Perspektive

Die Stimmen für Sanders in Iowa

Die Funktionäre der Demokratischen Partei haben Hillary Clinton zur Siegerin der Vorwahl der Demokraten in Iowa erklärt. Ihr Vorsprung hätte kaum knapper sein können. Die Ex-Außenministerin übertraf Senator Bernie Sanders aus Vermont gerade einmal mit 699 zu 695 Delegierten des Staates für die Parteiversammlung. Die Vergabe von zwei Delegierten steht noch aus.

Bedeutsamer war die Bekanntgabe der Gesamtzahl der Teilnehmer an der Vorwahl von 171.109, die fast gleichmäßig auf die beiden Kandidaten verteilt waren. Etwa 85.000 Wähler – ein Drittel von ihnen junge Menschen unter 30 – stimmten für Sanders, der sich selbst als „demokratischen Sozialisten“ bezeichnet. Das sind 30.000 mehr als für Ted Cruz, den erzreaktionären Sieger der Republikanischen Parteiversammlungen, stimmten. Und es sind fast doppelt so viele Stimmen, wie der hochgejubelte Milliardär Donald Trump erhielt.

Bei jungen Wählern erzielte Sanders einen riesigen Vorsprung: bei den 17 bis 29-jährigen lag er mit 86 zu elf Prozent vor Clinton. Auch bei den 30- bis 44-jährigen Demokraten lag er in Führung. Wähler mit geringem Einkommen (unter 30.000 Dollar im Jahr) unterstützten Sanders stark, so wie auch die mit einem Einkommen von 30.000 bis 50.000 Dollar. Clinton lag bei besser gestellten Haushalten und bei älteren Wählern vorn, besonders bei den über 65-jährigen, die in großer Zahl zur Wahl gingen.

Die Vor- und Nachwahlbefragungen ergaben, dass die Behauptung des Senators aus Vermont, er sei Sozialist, ein Hauptgrund dafür war, dass die Wähler ihm ihre Stimme gaben. 68 Prozent der Demokratischen Teilnehmer an der Vorwahl gaben an, dass es eine gute Idee sei, einen sozialistischen Präsidenten zu haben. 31 Prozent hielten das sogar für eine sehr gute Idee.

Die Massenunterstützung für Sanders erledigt den Mythos, der von den amerikanischen Medien ohne Unterlass verbreitet wird, die amerikanische Bevölkerung sei von Natur aus und unveränderbar mit dem Kapitalismus verheiratet. In seiner Rede vor Wahlhelfern und Freiwilligen am Montagabend in Des Moines bekräftigte Sanders erneut die Grundlage seines Wahlkampfs: seine Verurteilung von wirtschaftlicher Ungleichheit, der Kriminaltät der Wall Street und der Korrumpierung des politischen Systems der USA durch das Große Geld.

Hillary Clinton versuchte ebenfalls, wenn auch recht gequält, sich in eine populistische Pose zu werfen. Sie sagte vor ihren Anhängern am Montagabend, dass auch sie „progressiv“ sei und die Ziele ihres Konkurrenten wie allgemeine Krankenversicherung, gute Jobs und steigende Löhne teile. Ihre Differenzen beträfen lediglich Frage nach der besten Methode, um diese Ziele zu erreichen.

Die breite Unterstützung für den Wahlkampf von Sanders hat die wirtschaftsfreundlichen Medien völlig überrascht. Das ist selbst Ausdruck der tiefen Kluft zwischen dem ganzen politischen Establishment und der Masse der amerikanischen Bevölkerung. Die Kommentatoren und Experten zeigen sich verständnislos über den Hass auf die Wall Street und die Wirtschaftselite, der sich in linker Form in Sanders’ Wahlkampf und in einer rechten Form in der Unterstützung für den Milliarden schweren Immobilienmogul Donald Trump äußert. Er wundert sie umso mehr, weil es der amerikanischen Gesellschaft den Medien zufolge gut geht – besonders im Vergleich zu ihren europäischen und asiatischen Rivalen.

Dieses Unverständnis vermischt sich mit Furcht. Der langjährige politische Berater vieler Präsidenten und derzeit praktisch allgegenwärtige Medienexperte David Gergen sagte der New York Times nach der Abstimmung in Iowa: „Es fällt auf, dass der Gewinner bei den Republikanern auf der äußersten Rechten steht und dass der moralische Sieger bei den Demokraten weit links steht. Das ist ein klares Misstrauensvotum gegen die Wirtschaftsordnung.“

Die World Socialist Web Site hat ihre politischen Differenzen zu Bernie Sanders seit dem Beginn der Wahlkampagne im letzten Jahr in vielen Kommentaren klar gemacht. Sein „demokratischer Sozialismus“ ist weit weniger radikal als der Liberalismus des New Deal Franklin Roosevelts. Zudem kombiniert Sanders ihn mit offener Unterstützung für die militaristische Außenpolitik des US-Imperialismus.

