Das Vermächtnis von Antonin Scalia

Antonin Scalia, Richter am Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof in den USA, wurde am 13. Februar tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden. Scalia befand sich auf einem Jagdausflug in Texas. Er starb offensichtlich eines natürlichen Todes.

Scalia personifizierte geradezu die Rechtsentwicklung des amerikanischen politischen Establishments während der letzten drei Jahrzehnte, in denen es den Rest an Loyalität gegenüber den Institutionen der bürgerlichen Demokratie aufgab und polizeistaatliche Strukturen schuf. Scalia war ein Erzreaktionär und Gangster in schwarzer Robe und dozierte in dem ihm eigenen arrogantem, zynischen und hoch aggressiven Ton.

Das politische Establishment Amerikas hat, wie nicht anders zu erwarten, Scalia unisono als Segen für die Nation gelobt, als einen, um den alle trauern sollten, ganz gleich, wo sie politisch stehen.

Präsident Obama nannte Scalia „eine herausragende Gestalt des Rechtswesens“. Ross Douthat von der New York Times lobte Scalias „Kombination aus Brillianz, Eloquenz und gutem Timing.“ Die Washington Post charakterisierte ihn als „intellektuelles Fundament des modernen konservativen Flügels des Obersten Gerichts, dessen geschmeidige und pointierte Meinungen viele Theoretiker des Rechts inspirierte und liberale Kritiker erzürnte.“ George H.W. Bush gab eine Erklärung ab, in der es hieß: „Seine Befürworter und Kritiker stimmten gleichermaßen darin überein, dass Richter Scalia zu den klügsten Verfassungsrechtlern gehörte, die je dem Supreme Court angehörten.“

Alle Präsidentschaftskandidaten des Establishments, von Donald Trump bis Bernie Sanders und Hillary Clinton, priesen Scalia als „bedeutenden Mann des Rechts.“ Trump nannte ihn „eine bemerkenswerte Person und großartigen Richter am Supreme Court, einer der Besten, die es je gab.“

Sanders, nominell „Sozialist“, nannte Scalia eine „hervorragende, farbige und meinungsfreudige Persönlichkeit des Supreme Court.“

Das ist blanker Unsinn. Während seiner gesamten Zeit als Mitglied des Supreme Court hatte Scalia mehr mit einem mittelalterlichen Inquisitor gemein als mit einem klassischen bürgerlichen Juristen, der einem Gericht vorsitzt. Scalia legte zuerst das Ergebnis fest und presste dann das Gesetz in diesen vorgegebenen Rahmen. Präzedenzfälle, geschichtliche Aspekte und Fakten ignorierte oder fälschte er im Sinne des gewünschten Ergebnisses.

Scalia wurde 1986 von Ronald Reagan ernannt, und fast alle Demokraten und Republikaner im US-Kongress stimmten der Ernennung zu. Hier einige Marksteine seiner Karriere im Supreme Court:

Die gestohlene Wahl im Jahr 2000. Im Dezember 2000 entschied der Supreme Court, die Auszählung der Stimmen in Florida zu beenden und George W. Bush zum neuen Präsidenten zu küren. Das 5:4-Votum in der Sache Bush v. Gore, bei dem die Richter im Sinne fraktioneller Interessen entschieden, war eine wichtige Station im Niedergang der amerikanischen Demokratie. „Es gibt kein allgemeines Wahlrecht“, kommentierte Scalia. Als er später auf die Entscheidung angesprochen wurde, antwortete er verärgert: „Finden Sie sich damit ab.“

Diktatur und der „Krieg gegen den Terror.“ Scalia gehörte zu den treibenden Kräften beim Einsickern faschistischer Auffassungen in die Rechtsprechung des Supreme Court. Dafür mussten Begriffe herhalten wie „unitary executive theory (uneingeschränkte Macht des Präsidenten), „Exekutivprivileg“, „Gewaltenteilung“, die Rolle des Präsidenten als „Oberster Befehlshaber“ und „Achtung“ der Exekutive. Nach diesen Auffassungen genießt der Präsident „Kriegszeit“-Vollmachten, die es ihm erlauben, sich über demokratische Rechte hinwegzusetzen, ohne dass Gerichte oder Richter dagegen einschreiten können. Der Wesenskern dieser Auffassungen ist nicht von der „Ausnahmezustand“-Theorie des Nazi-„Kronjuristen“ Carl Schmitt (1888-1985) zu unterscheiden.

Während Scalias Amtszeit im Supreme Court weigerte sich dieses Gericht, Entscheidungen untergeordneter Gerichte anzutasten, die Klagen wegen Folter, Überwachung und Mord mit der Begründung abblockten, es handele sich um „Staatsgeheimnisse“. Die Regierungen Bush und Obama beriefen sich immer wieder auf „Staatsgeheimnisse“, um Gerichtsverfahren zu verhindern, die ihre Verbrechen aufzudecken suchten. Untergeordnete Gerichte beriefen sich beispielsweise 2010 auf „Staatsgeheimnisse“, um im Fall Mohamed v. Jeppesen Dataplan, Inc. die Klage abzuweisen. Der Supreme Court bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz.

Willkürliche Verhaftungen und Folter. Scalia war dagegen, dass Guantanamo-Gefangene das Habeas-Corpus-Recht haben und ihre Inhaftierung gerichtlich überprüfen lassen können. Als der Supreme Court den Guantanamo-Häftlingen mit knapper Mehrheit eine gerichtliche Überprüfung zugestand, beschimpfte Scalia die Mehrheit als Verräter, deren Entscheidung „mit großer Sicherheit bedeutet, dass mehr Amerikaner getötet werden.“

„Die Verfassung sagt gar nichts über Folter“, sagte Scalia in einem Interview mit dem Schweizer Rundfunksender RTS im Jahr 2014. Doch der Achte Verfassungszusatz, Teil der Bill of Rights, verbietet „grausame und ungewöhnliche Bestrafung.“ Nach einer von Scalia selbst erfundenen Rechtsauffassung ist „Folter keine Bestrafung.“ In ähnlichen Kommentaren argumentierte Scalia in 2008, Folter an Terrorverdächtigen sei zulässig. Die Behauptung sei „absurd, dass man jemanden nicht etwas unter die Fingernägel treiben und ihnen nicht mit der Faust ins Gesicht schlagen kann.“

Als ihm 2014 eine Frage zur Masseninternierung von Amerikanern japanischer Abstammung während des Zweiten Weltkriegs gestellt wurde, zuckte Scalia nur herablassend mit den Schultern. „Sie machen sich etwas vor, wenn Sie glauben, dass das nicht wieder passieren kann“, und zitierte auf Latein: „Inter arma enim silent leges” (etwa: Der Krieg kennt kein Gesetz).

Die Todesstrafe, auch für Kinder und geistig Behinderte. Scalia war ein glühender Anhänger der Todesstrafe, und verteidigte sie mit Bibelzitaten. Scalia zufolge „leitet der Staat seine moralische Autorität von Gott ab… zu urteilen, auch mit dem Schwert“, eine unmissverständliche Anspielung auf die Todesstrafe. Berüchtigt ist sein Ausspruch, die Todesstrafe sei für Christen „kein großes Thema“, da sie an ein Leben nach dem Tod glauben.

In einem frühen derartigen Fall, Thompson vs. Oklahoma (1988), befürwortete Scalia die Todesstrafe für Kinder, wenn sie zum Zeitpunkt der Tat 15 Jahre alt sind. Im Fall Miller vs. Alabama (2014) sprach er sich für die Todesstrafe für 14-jährige aus. Auch befürwortete er die Todesstrafe für geistig Behinderte. Solange er Mitglied des Supreme Court war, vertrat er eine abweichende Meinung und reagierte verärgert auf alle Vorschläge, die Anwendung der Todesstrafe einzuschränken.

Seine letzte Amtshandlung als Richter des Supreme Court war die Ablehnung eines Aufschubs einer Hinrichtung. „Dieses Gericht war nie der Auffassung, dass die Verfassung die Hinrichtung eines in einem ordentlichen und fairen Prozess verurteilten Angeklagten verbietet, weil er später einen Richter überzeugen kann, dass er im Sinne von Habeas corpus ‚eigentlich‘ unschuldig ist,“ schrieb er 2009 zur Begründung seiner abweichenden Meinung im Fall Troy Davis. Damals hatte der Supreme Court mehrheitlich entschieden, dass ein Bundesgericht den Fall von Davis anhören müsse, der 2011 dann hingerichtet wurde.

Ablehnung der Trennung von Kirche und Staat. Der demokratische Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat war, glaubt man Scalia, das Ergebnis der Worte „einer Schlange zu einer Frau namens Eva.“ Dieser Grundsatz ist im ersten Satz des Ersten Verfassungszusatzes ausgeführt, der zu den Bill of Rights zählt. Scalia sprach sich für das Beten in öffentlichen Einrichtungen und für die Präsentation der Zehn Gebote und von Kreuzen auf öffentlichen Plätzen aus, „weil die große Mehrheit des amerikanischen Volkes an den Monotheismus glaubt.“ Nach einem katholischen Sondergottesdienst für Rechtsanwälte und Politiker in der Cathedral of the Holy Cross wurde er gefragt, ob er in diesen Dingen unvoreingenommen sein könne. Scalia reagierte mit einer abstoßenden Handbewegung unter dem Kinn.

Politische Korruption und Bestechung. In dem bekannten Fall Citizens United (2010) entschied der Supreme Court, Unternehmen hätten ein verfassungsmäßiges „Recht“ auf Wahlkampfspenden in unbegrenzter Höhe. Das führte zu einem explosionsartigen Ansteigen der Spenden großer Unternehmen. Scalia stimmte mit der Mehrheit und verfasste eine eigene zustimmende Stellungnahme, um nachzuweisen, dass politische Einflussnahme von Unternehmen in der amerikanischen Geschichte verankert ist.

Während einer vor dem Supreme Court anhängigen Klage gegen den damaligen Vize-Präsidenten Dick Cheney ging Scalia zusammen mit Cheney auf Entenjagd. Aufforderungen, den Fall abzugeben, lehnte er verächtlich ab und verletzte damit die juristische Ethik eklatant.

