Perspektive

Barack Obama und 25 Jahre Krieg

Am 15. Mai vermerkte die New York Times auf der Titelseite ein wichtiges Datum für Präsident Obama: „Er führt jetzt schon länger Krieg als Bush und jeder andere US-Präsident.“ Obama hat Bush bereits am 6. Mai überholt, und da ihm noch acht Monate im Weißen Haus bleiben, dürfte ihm auch ein weiterer Rekord nicht mehr zu nehmen sein. Die Times schreibt: „Kämpfen die USA noch bis zum Ende von Obamas Amtszeit in Afghanistan, im Irak und in Syrien, was nach der angekündigten Aufstockung der Spezialeinheiten in Syrien um weitere 250 Soldaten so gut wie sicher ist, dann geht er tatsächlich als bislang einziger Präsident in die Geschichte der USA ein, der zwei volle Amtszeiten hindurch an der Spitze einer kriegführenden Nation stand.“

Auf dem Weg zu diesem Rekord hat Obama todbringende Militäreinsätze in insgesamt sieben Ländern angeordnet: im Irak, in Afghanistan, Syrien, Libyen, Pakistan, Somalia und im Jemen. Die Liste wird immer länger, da die USA zurzeit ihre militärischen Operationen in Afrika ausweiten. Um den Aufstand der Boko Haram niederzuschlagen, werden die US-Truppen in Nigeria, Kamerun, Niger und im Tschad aufgestockt.

Ohne jeden Anflug von Ironie erinnert der Verfasser des Times-Artikels, Mark Landler, an die Verleihung des Friedensnobelpreises an Obama im Jahr 2009. Der Präsident habe vielmehr „versucht, die Versprechen zu erfüllen, die er damals als Antikriegskandidat gab…“ Obama habe „seit seinem ersten Jahr im Weißen Haus gegen diese unerbittliche Realität (des Kriegs) angekämpft“.

Landler lässt seine Leser wissen, dass Obama „einen Spaziergang durch die Gräberreihen des Nationalfriedhofs Arlington machte, bevor er 30.000 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan schickte“. Und er erinnert an die Rede, mit der Obama bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises in verzagtem Ton klagte, die Menschheit müsse „diese beiden unvereinbaren Wahrheiten miteinander in Einklang bringen – dass Krieg manchmal nötig ist und auf einer gewissen Ebene Ausdruck menschlicher Torheit.“

Unter seiner Präsidentschaft triumphierte eindeutig die Torheit. Doch Landlers Held kann nichts dafür. Für Obama war es „irrsinnig schwierig“, seine Kriege „zuende zu bringen“.

Der Tod des Navy-Seal-Elitesoldaten Charles Keating IV, der vor Kurzem in einem Gefecht mit dem IS fiel, hat Obamas Darstellung der US-Aktivitäten im Irak widerlegt. Die Times, die ihre Worte mit Bedacht wählt, schreibt, dass Keatings Tod „die Behauptung der Regierung, dass die Amerikaner die irakischen Truppen nur beraten und ihnen Hilfe leisten, noch unglaubwürdiger erscheinen lässt“. Im Klartext: Obama hat die amerikanische Bevölkerung belogen.

Das Bild, das die Times von Obama zeichnet, ist nicht nur zutiefst verlogen, es fehlt ihm auch das wesentliche Element einer echten Tragödie: die Erkenntnis der objektiven Kräfte, die das Handeln des Präsidenten bestimmen und sich doch seiner Kontrolle entziehen. Wenn Mr. Landler seine Leser zu Tränen des Mitleids für diesen friedliebenden Mann rühren möchte, der sich nach seinem Amtsantritt auf Drohnenmorde spezialisierte und zum moralischen Ungeheuer mutierte, dann hätte er aufzeigen müssen, welche historischen Umstände Obamas „tragisches“ Schicksal besiegelten.

Doch dieser Herausforderung weicht die Times aus. Sie stellt keinen Zusammenhang zwischen Obamas Kriegsrekord und dem Gesamtverlauf der amerikanischen Außenpolitik in den letzten 25 Jahren her. Schon bevor Obama 2009 sein Amt antrat, hatten sich die USA seit dem ersten Irakkrieg 1990-1991 fast ununterbrochen im Krieg befunden.

Den Vorwand für den ersten Golfkrieg lieferte die Annektierung Kuweits durch den Irak im August 1990. Doch es waren gewichtigere globale Faktoren und Erwägungen, die hinter der gewaltsamen Reaktion der USA auf Saddam Husseins Konflikt mit dem Emir von Kuweit standen. Der historische Hintergrund der US-Militäraktion war die kurz bevorstehende Auflösung der Sowjetunion, die dann im Dezember 1991 vollzogen wurde. Der erste Präsident Bush verkündete den Anbruch einer „Neuen Weltordnung“.

Die Sowjetunion, hervorgegangen aus der ersten sozialistischen Revolution 1917, hatte, insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945, der Ausweitung der militärischen Machtstellung der USA im Wege gestanden. Der Sieg der chinesischen Revolution 1949, die historisch in Beziehung zur bolschewistischen Revolution in Russland stand, bildete ein weiteres Hindernis für den US-Imperialismus.

Die stalinistischen Regime verfolgten im Wesentlichen eine nationalistische Politik und untergruben und verrieten systematisch die Kämpfe der Arbeiterklasse und antiimperialistischer Bewegungen auf der ganzen Welt. Doch die begrenzte politische und militärische Unterstützung der Sowjetunion und Chinas für antiimperialistische Bewegungen in der „Dritten Welt“ verhinderte, dass die herrschende Klasse der USA bei der Verfolgung ihrer eigenen Interessen nach Belieben schalten und walten konnte. Dies zeigte sich insbesondere an den Niederlagen der USA in Korea und Vietnam, dem Kompromiss in der Kubakrise und der amerikanischen Akzeptanz der sowjetischen Herrschaft über das Baltikum und Osteuropa.

Die Existenz der Sowjetunion und eines antikapitalistischen Regimes in China hinderten die USA letztlich am unbeschränkten Zugang und der schrankenlosen Ausbeutung von Arbeitskräften, von Rohstoffen und potenziellen Märkten in einem großen Teil der Welt – vor allem der eurasischen Landmasse. Sie zwangen die USA außerdem, sich in Verhandlungen mit ihren Hauptverbündeten in Europa und Asien über wirtschaftliche und strategische Fragen kompromissbereiter zu geben, als sie es wollten. Das galt auch für ihre Beziehungen zu kleineren Ländern, die die taktischen Möglichkeiten ausnutzen, die ihnen der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion bot.

In der Auflösung der Sowjetunion, die mit der ungebremsten Restauration des Kapitalismus in China nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz im Juni 1989 einherging, sah die herrschende Klasse Amerikas eine willkommene Chance, ihre geopolitische Strategie dramatisch zu verändern mit dem Ziel, die Hegemonie der USA durchzusetzen. Die überwältigende Zustimmung zu diesem Plan innerhalb der Eliten nährte sich aus dem Glauben, dass die Vereinigten Staaten die schon lange währende Schwächung ihrer Stellung in der Weltwirtschaft durch den rücksichtslosen Einsatz ihrer überwältigenden Militärmacht rückgängig machen könnten.