Nichtsdestoweniger hat die große Unterstützung für einen selbst ernannten sozialistischen Kandidaten eine enorme historische Bedeutung – besonders in den Vereinigten Staaten, wo sozialistische Ideen seit mehr als sechzig Jahren praktisch auf dem Index stehen. Sozialisten wurden aus den Gewerkschaften vertrieben und in Hollywood in den Hexenjagden der McCarthy-Ära der 1950er Jahre verfolgt. Öffentliche Diskussionen über eine Alternative zum kapitalistischen System waren in der offiziellen Politik und den vom Großen Geld kontrollierten Medien seitdem praktisch verboten.

Fast ein halbes Jahrhundert lang sind grundlegende Klassenfragen in den USA durch eine Kombination aus aggressiver politischer Reaktion und Militarismus sowie durch eine Obsession mit Fragen der Rasse, des Geschlechts und der sexuellen Orientierung auf der offiziellen „Linken“ unterdrückt worden. Das kam mit einer immer stärker ausgeprägten Rechtswende beider großen Parteien, nicht nachlassenden Angriffen auf die soziale Lage und den Lebensstandard der Arbeiterklasse sowie der Unterdrückung von Streiks und Arbeiterkämpfen durch die Gewerkschaften zusammen, die sich in korporatistische Anhängsel der Konzerne und der Regierung verwandelt haben.

Diese Periode geht jetzt zu Ende. Die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse nimmt ständig zu, besonders seit die Wall Street die amerikanische und die Weltwirtschaft 2008 in den Abgrund riss und die folgende Krise dann dazu nutzte, sich weiter auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung zu bereichern. Die bittere Erfahrung mit der Obama-Regierung hat den Zorn und die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse und der Jugend nur noch gestärkt. Obama war mit dem Versprechen fortschrittlicher Veränderungen an die Macht gekommen, organisierte aber stattdessen die weitere beispiellose Übertragung von Reichtum von unten nach oben und weitete Militarismus und Krieg aus.

Sanders gewinnt große Unterstützung, weil er soziale Fragen aufwirft, die über die Beschäftigung mit Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlechterfragen usw. hinausgehen. Die Abstimmung in Iowa beleuchtet die Tatsache, dass die breiten Massen von Klassenfragen wie wirtschaftlicher Sicherheit und Gleichheit und nicht von engstirnigen Themen der Identitätspolitik, die nur die Interessen privilegierter Schichten des Kleinbürgertums widerspiegeln, bewegt werden.

Die Anzeichen für ein Wiederaufleben des Klassenkampfs nehmen zu. Dazu zählt auch der Widerstand von Autoarbeitern gegen schlechte Tarifverträge der Gewerkschaft UAW im letzten Jahr, die Proteste und Krankschreibungsstreiks von Lehrern in Detroit, die unabhängig von den Gewerkschaften durchgeführt wurden, und die anhaltenden Proteste gegen die Bleivergiftung des Trinkwassers im benachbarten Flint.

Gleichzeitig verliert das Zweiparteiensystem, mit dem die amerikanische herrschende Klasse mehr als 150 Jahre die politische Macht monopolisiert hat, völlig seine Legitimität. Es verliert die Kontrolle über die Bevölkerung, die sich von dem ganzen politischen System abwendet.

Die Massenunterstützung für Sanders in Iowa ist ein Ausdruck tiefer sozialer Unzufriedenheit, die die Arbeiterklasse in politischen Konflikt mit dem kapitalistischen System bringt. Der Kandidat selbst meint mit „politischer Revolution“ vielleicht nicht viel mehr, als eine höhere Wahlbeteiligung und die Mobilisierung von stärkerer Unterstützung für die Demokratische Partei, die eine der beiden Parteien der Wirtschaft ist. Es besteht aber kein Zweifel, dass viele seiner Zuhörer viel weitergehende Vorstellungen haben.

Tatsache ist, dass der Weltkapitalismus immer tiefer in der Wirtschaftskrise versinkt. Es gibt inzwischen Anzeichen für einen neuen Finanzschock, der viel schlimmer sein könnte als 2007-2008. Das Phänomen Sanders muss in diesem globalen Kontext gesehen werden. Es gibt zunehmende Anzeichen, dass die Arbeiterklasse in aller Welt mit ihren alten, überlebten Organisationen zu brechen versucht, d.h. den Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien, die zu reinen Instrumenten der herrschenden Elite zur Unterdrückung und Sabotage von Arbeiterkämpfen geworden sind.

Die anfänglichen Stadien dieser Entwicklung spülen auch pseudolinke Elemente wie Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien und Jeremy Corbyn in der britischen Labour Party hoch, die sich an diese Linksentwicklung der Arbeiterklasse hängen, um sie wieder ins Fahrwasser des krisengeschüttelten kapitalistischen Systems zurückzuzerren. Sanders ist die amerikanische Variante dieser Tendenz. Auch er arbeitet bewusst daran, die wachsende Opposition der Arbeiterklasse wieder einzufangen und im Rahmen der Demokratischen Partei zu halten, einer der ältesten kapitalistischen Parteien der Welt.

Die Linksentwicklung der Arbeiterklasse wird unvermeidlich weiter gehen, als Sanders sich das vorstellt oder will. Die objektive Logik ihrer Kämpfe wird sie in Konflikt mit beiden Parteien der Wirtschaft und dem kapitalistischen System bringen. Das muss allerdings politisch vorbereitet werden und die Form einer bewussten revolutionären Bewegung gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus annehmen.

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