Gerichtsprozess zur Duisburger Loveparade geplatzt

Der Prozess gegen die Verantwortlichen der Loveparade-Katastrophe wird nicht stattfinden. Nach zweijähriger Prüfung der Anklage gegen sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg und vier Beschuldigte des Veranstalters hat das Duisburger Landgericht entschieden, die Anklage abzulehnen. Dies ist ein erneuter Schlag ins Gesicht der Angehörigen der 21 Toten, mindestens 652 zum Teil schwer Verletzten und zigtausenden Menschen, die wegen der Umstände der Katastrophe und der unterbliebenen Aufklärung empört sind.

Zur Begründung für die Einstellung des Verfahrens erklärte das Gericht, es bestehe „kein hinreichender Tatverdacht“. In der Erklärung heißt es weiter: „Die Vorwürfe der Anklage können mit den vorgelegten Beweismitteln nicht bewiesen werden.“ Eine Verurteilung der Angeklagten sei „deshalb nicht zu erwarten“.

In ihrer Erklärung verweist die Kammer insbesondere auf das Gutachten des britischen Panikforschers Prof. Keith Still. Dieses sei „nicht verwertbar“, weil es „gravierende inhaltliche und methodische Mängel“ aufweise. Nach Ansicht der Richter sei Still beispielsweise widersprüchlich in seinen Zahlenangaben. Er verwende sogar Zahlen des Veranstalters Lopavent, von denen er selbst behaupte, sie seien manipuliert. Zudem verfüge Still über mangelhafte Kenntnisse des deutschen Rechts. Die „Vorhersehbarkeit“ einer Katastrophe sei keine Grundlage für eine Verurteilung.

In einem weiteren Punkt wirft die Kammer dem Gutachter vor, er habe„vor allem die Auswahl der Tatsachen auf örtliche Gegebenheiten beschränkt“. Weiter heißt es: „Sämtliche anderen Unglücksursachen, vor allem Handlungen am Tag selbst, bleiben unberücksichtigt.“

Im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa) äußerte sich der Strafrechtler Henning Ernst Müller zu diesem Punkt. Müller wirft der Staatsanwaltschaft vor, einen unzureichenden Ermittlungsansatz verfolgt zu haben. Die Staatsanwälte hätten sich auf Planungs- und Genehmigungsfehler eingeschossen und damit den Blick von den Ereignissen beim Raver-Festival selbst abgelenkt. Fehler seien, laut Müller, „auf allen Ebenen gemacht worden, dem muss in einer Anklage auch Rechnung getragen werden“.

Müller spielte damit vor allem auf die Tatsache an, dass sich kein einziger Polizist unter den Beschuldigten befindet. Am Tag des Unglücks hatte die Polizei im Bereich der Engstelle im Tunnel, wo es zu einer Panik mit Toten und Verletzten kam, eine Sperrkette angeordnet, die die Menschen am Verlassen des Gefahrenbereichs hinderte. Über lange Zeit bestand nicht einmal Funkkontakt zwischen den Polizisten am Tunnel und im Eingangsbereich.

Mehrfach stellte daher Opferanwalt Julius Reiter, der unter anderem auch Angehörige aus Spanien, Italien und China vertritt, die Frage: „Warum ist unter den Beschuldigten nicht ein Polizist?“

NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD), der sich zum Zeitpunkt der Katastrophe in der Polizeieinsatzzentrale aufhielt und wenig später das Loveparade-Gelände über den VIP-Ausgang verließ, hatte kurz nach der Katastrophe bei einer Sondersitzung des NRW-Innenausschusses erklärt: „Ich werde nicht zulassen, dass die Polizei als Sündenbock für die Fehler und Versäumnisse anderer herhalten muss.“ Es ist naheliegend, dass die Duisburger Staatsanwaltschaft Jägers Warnung verstanden hat und ihm dadurch, dass sie nicht weiter in Richtung Polizei ermittelte, entgegen arbeitete.

