Perspektive

Die Anschläge von Brüssel: Warum die Zusammenhänge nicht erkannt werden

Die jüngsten Terroranschläge in Belgien, bei denen mindestens 31 Menschen getötet und dreihundert verletzt wurden, stehen in einer Reihe zahlreicher ähnlich spektakulärer Attentate der letzten fünfzehn Jahre, seit Beginn des „Kriegs gegen den Terror“.

Jeder dieser Zwischenfälle folgt einem ähnlichen Schema: Die Angreifer sind den Sicherheitsbehörden bekannt und haben entweder schon in den Operationen im Nahen Osten oder in Eurasien gekämpft, wo die Westmächte versuchen, die dortigen Regimes zu destabilisieren oder abzulösen, oder sie stehen kurz davor, als Kämpfer aktiv zu werden. Nach jedem Anschlag rechtfertigen die Sicherheitsbehörden ihre Unfähigkeit, aufgrund der ihnen vorliegenden Informationen zu handeln, mit der Behauptung, sie hätten „die Zusammenhänge nicht erkannt“. Am Ende wird trotz unglaublichen Versagens der Sicherheitsdienste kein einziger Beamter gefeuert oder sonst wie zur Rechenschaft gezogen.

In früheren Fällen, beim 11. September 2001, dem Anschlag auf den Bostoner Marathon, dem mörderischen Überfall auf Charlie Hebdo und den Anschlägen vom November 2015 in Paris, dauerte es Monate, wenn nicht Jahre, bis das Ausmaß der Informationen, die den staatlichen Behörden frühzeitig vorlagen, bekannt wurde. So war es möglich, dass diese Tatsachen von den Medien sorgfältig verschleiert und als „Verschwörungstheorien“ abgetan werden konnten.

Anders in Brüssel. Hier dringt mit beispielloser Geschwindigkeit an die Öffentlichkeit, wie viel der Staat schon vorher wusste, ehe die Taten zur Ausführung kamen.

Wie schon am Mittwoch die israelische Tageszeitung Ha’aretz enthüllte, besaß der belgische Geheimdienst genaue Informationen darüber, wann die Anschläge stattfinden würden und was die Ziele sein sollten.

Am nächsten Tag erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, dass einer der Flughafen-Attentäter, Ibrahim el-Bakraoui, schon zweimal von der Türkei an die Niederlande überstellt worden sei, nachdem er versucht habe, nach Syrien zu gelangen. Man habe die belgischen Behörden darauf hingewiesen, dass er mit islamistischen Milizen in Verbindung stehe. Von Ibrahims Bruder Khaled, einem der Attentäter an der U-Bahn-Station Maelbeek, war bekannt, dass er bei den Anschlägen vom November in Paris dabei war. Gegen ihn bestand ein internationaler Haftbefehl.

Diese Enthüllungen haben die belgische Regierung in eine Krise gestürzt. Innenminister Jan Jambon und Justizminister Koen Geens boten ihren Rücktritt an, aber Ministerpräsident Charles Michel lehnte dies ab.

Wie ist es zu erklären, dass diese Anschläge nicht verhindert wurden?

Fakt ist, dass diese Angreifer sich aus einem breiten Pool aktiver Kämpfer der Kriege im Irak, in Syrien und anderen Ländern rekrutieren. Sie werden mit Unterstützung der Nato und der Geheimdienste der USA und Europas finanziert.

Die New York Times bestätigte gestern in einem Artikel, dass das französisch-belgische Netzwerk Teil einer breiteren Bewegung europäischer Kämpfer in Syrien und im Irak sei, die nach Schätzungen von Sicherheitsdiensten 4000 bis 6000 Personen umfasse. In diesem Artikel heißt es weiter, es sei „nicht klar, wie viele von ihnen nach Europa zurückkehrt sind. Einige Sprecher schätzen die Zahl auf etwa zehn Prozent, andere halten das für übertrieben.“

Wie hoch immer die genaue Zahl liegen mag, klar ist, dass die Attentäter vom 22. März, vom 23. November und bei Charlie Hebdo zu einer größeren Personengruppe gehören, die die Möglichkeit hatten, ungehindert in den Nahen Osten auszureisen und aus dem Nahen Osten wieder einzureisen. Aus der Leichtigkeit, mit der diese Kämpfer Landesgrenzen überschreiten und Operationen durchführen, muss man die Schlussfolgerung ziehen, dass die Grenzbehörden Anweisung haben, ihnen keine Steine in den Weg zu legen. Sie arbeiten offenbar unter offiziellem Schutz.

Anschläge wie die in Brüssel entspringen nicht einem „Versagen der Geheimdienste“, sondern sind das zwangsläufige Ergebnis einer tiefen Integration und institutionellen Verbindung zwischen Terrornetzwerken und den Geheimdiensten Europas und der Vereinigten Staaten.

Würden sie durch die üblichen Sicherheitsvorkehrungen daran gehindert, Grenzen zu überschreiten, dann hätte das negative Folgen für die Kriege, die sie im Nahen Osten führen. Das würde die ganze Strategie der Obama-Regierung und ihrer europäischen Verbündeten gefährden, die darin besteht, statt eigener Bodentruppen islamistische Stellvertreterkräfte einzusetzen, die mit al-Qaida und dem IS in Verbindung stehen.

Anschläge wie in Brüssel sind entweder Racheakte jener al-Qaida-, bzw. IS-Kämpfer, die darüber verbittert sind, dass die USA und die europäischen Regierungen ihre Versprechen, Assad zu stürzen, nicht gehalten haben. Oder die Terroranschläge in westlichen Ländern sind Nebeneffekte, die einem Teil des Staatsapparats gar nicht unwillkommen sind, da sich damit die Aufrüstung nach außen oder innen rechtfertigen lässt. Oder es ist eine Kombination aus beidem.

Bezeichnenderweise erfolgten die Anschläge von Brüssel kaum zwei Wochen nach einem ausführlichen Interview des Atlantic mit US-Präsident Barack Obama, in dem er seine Entscheidung verteidigte, nicht alle notwendigen Mittel einzusetzen, um die Assad-Regierung zu stürzen, was viele gefordert hatten. Führende Mediengrößen, wie die New York Times-Kolumnisten Thomas Friedman und Roger Cohen, nutzen die Ereignisse in Brüssel bereits, um eine aggressivere US-Intervention in Syrien zu fordern.

Was immer die besonderen Umstände und konkreten Motive sein mögen, die wirkliche Ursache für die Anschläge, ob in Brüssel, Paris oder anderswo, sind die Kriege der imperialistischen Mächte, die sie in Libyen und Syrien führen und mit denen sie versuchen, den Nahen Osten zu destabilisieren und zu beherrschen.

Diese brutalen und kriminellen Kriege, die Hunderttausende das Leben kosten und Millionen entwurzeln, haben jetzt auch für die Bevölkerung Europas tödliche Folgen. Schreckliche Taten wie die in Belgien hören erst auf, wenn die Kriege aufhören.

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