Neubrandenburger Auschwitzprozess droht zu platzen

Der Prozess gegen den früheren SS-Mann Hubert Z. in Neubrandenburg droht nach einem sich monatelang hinziehenden Streit über die Verhandlungsfähigkeit des betagten Angeklagten zu platzen, weil gegen zwei Richter des Landgerichts ein Befangenheitsantrag gestellt wurde, über den eine andere Kammer entscheiden muss. Zu dem Verfahren gegen Hubert Z., vermutlich einem der letzten gegen Beteiligte am Holocaust, planen Zeugen, Hinterbliebene und Journalisten aus der ganzen Welt anzureisen.

Hubert Z. war 1944 als Mitglied der Sanitätsstaffel Auschwitz-Birkenau dabei, als 14 Züge mit Deportierten in dem Vernichtungslager ankamen, von denen 3681 ermordet wurden. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Z. sich der Beihilfe zu diesen Morden schuldig gemacht hat, weil er das „arbeitsteilige Lagergeschehen als Ganzes unterstützt“ habe. Er habe durch seine tägliche Arbeit zur Massenvernichtung beigetragen.

Unter anderem ist bekannt, dass Sanitäter auch Gefangene mit Giftspritzen ermordeten und das Giftgas Zyklon B in die Gaskammern schütteten. Der Angeklagte bestreitet seine Mitschuld mit zum Teil hanebüchenen Behauptungen. Er will lediglich Erste Hilfe geleistet und von den Häftlingszügen nichts gewusst haben. Eine Rampe habe er auch nicht gesehen. Die Schlote der Krematorien, in denen nachts die Ermordeten verbrannt wurden und aus denen bis zu zehn Meter hohe Flammen und Qualm aufstiegen, habe er für ein Heizwerk gehalten.

Z. wird von dem Anwalt Peter-Michael Diestel vertreten, der Innenminister der letzten DDR-Regierung vor der Wiedervereinigung war. Diestel behauptet, das Verfahren sei eine Verletzung der „Menschenwürde“, denn sein Mandant leide unter Altersdemenz und einer „depressiven Symptomatik“, was ein von ihm bestellter Gutachter bestätigte. Das Landgericht Neubrandenburg wollte daraufhin das Verfahren im Juni letzten Jahres einstellen, was jedoch vom Oberlandesgericht Rostock abgelehnt wurde.

Nun hat das Landgericht zwar für den 29. Februar den Prozessbeginn angesetzt, aber es ist äußerst fraglich, ob es überhaupt zur Verhandlung gegen den Angeklagten kommt, denn es wurden weder Zeugen geladen noch andere Beweismittel vorgelegt. Für den ganzen Prozess wurden nur drei Verhandlungstermine anberaumt. Geladen wurden lediglich zwei Sachverständige. die über die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten entscheiden sollen.

Die Staatsanwaltschaft Schwerin erhebt in einem Dokument schwere Vorwürfe gegen zwei der drei Berufsrichter, darunter den Vorsitzenden, und hat ihre Ablehnung wegen Befangenheit beantragt. Oberstaatsanwalt Förster befürchtet, dass die anberaumte Verhandlung nur dazu dienen soll, das Verfahren möglichst rasch einzustellen.

Auch die Nebenkläger, Überlebende des KZs, erwägen einen Ablehnungsvertrag gegen die Richter. Sie bemängeln, dass einigen ihrer Anwälte noch immer keine vollständige Akteneinsicht gewährt worden sei.

Ein KZ-Überlebender, Walter Plywaski, der am 15. August 1944 als 15-Jähriger mit seiner Familie in Auschwitz ankam, wollte das Gericht nicht als Nebenkläger zulassen, weil die Anklageschrift erst Transporte ab dem 16. Augst abdecke. In einem Schreiben teilte das Gericht Plywaski mit, es werde selbst keine Beweismittel hinzuziehen, überlasse es ihm aber, dies selbst zu tun.

Plywaskis Anwalt Cornelius Nestler, der auch Nebenkläger im Demjaniuk-Prozess vertrat, ist empört über dieses Ansinnen. Auch Oberstaatsanwalt Förster fragt, ob das Gericht damit den Eindruck erwecken wolle, die Aufklärung des Sachverhalts sei Sache der Überlebenden.

Das Verfahren gegen Z. kam, wie auch einige andere, erst 70 Jahre nach der Befreiung der letzten Insassen aus den Konzentrationslagern der Nazis in Gang. Täter und Opfer sind inzwischen hochbetagt und eine vollständige Aufklärung des Mordgeschehens und das Ausmaß der individuellen Beteiligung daran ist demnach kaum noch zweifelsfrei festzustellen.

