David King 1943-2016: Revolutionärer Sozialist, Künstler und Kämpfer für die historische Wahrheit

Die Wahrheit über die russische Revolution und ihre Folgezeit aus dem kolossalen, mittlerweile in Trümmern liegenden Lügen- und Verbrechensgebäude des Stalinismus hervorzuholen, dieser Aufgabe widmete David King seine herausragende Begabung. Am Vormittag des 11. Mai ist der Künstler unerwartet in seinem Haus in Islington verstorben.

Obwohl er seit vielen Jahren an einer Herzerkrankung litt, bewahrte er sich bis zum Ende seines Lebens eine erstaunliche Schaffenskraft. Sein jüngstes und letztes Buch, das im Herbst 2015 erschien, handelt von John Heartfield, dem revolutionären Künstler aus der Weimarer Republik, dessen Leben und Werk King stark beeinflusste.

David King in der Tate Modern, 2009 (Fotografiert von David North)

Im Mittelpunkt von Davids künstlerischem Lebenswerk stehen Bildbände, in denen das größte Ereignis des 20. Jahrhunderts, die russische Revolution, aufgearbeitet, dargestellt und kommentiert wird. Diese gelungene Verbindung von künstlerischer Form und historischem Inhalt verleiht seinem Werk bleibende Bedeutung. Es beruht auf einem historischen Verständnis, wie man es unter zeitgenössischen Künstlern selten antrifft. Außerdem verfügte David über ein wahrhaft enzyklopädisches Wissen über die russische Revolution – ihre Ereignisse, Kontroversen, Persönlichkeiten und gesellschaftlichen Hintergründe. Er verfolgte keinen subjektiven Ansatz, der mit einer möglichst auffälligen und exzentrischen Form auf seine Person als Künstler aufmerksam machen sollte. Der eindrucksvolle und wahrhaft originelle Charakter seiner Bücher rührt daher, dass er sich bei seiner bildlichen Darstellung von den historischen Ereignissen leiten ließ.

Grundlage aller bedeutenden Bände, die David in den letzten 45 Jahren veröffentlichte, waren intensive historische Recherchen. Jeder Band, für den er Bilder auswählte, das Layout gestaltete und oftmals den gesamten Text oder erhebliche Teile davon verfasste, war das Ergebnis jahrelanger Arbeit. Er zählte zu den größten Archivaren und Geschichtsdetektiven unserer Zeit. Auf der Suche nach Artefakten der russischen Revolution sammelte er rund um die Welt, was immer er finden konnte – von Fotografien, Plakaten und amtlichen Dokumenten bis hin zu Kaffeetassen. Den Umfang seiner Sammlung schätzte er auf etwa 250.000 Objekte. Allein deshalb hätte er bereits einen Ehrenplatz unter den Historikern der russischen Revolution verdient.

Doch David war nicht nur Sammler. Er versuchte auch, den Sinn der Gegenstände, ihren objektiven Platz im historischen Schauspiel der russischen Revolution zu verstehen. Bei der Betrachtung eines Objekts schritt er von der äußeren Erscheinung zum historischen Wesen fort, von der Beziehung des Mosaiksteins zum Ganzen. Dieser Entdeckungsprozess bestimmte die Form der künstlerischen Wiedergabe. Auswahl und Darbietung bringen oftmals schier unüberwindliche Probleme mit sich. Doch trotz ihrer großen Anzahl scheint in den von David zusammengestellten Bildern nichts verlorenzugehen. Noch das kleinste Bild in seinen Bänden nimmt den Leser gefangen. Zweifellos besaß David eine große Sensibilität für visuelle Darstellung. Doch der Grund für die Sicherheit, mit der er Anordnung und Größe seiner Bilder bestimmte, lag in dem ausgeprägten Sinn für das objektive historische Geschehen, der seinen künstlerischen Blick leitete.

