Die Bedeutung des Brexit-Referendums für die europäische Arbeiterklasse

Am 14. Juni sprach Peter Schwarz, der Sekretär des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, auf einer Veranstaltung der britischen Socialist Equality Party zum Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Die SEP ruft zu einem aktiven Boykott des Referendums auf.

Neben einem interessierten Publikum in London verfolgten auch Zuhörer in Indien, Sri Lanka, Amerika und zahlreichen europäischen Ländern die Rede, die im Internet als Life-Stream übertragen wurde.

Der Nationale Sekretär der SEP, Chris Marsden, eröffnete die Veranstaltung. Er erklärte, dass beide Lager im Referendum von rechten Tories geführt werden, die für eine Politik der Einsparungen, des Militarismus und des Nationalismus eintreten. Entgegen der Behauptung pseudolinker Gruppen könne weder das Austritt- noch das Verbleib-Lager von Arbeitern unterstützt werden. Beide Seiten schürten gezielt Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, um einen gemeinsamen, grenzüberschreitenden Kampf der Arbeiter zu verhindern.

Die Rede von Peter Schwarz geben wir hier im Wortlaut wieder.

Das Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) vom 23. Juni ist nicht nur ein politischer Wendepunkt für Großbritannien, sondern für ganz Europa, und zwar unabhängig davon, wie es ausgeht.

Sollte eine Mehrheit der Teilnehmer für den Austritt aus der EU stimmen, wird dies weitreichende wirtschaftliche Auswirkungen haben. Es ist natürlich nicht leicht zu beurteilen, welche Prognosen ernsthaft sind und welche nur Propaganda. Doch eine objektive Beurteilung muss zum Schluss kommen, dass die wirtschaftlichen Folgen eines Brexit unkalkulierbar sind. Der Rückzug der zweitgrößten Volkswirtschaft aus der EU würde sich massiv auf den Wert des Pfunds auswirken, auf die Finanzmärkte und die Aktienkurse, auf Investitionen, Handel und Arbeitsplätze.

Das Folgende ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Probleme, die aufkommen werden: Es gibt innerhalb der EU Tausende von Abkommen, die Handel, Wirtschaft, Produktion und Steuern regeln. Sie würden ungültig und müssten neu verhandelt werden. Zudem hat die EU mehr als 50 Handelsabkommen mit anderen Staaten abgeschlossen, die für Großbritannien nicht mehr gelten würden und neu verhandelt werden müssten.

Peter Schwarz während seines Beitrags in London

Solche Verhandlungen dauern üblicherweise Jahre oder Jahrzehnte. Ein Brexit würde also zu unüberschaubaren Komplikationen, Reibungen und Spannungen führen. Er würde Entwicklungen beschleunigen, die schon jetzt weltweit zu beobachten sind: Zunehmender Wirtschaftsnationalismus, der Zerfall der Weltwirtschaft in Handelsblöcke, die Verschärfung von Währungskriegen, Handelskriegen und nationalen Gegensätzen. Solche Entwicklungen kennzeichneten die 1930er Jahre. Sie gingen mit Rezession und Massenarbeitslosigkeit einher und trugen wesentlich dazu bei, den Zweiten Weltkrieg auszulösen.

Schwerwiegender als die ökonomischen wären aber die langfristigen politischen Folgen eines Brexit.

Unserer Generation erschien es selbstverständlich, dass Europa die Gegensätze überwunden hat, die es zum Hauptschauplatz von zwei Weltkriegen machten. Aber das ist nicht der Fall. Das Gleichgewicht, das in der Nachkriegszeit zwischen den europäischen Mächten herrschte, vor allem zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien, beruhte auf einer Reihe besonderer Umstände, die seither größtenteils verschwunden sind: dem Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, der die imperialistischen Mächte Europas zusammenschweißte; der Rolle der Vereinigten Staaten als unumstrittene imperialistische Vormacht; dem Nachkriegsboom, der der Bourgeoisie gewisse wirtschaftliche Zugeständnisse erlaubte, mit denen sich der Klassenkampf eindämmen ließ.

Das ist alles Vergangenheit. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und Osteuropas, die deutsche Wiedervereinigung, die EU-Osterweiterung, die ständigen sozialen Angriffe und die Verschärfung der Klassengegensätze, die Auswirkungen der Finanzkrise von 2008, der Ruin ärmerer Länder wie Griechenland und die wirtschaftliche Überlegenheit Deutschlands haben das europäische Gleichgewicht untergraben.