Der Grund dafür liegt in der skandalösen Nachkriegsgeschichte der bundesdeutschen Justiz, die alles getan hat, um möglichst viele Täter ohne jede Strafe davonkommen zu lassen. Von rund 500.000 Tätern wurden nur 900 verurteilt. Das ist kein Wunder, wenn man sich vor Augen hält, dass fast der gesamte Justizapparat der Nazis in der Bundesrepublik weiterbestehen konnte. Nur sehr wenige der Nazi-Richter und Staatsanwälte, die für brutale Strafen und unzählige Todesurteile verantwortlich waren, verloren ihre Ämter. Die allermeisten konnten ihre Karriere unbeschadet fortsetzen.

Bereits am Jahresende 1949 hatte der frisch gewählte Bundestag ein Amnestiegesetz für minderschwere Straftaten der NS-Zeit verabschiedet. Die Mehrzahl der Akten über die NS-Vergangenheit lagen bis 1994 sicher unter Verschluss im Berlin Document Center der US-Besatzung. Darunter u. a. die NSDAP-Mitgliedskartei, die Personalakten der SS, der SA, des Reichssicherheitshauptamts, von Gestapo-Dienststellen und des Volksgerichtshofs.

Nach den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptverantwortlichen hatten in der Zeit des Kalten Kriegs weder die Bundesregierung und ihre Justiz, noch die USA ein gesteigertes Interesse daran, die Verantwortlichen aus der zweiten oder dritten Reihe vor Gericht zu stellen. Im Gegenteil, man wollte auf ihr „Expertenwissen“ in den Ministerien, Geheimdiensten, im Polizei- und Justizapparat nicht verzichten.

Als es noch genügend Beweise und Zeugen mit frischen Erinnerungen an die Untaten gab, fanden so gut wie keine Prozesse statt. Selbst für untergetauchte NS-Verbrecher wurde 1954 ein Gesetz verabschiedet, das sie amnestierte und ihnen erlaubte, wieder ihren alten Namen anzunehmen. Niemand fragte danach, weshalb sie es für nötig geachtet hatten, unterzutauchen und ihre Namen zu ändern.

Da die Verjährungsfrist für Mord in der Bundesrepublik zunächst 20 Jahre betrug, bestand 1965 die Gefahr, dass kein NS-Mörder mehr hätte verurteilt werden können, Erst nach den heftig geführten Verjährungsdebatten von 1969 und 1979 wurde die Frist zunächst um zehn Jahre verlängert und dann vollständig aufgehoben.

Dennoch galt immer noch, dass bei Mord und auch bei Beihilfe dazu die individuelle Tatbeteiligung des Angeklagten genau nachgewiesen werden musste, eine Hürde, die von Jahr zu Jahr schwerer zu überwinden war.

Selbst in den großen Auschwitzprozessen der 1960er und 70er Jahre in Frankfurt wurden zwar etliche Täter vor Gericht gestellt und verurteilt, aber da sich Zeugen oft nicht mehr so präzise an die Einzelheiten des Tathergangs erinnern konnten und andere Beweise kaum zu erbringen waren, kamen viele mit relativ geringen Strafen davon.

Erst mit dem Demjaniuk-Prozess 2010/2011 änderte sich die deutsche Rechtsprechung. Der 91-jährige ehemalige ukrainische Hilfsfreiwillige im Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen wurde wegen Beihilfe zum Mord an 28.000 Juden zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Schwurgerichtskammer war zu der Überzeugung gelangt, dass sich der Angeklagte als kriegsgefangener Rotarmist den Nazischergen freiwillig für das Vernichtungsgeschäft zur Verfügung gestellt hatte.

Erst seit diesem Urteil ging die Luwigshafener Zentralstelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen daran, die letzten noch überlebenden Täter ausfindig zu machen und Prozesse gegen sie zu ermöglichen. Der einzige, der bisher zum Abschluss kam, war der gegen den Buchhalter von Auschwitz Oskar Gröning, der im vorigen Jahr zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt und es ist noch nicht rechtskräftig.

Gegen einige weitere hochbetagte mutmaßliche NS-Täter wird noch ermittelt, bzw. untersucht, ob sie noch verhandlungsfähig sind.

Dass diese Prozesse heute noch stattfinden, ist notwendig, auch wenn es weniger darauf ankommt, die Täter, die kaum noch haftfähig sind, ins Gefängnis zu bringen. Es gilt, gerade angesichts des enormen Rechtsrucks in der gesamten deutschen Politik und der Wederbelebung des Militarismus, das Bewusstsein über die historischen Verbrechen des deutschen Imperialismus und seine Helfershelfer wachzuhalten und eine neue Generation dafür zu sensibilisieren.

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