Eine moderne Antigone

Son of Saul von László Nemes

Regie: László Nemes. Drehbuch: Nemes und Clara Royer, nach dem Buch von Bernard (Ber) Mark: The Scrolls of Auschwitz (1)und nach Augenzeugenberichten von Häftlingen

Der Debütfilm des ungarischen Filmregisseurs László Nemes Son of Saul, derzeit in deutschen Kinos als Originalfilm mit Untertiteln gezeigt, behandelt beinahe unvorstellbaren Horror: eineinhalb Tage des Lebens eines Mitglieds des Sonderkommandos in Auschwitz II-Birkenau, einer Einheit von Häftlingen, die zur Arbeit an den Gaskammern eingesetzt wurden. Mehr als eine Million Menschen wurden in Auschwitz in den Jahren 1942 bis 1944 ermordet. 90 Prozent von ihnen waren Juden, die aus dem von den Nazis besetzten Europa in dieses Konzentrationslager deportiert wurden.

Henryk Mandelbaum (2), der letzte Überlebende des Sonderkommandos, der 2008 starb, nannte die Mitglieder dieser Einheit „lebende Leichen“. Die durchschnittliche Überlebenszeit in dieser Funktion betrug zwei bis vier Monate. Ständig mit dem Tode bedroht, benutzten die Nazis solche Häftlinge, um die Menschen in die Gaskammern zu führen und die Leichen zu verbrennen.

Die meisten Sonderkommando-Mitglieder in der Todeszone Auschwitz-Birkenau waren Juden. Dieser Aspekt diente dem teuflischen Plan der Nazis, einen Teil der Opfer für den Holocaust mitverantwortlich zu machen. Anderen KZ-Häftlingen galten sie als Verräter. Nur etwa 200 von ihnen überlebten den Krieg.

Zu ihren Aufgaben gehörten, den Opfern die Goldzähne zu ziehen, Schmuck und andere Wertgegenstände zu entwenden, das Haar abzuschneiden und die Gaskammern zu desinfizieren. Nach dem Verbrennen der Leichen mussten sie die Asche in den nahegelegenen Fluss Weichsel schaufeln. Sie wurden von den übrigen Häftlingen isoliert, um eine Panik zu vermeiden, und erhielten mehr Essen als alle anderen. Allerdings hatten sie kaum Zeit zu schlafen und mussten pausenlos, mit mörderischem Tempo arbeiten. Viele hielten dies nicht durch, erlitten Nervenzusammenbrüche oder begingen Selbstmord. Bevor sie die Nazis am Ende als „Geheimnisträger“ erschossen, ließen sie sie noch die Spuren der Verbrechen beseitigen.

Nemes‘ Film beschreibt die Ereignisse vom 7. Oktober 1944, als einer der größten Aufstände des Sonderkommandos stattfand. Rund 450 von 663 Häftlingen der Sondereinheiten beteiligten sich an der Revolte. Ausgelöst durch die Nachricht, dass sie zur Vernichtung vorgesehen waren, attackierten sie die SS und die Kapos mit zwei Maschinengewehren, Äxten, Messern und Granaten. Es gelang ihnen, drei deutsche Soldaten zu töten und zwölf zu verwunden, sowie das Krematorium IV in die Luft zu jagen. Die Rebellion wurde jedoch schnell durch die SS unterdrückt.

Alle Aufständischen fanden den Tod. Diejenigen, die zum nahegelegenen Dorf Rajsko fliehen konnten, wurden in einer Scheune umzingelt und mit Granaten verbrannt. Fünf junge jüdische Frauen, die für die Rüstungsfabrik Weichsel-Union-Metallwerke auf dem Gelände von Auschwitz arbeiteten und Munition für die Aufständischen herausgeschmuggelt hatten, wurden später gehenkt.

Anders als frühere Filme, beispielsweise Die Grauzonevon Tim Blake Nelson, die das Verhalten der Mitglieder des Sonderkommandos als „schändlich“ brandmarkten, ist Son of Saul ein ernsthafter Versuch, die komplizierten Verhältnisse im KZ und in den Beziehungen zwischen Opfern und Unterdrückern aufzuzeigen.