Ein Rückzug Großbritanniens aus der EU würde es weiter zerstören und den Zerfall Europas in feindselige, konkurrierende Nationalstaaten beschleunigen. Großbritannien hat immer eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich, den beiden größten Mächten auf dem Festland, auszugleichen.

Die Reaktion der deutschen Presse auf den Brexit ist bemerkenswert. Sie hat sehr lange gebraucht, um zu verstehen, dass etwas sehr Ernstes passiert. Doch nun ist der Spiegel, das meistverkaufte deutsche Nachrichtenmagazin, als zweisprachige Ausgabe erschienen. Auf dem Titelblatt der jüngsten Ausgabe ist die britische Flagge zu sehen, der Titel lautet: „Bitte geht nicht!“

Im Leitartikel hieß es über den Brexit: „Es geht um nicht weniger als die Zukunft des Projekts Frieden, das einstmals verfeindete Staaten 1946 im zerstörten Kontinent begannen...“

Interessanterweise wird der Brexit nicht nur als Problem für Europa gesehen, sondern auch für die Beziehungen mit den USA. So schreibt der Spiegel: „Großbritannien ist eine Brücke zwischen Europa und den USA. Steigt diesseits des Atlantiks Großbritannien aus der EU aus und wird auf der anderen Seite Donald Trump Präsident, werden scheinbar ewige Bündnisse wackeln...“

Die Autoren fürchten also, dass der Zerfall der EU auch zum Auseinanderbrechen des atlantischen Bündnisses führen könnte.

Am bemerkenswertestes ist der folgende Satz: „Mit dem Brexit würde Deutschland einen wichtigen Verbündeten verlieren und wäre als große Mittelmacht des Kontinents endgültig gezwungen, die Führungsrolle zu übernehmen, die es nie wollte.“

Deutschland, das zweimal versucht hat, Europa militärisch zu erobern, wäre laut Spiegel „gezwungen“, eine Führungsrolle zu übernehmen, die es „nie wollte“! Man muss das als Drohung verstehen. Es zeigt, was die herrschenden Eliten denken und planen.

Ausgedacht hat sich das nicht der Spiegel. Es handelt sich um ein immer wiederkehrendes Thema in den Werken von Herfried Münkler, dem Professor an der Berliner Humboldt-Universität und Befürworter einer Wiederbelebung des deutschen Militarismus und Imperialismus. Wer die Arbeit der International Youth and Students for Social Equality in Berlin auf der World Socialist Web Site verfolgt hat, wird diesen Namen kennen.

Wenn Großbritannien in der EU bleibt, werden die Auswirkungen vielleicht nicht so unmittelbar, aber nicht weniger dramatisch sein. Das Referendum wird die Entwicklungen, die die EU zur meistgehassten Institution Europas gemacht haben, nicht beenden, sondern beschleunigen. Die EU wird Vorkämpferin des Neoliberalismus und treibende Kraft der sozialen Angriffe auf die Arbeiterklasse, der Deregulierung und der Umwandlung Europas in einen Polizeistaat und eine militarisierte Festung bleiben und diese Rolle verstärken.

Die wenigen Verbesserungen, die die EU mit sich brachte – die Abschaffung der Grenzkontrollen, die Möglichkeit im Land seiner Wahl zu arbeiten oder zu studieren, die Garantie gewisser demokratischer Rechte – werden schon jetzt unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Terrorismus und der Flüchtlingsabwehr abgeschafft. Die Welle der Fremdenfeindlichkeit, die die Referendumskampagne dominiert, hat auch den Rest von Europa erfasst.

Ein Hauptargument der Austrittsgegner lautet, die EU solle nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Militärbündnis sein. Völlig unverblümt formulierte das die Süddeutsche Zeitung, eine der größten Tageszeitungen Deutschlands, die schrieb, Europa könne nur gemeinsam „Großmächten wie Amerika und China etwas entgegensetzen“. In Deutschland ist dies eines der Hauptargumente zugunsten der EU: ‚Wenn wir wieder eine Weltmacht sein wollen, können wir das nur gemeinsam erreichen.‘ Bemerkenswerterweise identifiziert die Süddeutsche nicht Russland, sondern Amerika und China als Gefahr.

Die nationalen Gegensätze werden sich auch verschärfen, wenn Großbritannien in der EU bleibt. Beispielhaft dafür ist ein Kommentar in Le Monde, einer der führenden französischen Tageszeitungen, die der amtierenden Sozialistischen Partei nahesteht. Sie fordert bereits Schritte gegen eine deutsch-britische Vorherrschaft, wenn Großbritannien in der EU bleiben sollte. Sie schreibt, Großbritanniens Verbleib in der EU könnte „die wirtschaftliche Konvergenz zwischen Deutschland und Großbritannien, den beiden größten Volkswirtschaften Europas, verstärken... Bleiben die Briten in der Gemeinschaft, müssen die Franzosen als Erste vorpreschen.“

Am deutlichsten zeigt sich der wirkliche Charakter der EU, wenn man Politiker in Brüssel, Berlin und anderen Hauptstädten fragt: „Warum fordert ihr nicht öffentlich den Verbleib Großbritanniens in der EU? Warum fahrt ihr nicht nach Großbritannien, um die Austrittsgegner zu unterstützen?“ Die Antwort lautet in der Regel: „Wenn wir das täten, würden die Austrittsbefürworter gewinnen.“

Sie glauben also selbst, die EU sei in der breiten Masse der Bevölkerung so unpopulär und verhasst, dass sie das Gegenteil bewirken würden, wenn sie in Großbritannien für die EU werben.

Auffällig an dem Referendum ist, dass scheinbar niemand darüber nachgedacht hat, welche Folgen es haben wird. Premierminister David Cameron hat es hauptsächlich aus taktischen Gründen angesetzt. Als Reaktion auf Streitigkeiten innerhalb seiner eigenen Partei versprach er im Falle seiner Wiederwahl ein Referendum, gleichzeitig sprach er sich aber für den Verbleib in der EU aus. Sowohl in den Kampagnen der Austrittsgegner und der Austrittsbefürworter herrschen kurzsichtige, pragmatische Erwägungen vor.

Das Schüren von Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus dient vor allem dazu, den Widerstand und die wachsende Wut der Arbeiterklasse auf andere Ziele zu lenken. Das ist ein wichtiger Beweggrund für das Referendum und ein internationales Phänomen. Die herrschende Klasse ganz Europas betrachtet die Massenproteste gegen Syriza in Griechenland und die anhaltende Streikwelle gegen das neue Arbeitsgesetz der Sozialistischen Partei in Frankreich als Warnung vor kommenden Klassenkämpfen. Dagegen setzen sie auf Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und Militarismus.

In den meisten europäischen Ländern wurde das Referendum lange Zeit ignoriert. Der Sieg der Austrittsgegner galt als sicher, doch jetzt macht sich Panik breit.

Wir haben kürzlich auf der WSWS einige Kommentare dazu zitiert. Der Standard, eine führende österreichische Zeitung, schreibt: „Hinter den Kulissen geht das große Zittern vor dem ‚Undenkbaren‘ um.“ Die Neue Zürcher Zeitung, das Sprachrohr der Schweizer Banken, schreibt: „Wenn Europa am Morgen des 24. Juni aufwacht, wird es sich auf einer politischen Landkarte wiederfinden, die sich über Nacht so radikal verändert hat wie nie seit dem Berliner Mauerfall von 1989.“

Und die italienische Tageszeitung Il Sole 24 Ore kommentiert: „Ein Brexit würde die Büchse der Pandora öffnen, und eine Flut von Beschuldigungen und möglichen neuen Austrittsbestrebungen auslösen… Wie auch immer der Entscheid am 23. Juni ausfällt, wir haben bereits alle verloren.“

Wir bemerkten zu diesen Kommentaren: „Der Leichtsinn, die politische Kurzsichtigkeit und die Brutalität, mit der Befürworter und Gegner des Brexit die Abschottung, den Zerfall und die Militarisierung Europas vorantreiben, ist kein individuelles, sondern ein Klassenphänomen. Es ist charakteristisch für eine herrschende Klasse, deren Gesellschaftssystem sich historisch überlebt hat. Sie ist unfähig, in die Zukunft zu blicken, und jagt nur noch den unmittelbarsten Privilegien und Interessen nach.“

Auch das ist ein internationales Phänomen. Schaut euch die amerikanische Präsidentschaftswahl an. Sie wird nun, wie es scheint, zwischen zwei der meistgehassten Politikern Amerikas ausgefochten. Hillary Clinton ist eine diskreditierte Vertreterin des politischen, finanziellen und militärischen Establishments; und Donald Trump ein halbfaschistischer und halbkrimineller Immobilienmilliardär. Man kann das nur mit der Krise, dem Niedergang und der Klassenpolarisierung in den USA erklären. Hier finden sich die gleichen Elemente wie in der Brexit-Kampagne: Militarismus, Fremdenfeindlichkeit und – als „linke Version“ – