive Unterdrückungskampagne einschließlich Luftangriffe gegen die Kurden durch.

Als Demonstranten am Schauplatz des Anschlages vom Samstag Nelken niederlegen wollten, setzte die Polizei am Sonntag Tränengas ein.

Zwei schwere Bomben waren am Samstagmorgen nahe dem Hauptbahnhof von Ankara inmitten einer Massendemonstration, explodiert, auf der ein Ende des Krieges zwischen der türkischen Regierung und der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gefordert wurde. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker, diverse linke Gruppen und einige Gewerkschaften hatten zu der Demonstration aufgerufen.

Der Terroranschlag ereignete sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden politischen Krise in der Türkei wegen deren höchst unpopulärer Rolle im Krieg in Syrien. Ankara hat islamistische Kämpfer unterstützt, u.a. den IS, um das Regime von Präsident Baschar al-Assad zu stürzen und die Entstehung eines autonomen kurdischen Staates in direkter Nachbarschaft der der Türkei zu verhindern.

Im Inland hat die Regierung den Bürgerkrieg gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wieder aufgenommen, der seit 1984 mindestens 40.000 Menschenleben gekostet hat. Angesichts einer zunehmenden Wirtschaftskrise ist sie außerdem mit wachsender Unzufriedenheit konfrontiert.

Bisher ist noch unklar, wie genau es zu den Explosionen kam, und keine Gruppe hat die Verantwortung für das Verbrechen übernommen. Doch Präsident Erdogan und seine amtierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) werden versuchen, den Anschlag zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen, unabhängig davon, wer dafür verantwortlich ist.

Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der bis zu den Neuwahlen am 1. November eine AKP-Übergangsregierung anführt, hatte anfangs eine Nachrichtensperre über den Anschlag verhängt, die jedoch weitgehend ignoriert wurde.

Davutoglu nannte mehrere mögliche Schuldige, darunter den Islamischen Staat (IS), die PKK und die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C). „Der Anschlag in Ankara richtet sich gegen unsere Einheit, gegen die Demokratie und gegen den Frieden,“ erklärte er und bezeichnete ihn als „den schmerzhaftesten Vorfall in der Geschichte der türkischen Republik.“

Während die Sorge über die politische Krise in der Türkei weltweit zunimmt, versicherte US-Präsident Barack Obama Erdogan telefonisch, dass sich „das amerikanische Volk im Kampf gegen Terrorismus und die Gefahren für die gemeinsame Sicherheit in Solidarität mit der Türkei befindet.“

Der Vizevorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, kritisierte die Regierung jedoch als „Mafiastaat“ mit der „Staatsmentalität eines Serienkillers.“ Damit meinte er, dass die AKP und Ultranationalisten Banden mobilisiert hatten, die seit dem Wahlkampf für die Wahl im letzten Juni mehrfach Geschäftsräume und Personal der HDP angegriffen hatten, während die Polizei untätig zusah.

Demirtas erklärte weiter: „Wir stehen einem mörderischen Verbrecherstaat gegenüber. Wie ist es möglich, dass ein Staat mit einem so mächtigen Geheimdienstapparat nicht im Voraus Informationen über den Anschlag hatte?“ Er fügte hinzu: „Bandenchefs können in diesem Land ungestört Veranstaltungen organisieren, aber wer Frieden will, wird ermordet.“

Tausende Demonstranten, die sich am Sonntag in Ankara versammelten, darunter Zeugen, Angehörige der Opfer und Oppositionsparteien, warfen der Regierung vor, sie habe im Vorfeld der Veranstaltung am Samstag nichts für deren Sicherheit getan und sei damit direkt für die Tragödie verantwortlich. Stattdessen sei die Polizei erst nach den Explosionen aufgetaucht und habe Tränengas gegen die Familien der Opfer eingesetzt, als sich diese nach ihren Angehörigen erkundigen wollten.

Als den Demonstranten auf dem Sihhiye-Platz von Bereitschaftspolizei mit Wasserwerfern der Zugang zur Hauptstraße verwehrt wurde, die zu den Parlaments- und Regierungsgebäuden führt, reagierten sie mit Sprechchören „Mörder Erdogan“ und „Mörderische Polizei“. Die Menge warf der Regierung vor, sie schüre vor der Wahl am 1. November vorsätzlich ein Klima der Angst und der Einschüchterung, um die Wahl entweder zu verzögern und so an der Macht zu bleiben oder ihre Chancen auf eine Mehrheit zu vergrößern. Regierungsvertreter betonten jedoch, dass die Wahl trotz sicherheitspolitischer Bedenken wie geplant stattfinden werde.

Die AKP hatte die Wahl angesetzt, weil sie im Juni aufgrund des Aufstiegs der prokurdischen HDP keine absolute Mehrheit erringen konnte. Die HDP erhielt im Juni dreizehn Prozent der Stimmen, sodass die AKP um die Möglichkeit gebracht wurde, die Verfassung zu ändern, um ein Präsidialregime zu errichten. Die AKP weigerte sich, eine Regierungskoalition mit einer der drei Oppositionsparteien einzugehen und setzt darauf, dass sie im November eine absolute Mehrheit erringen könne. Allerdings ist längst nicht klar, ob sie damit Erfolg haben wird.