David Kings theoretische und künstlerische Auseinandersetzung mit der russischen Revolution ging auf seine persönlichen Erfahrungen und politischen Überzeugungen zurück. Im Jahr 2009 erschien Roter Stern über Russland: Eine visuelle Geschichte der Sowjetunion von 1917 bis zum Tode Stalins. In der Einleitung zu diesem unschätzbaren, maßgeblichen Werk mit Abbildungen aus der David King Collection erklärt der Autor:

„Schon als Kind verabscheute ich den Kapitalismus. Ich hielt ihn für ungerecht. Auch Religion und Monarchie waren mir zuwider. Ich empfand die Gewänder, die sie trugen, als bedrohlich und angsteinflößend. Als mein Onkel, ein Sozialist, mich über das wahre Wesen der herrschenden Klasse aufklärte, war ich mit ihm einer Meinung, dass sie unbedingt gestürzt werden müsse. Wie alle Kinder, so träumte auch ich davon, wie das Leben im 21. Jahrhundert sein würde. Hätte mir jemand gesagt, dass es dann immer noch Ungleichheit, Rassismus, Könige und Königinnen und religiöse Fanatiker geben würde, die den Planeten drangsalieren, hätte ich ihn für verrückt erklärt.“

Im bitterkalten Winter 1970 besuchte David erstmals die Sowjetunion. Aus Anlass des 100. Geburtstag Lenins sollte er Aufnahmen für eine Reportage der Londoner Sunday Times machen. King besuchte zahlreiche Revolutionsmuseen. Lenins Leben wurde darin in allen Einzelheiten gezeigt. Doch eine wichtige Figur der bolschewistischen Revolution war in keiner einzigen Ausstellung zu sehen. King berichtet:

„Doch die Person, die mich vor allem interessierte, war nirgendwo sichtbar. Deshalb fragte ich immer wieder: ,Ja, schon, aber wo ist Trotzki?‘ oder ,Das ist sehr interessant, und was ist mit Trotzki?‘ In den amtlichen Fotoarchiven unternahm man schüchterne Versuche, wenigstens ein einziges Foto des zweiten Führers der russischen Revolution zu finden. Es gab keines. Man hatte ihn ganz und gar beseitigt, und, wie ich bald herausfinden sollte, mit ihm auch unzählige andere.“

King trug während seines Besuchs in der Sowjetunion eine Unmenge an Material über die russische Revolution zusammen. Dennoch erschien ihm der Ertrag seiner Recherchen ungenügend. Das Bild des vergessenen Titanen der russischen Revolution ging ihm nicht aus dem Sinn:

„... ich hatte einen neuen Plan gefasst: Ich wollte mich auf die Suche nach Trotzki begeben, sein Leben in Bildern dokumentieren. Ich wollte beweisen, dass keine politische Fälschung, keine Retusche von Fotos genügen würde, um die Erinnerung an das faszinierende politische Genie des 20. Jahrhunderts auszulöschen. Es gab im Westen viel Literatur über Trotzki, doch ich wollte als Designer und Fotograf dafür sorgen, dass sein Leben einem viel größeren Publikum bekannt würde.“

Auf Reisen nach Europa, Nordamerika und Coyoacán in Mexiko, wo Trotzki 1940 ermordet worden war, legte David den Grundstein für seine Sammlung von Fotos, Plakaten, Dokumenten und Artefakten, die mit dem Leben des Revolutionsführers in Zusammenhang standen. Gemeinsam mit seinem Kollegen Francis Wyndham von der Sunday Times verfasste er eine Biografie Trotzkis. Zwar stammte der Texte größtenteils von Wyndham, doch erst die von King beigesteuerte umfangreiche Fotosammlung ließ den Band zu einem bedeutenden und einflussreichen historischen Werk werden. Das Buch erhielt 1972 hervorragende Kritiken.