Unklar bleibt, warum die Staatsanwaltschaft dem Gutachten von Still, zu dem allein die Richter noch 75 Fragen stellten, nicht noch ein zweites Gutachten an die Seite stellte. Der ehemalige Bundesinnenminister und Jurist Gerhart Baum (FDP), ebenfalls einer der Opferanwälte, erklärte in der Süddeutschen Zeitung: „Die Staatsanwaltschaft hätte [...] sehen müssen, dass das erste Gutachten nicht trägt [...] Es ist doch nicht zu ertragen, dass nur wegen eines Fehlverhaltens eines Gutachters die ganze Sache in sich zusammenbricht.“

Von einem „Justizskandal“ spricht sein Kollege Reiter und fügt hinzu: „Die Richter stecken anscheinend lieber jetzt ein paar Tage Prügel ein, als ein zweifellos schwieriges Prozessverfahren durchzuziehen.“ Er erklärte weiter: „Vor allem die Hinterbliebenen im Ausland glauben nun, dass das alles von vornherein so geplant war vom deutschen Staat, der nicht wollte, dass seine Verwaltung ins Gefängnis kommt.“

In der Tat drängt sich der Gedanke auf. Die leitenden Polizeibeamten sind nicht die einzigen, die gar nicht erst angeklagt wurden. In der Anklageschrift fanden sich von den ursprünglich 16 Personen, gegen die ermittelt wurde, nur zehn Personen: sechs Mitarbeiter der Stadt und vier der Firma Lopavent, die für den Besitzer der Fitness-Kette McFit Rainer Schaller die Loveparade veranstaltet hatte.

Weder Schaller selbst noch der ehemalige Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) waren angeklagt worden. Schaller rechnete sich durch das Event gute Werbung und Profite für sein Unternehmen aus, und Sauerland sah darin eine Möglichkeit, das Image seiner Stadt zu verbessern, und übte Druck auf die zuständigen Verwaltungsstellen aus. Gegen keinen von beiden wurde ermittelt. Sauerland wurde 2012 per Bürgerentscheid abgewählt.

Die städtischen Mitarbeiter, die als Sündenböcke herhalten mussten, handelten im Vorfeld der Veranstaltung sämtliche unter dem Druck Sauerlands und seines Ordnungsdezernenten Wolfgang Rabe (CDU). Die Stadt Bochum hatte im Jahr 2009 die Loveparade abgesagt, weil sie die Sicherheit der Menschen nicht gewährleisten konnte. In Duisburg wurden diese Bedenken ein Jahr später in den Wind geschlagen.

Rabe äußerte gegenüber skeptischen Mitarbeitern den notorischen Satz, der Oberbürgermeister wünsche die Veranstaltung nun mal, man solle lieber „konstruktiv mitarbeiten“, um „Lösungen zu finden“. Die Sicherheit der vielen jungen Menschen, die eine friedliche Feier erleben wollten, wurde letztlich den Profitinteressen von McFit und der Stadt Duisburg rücksichtslos geopfert.

Schon die Anklage von 2014 war daher eine schallende Ohrfeige für die Angehörigen und alle, die sich Gerechtigkeit für die Opfer und eine lückenlose Aufklärung der Umstände der Veranstaltung wünschen, die niemals hätte stattfinden dürfen. Bereits im Vorfeld der Loveparade hatte in Duisburg das offene Geheimnis die Runde gemacht, dass etwas schreckliches passieren werde.

Der Beschluss des Landgerichts Duisburg, die Anklage abzulehnen, löste bei den Angehörigen und vielen, die mit ihnen einen Prozess verlangen, bestürzte und empörte Reaktionen aus. Sowohl die Duisburger Staatsanwaltschaft als auch die Opferanwälte der Kanzlei „baum reiter & collegen“ legten beim Oberlandesgericht (OLG) in Düsseldorf Beschwerde ein. Das OLG muss diese jetzt prüfen.

Am vergangenen Dienstag startete die Mutter eines Opfers eine Online-Petition. Im Petitionstext schreibt sie: „Es kann und darf nicht sein, dass die Eltern und Betroffenen, aber auch die Öffentlichkeit ohne Antwort bleiben und das juristische Urteil der Nichtzulassung das letzte Wort behält.“ Bis zum Abend des gleichen Tages gingen 29.000 Unterschriften ein. Inzwischen sind es fast 50.000.

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