Die 66. Internationalen Filmfestspiele Berlin

Flucht und Vertreibung – gestern und heute

Teil 4

„Es gibt wenige Stoffe in der Welt, die Weltstoffe sind. Anne Frank ist jemand, über die man mit einem Moslem sprechen kann, und der weiß Bescheid. Oder mit Leuten aus Afrika, auch die kennen Anne Frank“, so Hans Steinbichler über seine sehenswerte Kinoversion von Das Tagebuch der Anne Frank. Das Buch erschien 1950 zum ersten Mal in deutscher Sprache und hat seitdem Generationen bewegt. Knapp über 70 Jahre nach dem Tod des jüdischen Flüchtlingsmädchens sind erneut weltweit Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Zukunftslosigkeit. Über perspektivlos in Deutschland gestrandete Kriegsflüchtlinge berichtet der zweite sehenswerte Film Meteorstraße von Aline Fischer.

Das Tagebuch der Anne Frank

Das Tagebuch der Anne Frank ist eins der bekanntesten und ergreifendsten Zeugnisse über das Leben unter dem Naziregime. Zusammen mit den Eltern Otto Frank (Ulrich Noethen), Mutter Edith (Martina Gedeck) und Schwester Margot (Stella Kunkat) flüchtet das jüdische Mädchen Anne Frank (Lea van Acken) 1933 aus Frankfurt/Main vor den Nazis in die Niederlande. In Amsterdam nicht mehr sicher, versteckt man sich 1942 im Hinterhaus in einem ungenutzten Teil des Unternehmens von Otto Frank.

Zwei Familien und ein jüdischer Zahnarzt aus Berlin, insgesamt acht Personen, leben beengt auf 50 Quadratmetern über zwei Jahre, bis durch Verrat das Versteck im August 1944 entdeckt wird. Nur Annas Vater Otto überlebte das KZ und sorgte für die Veröffentlichung der Tagebücher. Das Tagebuch der Anne Frank wurde 2009 in das Memory of world der UNESCO aufgenommen.

Der Stoff ist für das Theater bearbeitet und mehrmals verfilmt worden. Es gibt auch eine Oper. Hans Steinbichlers berührende Neuverfilmung ist sehr unmittelbar auf die alles dominierende Enge gerichtet: Ewig abgedunkelte Fenster, kaum Privatsphäre, selten etwas wie Entspannung. Immer ist die unterschwellige Angst, Arbeiter in der unteren Etage könnten etwas bemerken. Nur in deren Mittagspause, Nachts und am Wochenende kann man sich frei bewegen, normal sprechen. Sogar die Toilettenbenutzung ist stark reglementiert, wegen der Spülgeräusche. Einziger Kontakt nach außen sind ein Radio und die engen Mitarbeiter, die unter Gefahren die täglichen Lebensmittel besorgen. Die Atmosphäre wird mit der Zeit gereizter, man beginnt über Lappalien zu streiten und weniger vorsichtig zu sein.

Lea van Acken spielt sehr überzeugend Anna, ein junges Mädchen in der Pubertät, für das jede Form von eingesperrt sein unerträglich ist. Sie wehrt sich gegen Regeln, rigoros auch gegen geistige Enge. Alles in ihr ist auf Leben, auf Zukunft ausgerichtet. Sie verachtet die Mutter wegen ihrer Duldsamkeit, Frau von Daan (Margarita Broich) für ihre Beschränktheit und verteidigt hartnäckig ihre Schreibarbeit, je klarer sich Anna darüber wird, dass das Tagebuch mehr ist als nur Zeitvertreib. Das sensible Spiel der Schauspielerin hebt das Zerbrechliche, Zweifelnde und Unnachgiebige von Anna hervor. Gerade ihre Widersprüche lassen ihr Potential ahnen. Umso brutaler ist das Ende, wenn Anne mit geschorenem Kopf in die Kamera blickt.

Es ist gut, dass der Film darauf hinweist, dass erst der an der Kleidung zu tragende Judenstern die Menschen zu Juden machte, die sich ansonsten in nichts von anderen Deutschen unterschieden. Nur der Stern auf den Kleidungsstücken am Strand veranlasst eine Horde niederländischer Jung-Nazis, die im Meer badenden Mädchen zum Verlassen des Wassers zu zwingen.

In der Familie Frank spielt jüdische Tradition eine sehr untergeordnete Rolle. Zu Geburtstagen wird der populäre deutsche Kanon „Viel Glück und viel Segen“ angestimmt. Anna ging auf eine Montessori-Schule, bis die Nazis es verboten. Als deutscher Patriot kämpfte Otto Frank im Ersten Weltkrieg. Als sich bei der Verhaftung herausstellt, dass der Jude, der vor dem SS-Mann steht, ein ehemaliger deutscher Offizier ist, der für sein Vaterland kämpfte, ist dieser irritiert, zeigt sogar so etwas wie Respekt.

Die Verhaftung hat makabrer Weise für einen kurzen Augenblick auch etwas Befreiendes, von der unerträglichen, menschenunwürdigen Situation. Einer der Nazis kann nicht glauben, dass die Familien über zwei Jahre in dem Versteck lebten. Vom Sonnenlicht geblendet treten sie nach dieser langen Zeit das erste Mal auf die Straße, um sich kurze Zeit später in einem dunklen LKW wiederzufinden, zur Deportation.

Die Aktualität des Films liegt auf der Hand und ist wohl auch beabsichtigt. Walid Nakschbandi, einer der Produzenten, ist ein in Afghanistan geborenes Flüchtlingskind. Die Eltern schickten ihn und seine Geschwister Anfang der 80er Jahre nach Deutschland für eine bessere Zukunft. Eine deutsche Lehrerin empfahl dem damals etwa 14-jährigen Walid Das Tagebuch der Anne Frank zum besseren Lernen der deutschen Sprache. Vor dem jetzige Film produzierte er für das Fernsehen das Doku-Drama Meine Tochter Anne Frank (Regie: Raymond Ley) über Otto Frank.

In diesem Januar, anlässlich des Holocaust-Gedenktages, verglich Eva Schloss, die in London lebende Stiefschwester Anne Franks, die aktuelle Situation syrischer Flüchtlinge öffentlich mit ihrer eigenen in der Nazizeit. Die Auschwitz-Überlebende erklärte, sie sei schockiert, dass so viele Länder ihre Grenzen schließen. „Weniger Menschen wären im Holocaust gestorben, wenn die Welt mehr jüdische Flüchtlinge aufgenommen hätte.“ Eva Schloss äußerte, Anne Frank und ihre Familie wären vermutlich nicht ermordet worden, wenn die USA damals die Einreise bewilligt hätte, um die sich Otto Frank 1940 verzweifelt bemühte.

Dies war bisher kaum bekannt und fand wohl deshalb keinen Eingang in den Film. Erst vor einigen Jahren stellte sich auch heraus, dass der Gestapo-Beamte Karl Josef Silberbauer, der die Familie Frank verhaftete, nach Kriegsende in seinem geheimen Fachgebiet weiterarbeiten konnte. Nun unter demokratischer Flagge. Er arbeitete für den berüchtigten, im Wesentlichen von den USA aufgebauten Vorläufer des westdeutschen Geheimdienstes, die Organisation Gehlen, später direkt für den BND. Bei Gehlen, einem alten Nazi, wurden viele ehemalige Nazigrößen, die nicht selten in Kriegsverbrechen verwickelt waren, in Dienst genommen, weil die West-Alliierten neben dem Spezialwissen deren Antikommunismus schätzten.

Kaum jemand wurde zur Verantwortung gezogen. Auch ein gegen Silberbauer eingeleitetes Verfahren wurde 1964 eingestellt, weil der SS-Mann auf Befehl gehandelt hatte. Er starb unbeschadet 1972 in Wien. Wie dem Buch Enttarntvon Peter-Ferdinand Koch zu entnehmen ist, arbeitete auch Silberbauers Chef in Amsterdam, Wilhelm H., nach dem Krieg für den BND. Zuletzt war der Jurist Oberregierungsrat im bayerischen Innenministerium.

Meteorstraße

Der deutsche Spielfilm Meteorstraße von Aline Fischer könnte die Fortsetzung von Fuocoammaresein. Es geht um palästinensische Flüchtlinge, die dem Libanonkrieg entkommen sind und es um 2006 bis nach Berlin schafften. Heute ist Mohammed (Hussein Eliraqui) 18 Jahre alt, wohnt in der Meteorstraße am Flughafen Tegel. Die Eltern wurden inzwischen abgeschoben. Nur er und sein älterer Bruder Lakhdar (Oktay Inanç Özdemir) bekamen eine ständige Aufenthaltserlaubnis.

Mohammed fühlt sich zu den deutschen Motorradrockern hingezogen, die auf schweren Maschinen zur Werkstatt kommen, wo er primitive Hilfsarbeiten erledigt. Sie befindet sich im Aufbau und der deutsche Chef lässt ihn mehr aus Gutmütigkeit arbeiten. Wie die anderen deutschen Kollegen weiß er, dass Mohammed im Krieg Schreckliches erlebt haben muss. Zwei von ihnen haben Fremdenlegionserfahrungen. Heute würden sie nur noch für das „eigene Blut“ kämpfen.

Der Regisseurin gelingt die Darstellung völliger Perspektivlosigkeit ohne jede Sentimentalität, durch genaue Beobachtung. Solange Mohammed Hoffnung hat, aus der Schwarzarbeit könnte eine Azubi-Stelle werden, kann er sich dem älteren Bruder widersetzen. Doch wird die Werkstatt je eröffnet werden? Einmal äußert sein Chef, der ihn zu fördern versucht, eigentlich würde er selbst am liebsten alles hinschmeißen. Je ungewisser die Aussicht, umso schwerer fällt es Mohammed, sich um ein normales Leben zu bemühen. Der Bruder attackiert ihn, Mohammed besitze keinen Stolz und lasse sich ausbeuten. Schließlich verlässt Mohammed die Widerstandskraft.

Zusammen brechen sie in die Werkstatt ein. Der Kassenraub ist das Ende der Werkstatt, die Kollegen verlieren ihren wackligen Arbeitsplatz. Ohne dass man ihm den Einbruch eindeutig nachweisen kann, wird Mohammed zusammengeschlagen. Die ehemaligen Legionäre erinnern sich plötzlich der „hinterlistigen Araber“ aus dem Krieg und dass nur das eigene Überleben zählt.

Interessant ist der kurze Hinweis auf soziale Ungleichheit innerhalb der islamischen Gemeinde. Mohammed ist religiös. Doch niedergedrückt und hungrig vor der Moschee liegend, weist ihn der islamische Geistliche mit phrasenhaften Worten ab. Der Film verleitet nicht zu voreiligen Schlüssen einer zwingend notwendigen Rechtsentwicklung. Starke soziale Brüche bedeuten auch Brüche in der Tradition. Entscheidend ist die Perspektive.

So provoziert Lakhdar manchmal mit der Tradition, fragt Mohammed, was er für die Familie opfern würde. Er liebt War-Games und scheint auch ein oberflächlicher Sympathisant der Hamas zu sein. Für Mohammed kann der haltlose Lakhdar, unfähig ein normales Leben zu führen, nicht wirklich eine traditionelle Autorität als Familienoberhaupt sein. Als dieser ihn zwingt, als „Opfer“ sein Motorrad zu versenken, wächst Mohammeds innerer Widerstand. Er flüchtet, als sich die Möglichkeit bietet, aus der Enge – in eine andere. Ohne jede soziale Chance kehrt er dorthin zurück, woher er kam. Nicht in den Libanon, aber in den Krieg. Nicht als fanatischer Glaubenskrieger sondern als Söldner der Fremdenlegion.

Die existenzbedrohende Enge wird auch ästhetisch gut umgesetzt. Die Kamera zeigt stets ein begrenztes Umfeld, ob in der Wohnung oder der Werkstatt. Immer wieder kommen startende Flugzeuge ins Bild. Die Brüder wohnen unmittelbar an der Landebahn. Nachts wirkt sie wirklich wie eine „Meteorstraße“. Ihnen bleibt nur die hässliche Rückseite dieser Freiheitskulisse, ohrenbetäubender, nie endender Lärm, Tag und Nacht.

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