Sein nächstes großes Projekt nahm David gemeinsam mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale in Angriff. Er war nicht Mitglied der Workers Revolutionary Party, der damaligen britischen Sektion des IKVI, hatte jedoch großen Respekt vor ihrer theoretischen Arbeit und politischen Aktivität in der Arbeiterklasse. Mit großem Interesse verfolgte er die Untersuchung über den Mord an Leo Trotzki, das das Internationale Komitee 1975 in die Wege leitete. Zu dem Band Wie die GPU Trotzki ermordete, der 1977 erschien, steuerte er seine Mitarbeit und zahlreiche Fotos aus seiner privaten Sammlung bei.

How the GPU Murdered Trotsky

Als ich 2009 in London war, führte ich mit David ein ausführliches Gespräch über seine Mitwirkung an diesem Band. In seinen Augen leistete das Internationale Komitee mit seinen Recherchen über den Mord an Trotzki einen wesentlichen Beitrag zur Entlarvung der stalinistischen Verbrechen. Er äußerte seine Überraschung über die Ablehnung, mit der große Teile der britischen Linken der Untersuchung begegneten. Das Internationale Komitee hatte Dokumente entdeckt, aus denen hervorging, dass sich Joseph Hansen, der langjährige Führer der Socialist Workers Party in den USA, sowohl mit dem FBI als auch mit der sowjetischen Geheimpolizei in Verbindung gesetzt hatte. In diesem Zusammenhang berichtete King von seiner eigenen Begegnung mit Hansen, die ihn sehr verwundert hatte.

Anfang der 1970er Jahre war David im Zuge der Recherchen für seine Trotzki-Biografie nach New York gereist. Er bat bei der Socialist Workers Party um einen Termin mit Hansen, der von 1937 bis 1940 Trotzkis Sekretär in Mexiko gewesen war. David erwartete sich von diesem Treffen eine Fülle an Informationen und Einblicken in Trotzkis Persönlichkeit. Doch kaum hatte das Gespräch begonnen, da fragte Hansen schon: „Was möchten Sie denn über Trotzki schreiben?“

Etwas befremdet über den Ton dieser Frage setzte King zu einer Erläuterung an, weshalb er Trotzki für eine wichtige historische Persönlichkeit halte, deren Vermächtnis für den zukünftigen Sieg des Sozialismus unverzichtbar sei. „Die Zukunft?“, gab Hansen zurück. „So, wie es um die Umwelt bestellt ist, wird es die Erde in 20 Jahren wohl kaum noch geben.“ Und so war das Gespräch von kurzer Dauer. Noch nach 50 Jahren hatte sich David nicht von seiner Überraschung über Hansens Bemerkung erholt.

David King in seinem Studio, 2009 (Fotografiert von David North)

Die Entlarvung der Verbrechen, die Stalin und die Sowjetbürokratie an der Oktoberrevolution und der Bevölkerung der Sowjetunion verübten, sollte in den weiteren 35 Jahren zum zentralen Thema von Davids Werk werden. Im Jahr 1982 arbeitete er gemeinsam mit Tamara Deutscher, der Witwe von Isaac Deutscher (dem Autor der berühmten dreiteiligen Trotzki-Biografie) an dem Band The Great Purges (Die großen Säuberungen). 1997 brachte David einen weiteren umfangreichen Band heraus, The Commissar Vanishes: The Falsification of Photographs and Art in Stalin’s Russia (Der Kommissar verschwindet: Die Fälschung von Fotografie und Kunst in Stalins Russland). In diesem Werk zeigt King auf, wie Stalin und die übrigen Verbrecher in der Sowjetführung die Geschichte durch systematische Fotoretuschen fälschten. Zum Thema des Bands erklärte er:

„Die Fälschungen der Stalinzeit waren so umfassend, dass die Geschichte der Sowjetära durch retuschierte Fotos erzählt werden kann. Das ist der Zweck dieses Buchs. Die Fotos sind chronologisch in der Reihenfolge ihrer ursprünglichen Entstehung, nicht ihrer Manipulation angeordnet. Die geänderten Versionen sind in der Regel neben den Originalen oder auf den nächsten Seiten abgebildet. Zur Erhellung wichtiger Momente wurden auch eine Reihe ungefälschter Aufnahmen und Dokumente aufgenommen. Zudem sind Gemälde, Grafiken und andere Beispiele für die Heldenverehrung Stalins zu sehen. Nur die unter politischen, kulturellen und natürlich visuellen Aspekten interessantesten und abwechslungsreichsten Bilder werden gezeigt. Dabei kommen ständig neue Beispiele für Fälschungen ans Licht. Dann wirkt ein Foto aufgrund starker Retuschen befremdlich. Oftmals dauert es Jahre, bis das Original gefunden wird. Die Suche geht weiter.“

Im Jahr 2003 erschien Ganz normale Bürger: Die Opfer Stalins. Dieser Band besteht aus etwa 150 Polizeifotos von Sowjetbürgern, die in den Kerkern der Lubjanka, des Hauptquartiers der Geheimpolizei in Moskau einsaßen. Unter anderem sind wichtige Persönlichkeiten der Sowjetgeschichte und ‑literatur abgebildet, wie Grigori Sinowjew und Isaak Babel. Doch größtenteils handelt es sich um unbekannte „normale“ Bürger. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle von Stalins Henkern umgebracht wurden. Viele der Aufnahmen entstanden wenige Tage, bisweilen nur Stunden vor ihrer Hinrichtung. Die Bilder der Todgeweihten wirken zutiefst verstörend. Der Grund für die tiefe psychologische Wirkung der von King ausgewählten Aufnahmen liegt allerdings in der überraschenden Qualität der Fotografien. Wie der Autor erläutert:

„Welch grauenhafte Ironie, dass der tödliche Blick der Geheimpolizei solch sensible Porträts hervorbringen konnte. Im Gegensatz zu westlichen Polizeifotos entstanden diese Aufnahmen ohne künstliches Licht. Mit einer längeren Belichtungszeit und natürlichem Licht blickte die Person direkt in die Kamera, wodurch eine Vielfalt von Gefühlsregungen sichtbar wurde. Keiner dieser normalen Bürger wurde überrascht oder gar ,bloßgestellt‘ vom Blitz. Diese Gesichter lassen den Betrachter nicht mehr los und erschüttern ihn oftmals zutiefst. Die direkten Blicke in die Kamera zeigen Furcht, Wut, Trotz, Verzweiflung, manchmal einfach nur grenzenlose Traurigkeit. Unsichere Blicke enthüllen Schmerz, Stolz und Aufrichtigkeit. Zorn zeigt sich auf einem oder zwei der Gesichter. Manche weisen Folterspuren auf. Einige sind gezeichnet von Krankheit. Manche blicken wirr. Besonders schockierend: Einige lächeln in die Kamera oder versuchen zumindest, den Hauch eines Lächelns aufzusetzen.“

Im Jahr 2009 vollendete David seinen monumentalen Bildband über die sowjetrussische Geschichte, Roter Stern über Russland, der zeitgleich mit der Eröffnung einer neuen Abteilung der Tate Gallery in London erschien, in der die Fotos und Plakate der David King Collection ausgestellt sind. Er führte mich durch die Ausstellung, auf die er zurecht stolz war. Jedes Objekt war eingebettet in das große, tragische historische Narrativ der Oktoberrevolution.

Mit dem Tod David Kings verliert die Welt einen großartigen Künstler und Historiker. Besonders bitter wirkt dieser Verlust, weil er kurz vor dem einhundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution eingetreten ist. Dazu hätte David nächstes Jahr sicherlich viel zu zeigen und zu sagen gehabt! Dennoch steht außer Frage, dass David King – als Künstler, revolutionärer Sozialist und Kämpfer für die historische Wahrheit – in diesem Jubiläumsjahr und darüber hinaus viel dazu beitragen wird, dieses prägende Ereignis der modernen Geschichte zu verstehen, und damit einen bleibenden Beitrag zur Befreiung der Menschheit geleistet hat.

Der Mehring Verlag hat einige Bücher von David King in Deutsch veröffentlicht. Sie können hier bestellt werden.

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