Saul (Géza Röhrig) ist ein ungarischer Jude, der – gedemütigt und paralysiert angesichts der Hölle des Massenmords – wie betäubt mit den Nazis zusammenarbeitet um zu überleben. Als ein Transport aus Ungarn eintrifft, sieht er, wie ein Junge, der die Gaskammer überlebt hat, vom Kommandeur eigenhändig ermordet wird, und glaubt, dies könne sein eigener unehelicher Sohn sein. Er beschließt, den Körper des Jungen zu entwenden, um ihm ein ordentliches Begräbnis zu verschaffen.

Die im Film dargestellte Realität ist von präziser Brutalität und historischer Genauigkeit. Der Kameramann Mátyás Erdély nutzt eine Technik ähnlich derjenigen in den Filmen der belgischen Gebrüder Dardenne. Die Kamera folgt der Hauptfigur aus nächster Nähe und erlaubt dem Zuschauer bewusst nur ein enges Gesichtsfeld, um einen Blick in die unmittelbare Umgebung zu werfen. Wir können fast den Staub auf Sauls Körper riechen, seine Qualen fühlen. Schreie und Stöhnen in Jiddisch, Ungarisch, Polnisch, Russisch und Deutsch ersetzen den Soundtrack und ergänzen den bildhaften Realismus.

Trotz des verschwommenen Hintergrunds nehmen wir jederzeit wahr, was stattfindet. Gerade die fehlenden Details sind es, die uns den Horror besonders schmerzlich empfinden lassen. Und dann gibt es solche Szenen, in denen auf subtile Weise eine schreckliche Erkenntnis vermittelt wird: So zum Beispiel, wenn die Häftlinge Berge von Schutt und Asche in den Fluss schaufeln und wir plötzlich realisieren, dass diese aus menschlichen Überresten bestehen.

Die jüdische Religion verbietet das Kremieren der Toten und betrachtet dies als Sünde. Der tote Körper muss in einen Tallit, ein speziell verziertes und mit geknoteten Wollfäden versehene Tuch gehüllt und schnellstmöglich nach dem Tod begraben werden.

Wie in der griechischen Tragödie Antigone von Sophokles, in der Antigone einem Verbot des Tyrannen Kreon trotzt und ihren toten Bruder, den Aufrührer Polyneikes, nach den Regeln der Götter begräbt, so trotzt auch Saul den brutalen Gesetzen des Nazi-Regimes, um humane und in seinen Augen göttliche Regeln zu verteidigen. Er kennt die Lagerregeln und die Konsequenzen – sein „Verbrechen“ begeht er bewusst und freiwillig. Bis zuletzt bleibt Saul unberührt und indifferent gegenüber der KZ-Leitung, die ihn vernichten wird. Er ergibt sich in sein Schicksal, ihm bleibt nichts anderes übrig als zu sterben.

Saul stirbt, aber für die Menschheit ist nicht alles verloren. Wir wissen, dass das Nazi-Regime genauso wie das Reich des Königs von Theben in der griechischen Mythologie letztlich zusammengebrochen ist.

In Son of Saul gelingt dem Regisseur etwas Ungewöhnliches für einen modernen Künstler: eine kunstvolle Wiederbelebung der Prinzipien und Themen eines antiken Dramas, um das Wesen einer menschlichen Katastrophe herauszuarbeiten. Der Zuschauer mag die kompromisslosen religiösen Werte, für die Saul einsteht, in Frage stellen. Aber sein Zusammenstoß mit den Autoritäten des Lagerregimes hat fraglos eine große Bedeutung für die heutige Zeit, in der die Menschen immer stärker die riesige Kluft zwischen ihrem Gefühl von Gerechtigkeit und den Taten der Herrscher und Regierenden in der Welt wahrnehmen.

Saul versucht, eine alte und zerstörte Ordnung zu verteidigen, die nur noch ein irrealer Schein ist. Er sucht verzweifelt nach einem Rabbiner in einer Welt, in der solche individuellen Funktionen längst ausgelöscht sind. Er will das Nicht-Existente mit dem Existenten verbinden. Die Achtung, die Saul dem Körper des toten Jungen bezeugt, der sein eigener Sohn sein könnte, wird zum Symbol für die universelle Achtung all jener, die ermordet und entgegen ihrer Religion im Inferno des Krematoriums verbrannt wurden. Der Diebstahl des toten Jungen wird zum Akt der Vergeltung: Die Vernichtung der Juden kann nicht vollendet werden, solange noch etwas von ihnen übrig bleibt, selbst wenn es nur in einem Grab sein sollte.