Verteidigung von Wirtschaftsinteressen und Angriffe auf Arbeiterrechte. Scalia verteidigte durchgängig die Interessen der Wirtschaft und der Finanzwelt und urteilte gegen die Rechte von Verbrauchern und Beschäftigten. In der Sache Wal-Mart v. Dukes (2011) untergrub der Supreme Court erheblich die Möglichkeit des Sammelklageverfahrens, das ein wichtiges rechtliches Mittel gegen ein Fehlverhalten von Unternehmen darstellt. In jüngerer Zeit votierte Scalia gegen Umweltschutzbestimmungen zugunsten des Klimaschutzes.

In einem Verfahren in 2014 stimmte Scalia gegen eine Nachzahlungen an Stahlarbeiter, die keinen Lohn für die erhebliche Zeit erhalten hatten, die sie für das „An- und Ausziehen“ ihrer Sicherheitskleidung aufwenden mussten. Scalia konsultierte ein Lexikon und entschied, dass die Arbeiter „sich nur umgezogen“ hätten, obwohl zur Kleidung „flammenfeste Arbeitsjacken, Hosen, Kapuzen, Schutzhelm, Kragen, Schweißbänder, Arbeitshandschuhe, Gamaschen, halbhohe Stiefel, Sicherheitsbrillen, Ohrstöpsel und Atemschutzmasken“ gehörten.

Angriffe auf Bürgerrechte, Bigotterie. 2013 stimmte Scalia mit der Mehrheit des Supreme Court, um die Durchsetzungsvorschriften des Voting Rights Act zu schleifen. Der Voting Rights Act war ein wichtiges Reformgesetz, das die Bürgerrechtsbewegung erstritt. Scalia sprach für einen Teil des amerikanischen politischen Establishments, der die Reformen aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung nie wirklich akzeptiert hat.

Erst im Dezember 2015 wetterte Scalia, dass schwarze Studenten in „weniger anspruchsvollen“ Schulen mit „geringeren Anforderungen“ besser aufgehoben wären. „Manche Leute sagen, dass es Afro-Amerikanern nicht gut tut, die Universität von Texas zu besuchen, wo sie nicht besonders erfolgreich sind, und dass sie stattdessen weniger anspruchsvolle Schulen mit geringeren Anforderungen besuchen sollten, wo sie gute Leistungen bringen“, sagte Scalia. Er behauptete, dass „die meisten schwarzen Wissenschaftler in diesem Land… aus weniger bedeutenden Schulen (kommen)“, wo man sie nicht „in Kursen gefordert hat, wo sie nicht mithalten können.“ Dieses Argument, das eine rassische Unterlegenheit der Schwarzen impliziert, ließe sich zugunsten einer erneuten Rassentrennung an Schulen verwenden.

Als der Supreme Court in der Sache Lawrence v. Texas (2003) das texanische Verbot von Homosexualität aufhob, schnaubte Scalia, die Entscheidung „schadet der bestehenden Gesellschaftsordnung enorm“. Er griff die Mehrheit an, weil sie „sich zur so genannten homosexuellen Agenda bekannt hat.“ Scalia wich auch vom Urteil des Supreme Court in 2015 ab, das die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Ehen bestätigte.

Immunität für Mord von Polizisten. Scalia gehörte zu den entschiedensten Befürwortern der autoritären Doktrin der „qualifizierten Immunität“, die Polizeibeamte davor schützt, für Fehlverhalten rechtlich belangt zu werden. Im letzten Jahr lieferte er ein Beispiel seiner „glänzenden“ juristischen Methode. Ein texanischer Polizist, der auf einen Mann in einem fahrenden Auto schoss und ihn dabei tötete, habe keine „tödliche Gewalt“ angewandt, weil er auf ein Auto und nicht auf eine Person geschossen habe.

Die zentrale Rolle, die Scalia im politischen Establishment Amerikas über drei Jahrzehnte lang spielte, zeigt sich an der scharfen Krise, die nur wenige Stunden nach seinem Tod offen wurde. Prominente Republikanische Senatoren wie Ted Cruz, Mitch McConnell und Marco Rubio preschten nach vorn und erklärten, dass vor den Präsidentschaftswahlen im November 2016 kein Nachfolger ernannt werden dürfe. Dagegen äußerte Obama, dass dies bereits innerhalb der nächsten Wochen geschehen werde, und Sanders und Clinton stellten sich auf seine Seite.

Doch die einmütigen Achtungsbezeugungen für Scalias „hervorragende Fähigkeiten als Jurist“ seitens des gesamten politischen und Medienestablishments sind von großer Bedeutung. Sie zeigen, dass es in den herrschenden Kreisen Amerikas keinerlei Unterstützung mehr für Demokratie und demokratische Rechte gibt. Trotz scharfer interner Auseinandersetzungen stehen sie gemeinsam für drei Jahrzehnte sozialer und politischer Reaktion, die letzten 15 Jahre davon im permanenten Kriegszustand.

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