Ein Papier des Verteidigungsministeriums vom Februar 1992 (Defense Policy Guidance) machte kein Hehl aus den Hegemonialbestrebungen des US-Imperialismus: „Es gibt andere Staaten und Bündnisse, die in Zukunft strategische Ziele und eine regional oder global dominierende Verteidigungsmacht entwickeln könnten. Unsere Strategie muss in erster Linie darauf gerichtet sein, den Aufstieg eines Rivalen zu einer Weltmacht auszuschließen.“

In den 1990er Jahren machten die USA ständig von ihrer militärischen Macht Gebrauch, am deutlichsten bei der Auflösung Jugoslawiens. Die brutale Neuaufteilung der Balkanstaaten, die zu einem mörderischen Bruderkrieg führte, gipfelte in dem von den USA angeführten Bombenterror, mit dem Serbien gezwungen werden sollte, in die Abspaltung des Kosovo einzuwilligen. Weitere Militäroperationen der 1990er Jahre waren die Intervention in Somalia (die in einem jämmerlichen Fehlschlag endete), die militärische Besetzung von Haiti, die Bombardierung des Sudans und Afghanistans und wiederholte Bombenangriffe auf den Irak.

Der 11. September 2001 bot die Möglichkeit, den „Krieg gegen den Terror“ zu eröffnen. Diese Propagandaparole lieferte die stereotype Rechtfertigung für militärische Operationen im Nahen Osten, Zentralasien und immer häufiger auch in Afrika. Die USA passten ihre Militärstrategie ihrer im Jahr 2002 verkündeten Doktrin des „Präventivkriegs“ an. Diese völkerrechtswidrige neue Doktrin sprach den USA das Recht zu, jedes Land der Welt anzugreifen, das in ihren Augen zu einer Bedrohung amerikanischer Interessen werden könnte – nicht nur in militärischer, sondern auch in ökonomischer Hinsicht.

Die Regierung des zweiten Präsidenten Bush ordnete im Herbst 2001 den Einmarsch in Afghanistan an. In seinen Reden nach dem 11. September prägte Bush den Ausdruck „Kriege des 21. Jahrhunderts“. In dieser Frage ließ er an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Der „Krieg gegen den Terror“ war von vornherein als Beginn unaufhörlicher militärischer Operationen auf der ganzen Welt konzipiert. Jeder Krieg würde unvermeidlich zum nächsten führen. Afghanistan war die Generalprobe für die Invasion des Irak. Die Militäroperationen wurden beständig ausgeweitet. Neue Kriege wurden begonnen und die alten weitergeführt. Zynisch wurden die Menschenrechte beschworen, um Krieg gegen Libyen zu führen und das Regime von Gaddafi zu stürzen. Unter demselben Vorwand wurde ein Stellvertreterkrieg in Syrien organisiert. Das menschliche Leid und die Todesopfer infolge dieser Kriege sind unvorstellbar.

Die strategische Logik des amerikanischen Strebens nach globaler Vorherrschaft hat zu Konflikten geführt, die über blutige neokoloniale Operationen im Nahen Osten und Afrika hinausgehen. Ihre geopolitischen Ziele haben die USA in immer gefährlichere Konfrontationen mit China und Russland getrieben. Die laufenden regionalen Kriege werden zu den Kernelementen des rasch eskalierenden Konflikts der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen und asiatischen Verbündeten mit Russland und China.

Die New York Times gibt nicht den geringsten Hinweis auf die tieferen objektiven Ursachen dafür, dass Obamas Präsidentschaft eine Zeit unaufhörlicher Kriege war, denn diese Ursachen liegen in den Widersprüchen des amerikanischen und des internationalen Imperialismus. Sie warnt ihre Leser auch nicht davor, dass die nächste Regierung – geführt von Clinton, Trump oder auch Sanders – diesen Kurs nicht nur fortsetzen, sondern enorm verschärfen wird. Das Thema Krieg ist das „große Tabu“ dieses Wahlkampfs.

Dieses Schweigen muss durchbrochen werden. Man muss laut und deutlich Alarm schlagen. Die Arbeiterklasse und die Jugend in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt muss die Wahrheit erfahren. Um dem Krieg ein Ende zu setzen und eine globale Katastrophe abzuwenden, muss eine neue, starke internationale Massenbewegung aufgebaut werden. Sie muss sich auf ein sozialistisches Programm stützen und sich strategisch von den Prinzipien des revolutionären Klassenkampfes leiten lassen.

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