Die Regierung hat den Krieg gegen die PKK wieder aufgenommen, nachdem sie zweieinhalb Jahre ergebnislos verhandelt hatte, ohne konkrete Vorschläge vorzubringen. Erdogan verhängte eine Ausgangssperre über kurdische Städte und verhängte praktisch das Kriegsrecht. Einer der berüchtigtsten Vorfälle ereignete sich in Cizre. Nachdem die Regierung dort eine achttägige Ausgangssperre verhängt hatte, wurden mehr als zwanzig Menschen, darunter Kinder, von Scharfschützen des Militärs erschossen. Auch Personen, die versuchten, den Opfern zu helfen, wurden beschossen.

Seit der Wiederaufnahme des Bürgerkrieges gegen die PKK kurz nach der Wahl im Juni wurden 140 Angehörige der Sicherheitskräfte getötet. Die Regierung hat nach eigenen Angaben mehr als 1.700 Aufständische getötet.

Außerdem versuchte die Regierung, die HDP zu verbieten oder zumindest zu schwächen. Hierzu wurden ihre Büros überfallen und ihre Führer und Bürgermeister unter dem Deckmantel der Bekämpfung des Terrorismus juristisch attackiert. Der Vizevorsitzende der HDP, Selahattin Dermitas, hat jedoch alles in seiner Macht stehende getan, um sich von der PKK abzugrenzen und damit die PKK-Führung im Irak gegen sich aufgebracht. Er trat sogar kurzzeitig der Übergangsregierung in Ankara bei.

Die PKK kündigte unmittelbar nach dem Anschlag in Ankara einen einseitigen Waffenstillstand an, um zu verhindern, dass irgendetwas eine „gerechte und gesetzmäßige Wahl“ am 1. November gefährde. Der stellvertretende Ministerpräsident Yalcin Akdogan tat diesen Waffenstillstand als „Taktik“ im Vorfeld der Wahl ab. Ein hochrangiger Vertreter des Sicherheitsapparates erklärte: „Der Waffenstillstand der PKK hat für uns keine Bedeutung. Wir werden unsere Operationen ohne Unterbrechung fortsetzen.“

Am Samstag und Sonntag griffen türkische Kampfflugzeuge Ziele der PKK im Südosten der Türkei und im Nordirak an. Im Nordirak kamen 30 bis 35 PKK-Kämpfer ums Leben, in der türkischen Provinz Diyarbakir vierzehn.

Die Regierung erklärte, der Anschlag in Ankara sei wahrscheinlich vom IS verübt worden. Weiter behauptete sie, der Anschlag habe eine starke Ähnlichkeit mit dem in Suruc nahe der syrischen Grenze im Juli, für den der IS später die Verantwortung übernommen hatte.

Die Regierung nutzte den Anschlag im Juli als Vorwand, um sich an der amerikanischen Koalition zu beteiligen, deren vorgeblicher Gegner der IS ist, und um den Krieg gegen die PKK im Nordirak und der Türkei wieder aufzunehmen. Washington erhielt die Erlaubnis, den türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik als Ausgangsbasis für Luftangriffe auf den Irak und Syrien zu benutzen, im Gegenzug ignoriert es die Angriffe der Türkei, obwohl die kurdischen Milizen im Irak und Syrien bisher die effektivsten militärischen Gegner des IS sind.

Russland führt mittlerweile eine direkte Militärintervention in den syrischen Bürgerkrieg zur Stärkung des Assad-Regimes durch, das außerdem vom Iran, dem Irak und der libanesischen Hisbollah unterstützt wird. Diese Intervention hat Ankaras Pläne noch mehr durcheinander gebracht. Moskau hat nicht nur den IS angegriffen, sondern auch andere islamistische Kräfte, darunter auch die mit Al Qaida verbündeten Gruppen, die mit Unterstützung durch Ankara gegen die kurdischen Kräfte der Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihrer Miliz, die Volksverteidigungseinheiten (YPG), in Syrien kämpfen.

Ankara hat im Laufe der letzten Woche eine zunehmend kriegerische Haltung eingenommen und Moskau vorgeworfen, mehrfach in türkischen Luftraum eingedrungen zu sein. Erdogan erklärte am 7. Oktober während eines Fluges nach Japan, er könne „die derzeitige Lage nicht akzeptieren“ und fügte hinzu, „Russlands Erklärungen bezüglich der Verletzungen unseres Luftraumes sind nicht überzeugend.“ Er drohte Russland damit, andere Anbieter für Erdgas für die Türkei zu finden. Bisher bezieht sie 55 Prozent ihres Erdgases aus Russland.

Er drohte außerdem, er sei nicht nur bereit, sich gegen Russland zu stellen, sondern auch zuversichtlich, dass er die Unterstützung der USA und der Nato hätte, wenn er sich zum Handeln gegen Russlands Intervention in Syrien entschließen würde. Damit erhöht er die Gefahr eines Krieges, an dem die beiden größten Atommächte der Welt beteiligt wären.

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