In Nemes‘ Film gibt es wenig Platz für Subjektivität oder besonderes Interesse an Sauls individueller Persönlichkeit. Dieser Mann ist ein allgemeines „Selbst“ und repräsentiert eine Gruppe Menschen, die von höheren Gewalten, unabhängig von ihnen, eingeschlossen sind. Er gleicht einem Schauspieler auf einer Bühne, auf der er nicht nur den Autoritäten des Lagers gegenüber tritt, sondern auch dem Chor der Widerstandsbewegung des Lagers, der ihn anklagt, „die Lebenden für die Toten zu verraten“. Einer dieser Widerstandskämpfer, ein sowjetischer Soldat, gibt ihm sogar einen Tritt in die Magengrube.

In Sauls Entschlossenheit gibt es etwas Verbissenes, fast Psychotisches. Er gefährdet damit sein eigenes Leben – und auch das Leben anderer, um seine „Pflicht“ zu erfüllen. Hat er nicht wegen seiner Obsession mit dem toten Jungen sogar das Munitionspäckchen verloren? Wäre nicht der Aufstand sonst erfolgreicher gewesen?

Es ist vielleicht schwierig, sich mit dem kalten, roboterhaften, halbtoten Saul zu identifizieren. Aber man kann ihn auch nicht verurteilen. Sein Gesicht, obwohl zuweilen raubtierhaft und lauernd, erregt manchmal sogar Mitleid. Sein Zustand bringt etwas Größeres, Umfassenderes zum Ausdruck als sein eigenes individuelles Schicksal: das Elend von Menschen, die gezwungen sind, gegen ihren Willen für ein System zu arbeiten, das sie nicht geschaffen haben, nur um zu überleben.

Auch wenn der Film begrenzt ist, weil er diesen Konflikt hauptsächlich auf der ethischen Ebene belässt und die historischen Wurzeln des beschriebenen Horrors nicht erwähnt, ist Son of Saul ein wertvolles künstlerisches Werk. Es ist sehr wichtig, dass dieser Film ein weltweites Kinopublikum findet. In vielen Ländern erhalten wieder faschistische politische Gruppierungen Auftrieb und werden offiziell gefördert. Einige europäische Regierungen gehen mit Nazi-Methoden gegen Flüchtlinge vor, entwenden ihre Wertgegenstände und Ersparnisse und pferchen sie in Internierungslager.

Anmerkungen

1) Bernard (Ber) Mark: The Scrolls of Auschwitz,aus dem Hebräischen von Sharon Neemani ins Englische übersetzt, Tel Aviv: Am Oved, 1985.

Es gibt keine deutsche Übersetzung. Allerdings bietet das Museum Auschwitz-Birkenau in Oświęcim/Polen eine deutsche Veröffentlichung der Handschriften von Sonderkommando-Mitgliedern, die nach dem Krieg unter dem Schutt der Gaskammern von Auschwitz-Birkenau gefunden wurden. Sie kann hier bestellt werden: http://auschwitz.org/en/bookstoreproducts/product/inmitten-des-grauenvollen-verbrechens-handschriften-von-mitgliedern-des-sonderkommandos,14.html#2

Andere deutsche Veröffentlichungen nehmen auf diese Handschriften Bezug, u.a.: Gideon Greif, Wir weinten tränenlos … Augenzeugenberichte der jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz, Köln/Weimar/Wien 1995, S. XV-XLII; Werner Renz: Dossier zum 50. Jahrestag des Aufstandes des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau am 7. Oktober 1944, Frankfurt a.M. 1994, Fritz-Bauer-Institut; Andreas Kilian: Der „Sonderkommando-Aufstand“ in Auschwitz-Birkenau. Neueste Forschungsergebnisse, 2004; Eric Friedler, Andreas Kilian, Barbara Siebert: Zeugen aus der Todeszone: Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz, 2005.

2) Henryk Mandelbaum und weitere Überlebende des Sonderkommandos wurden für den Film „Sklaven der Gaskammer“ interviewt.

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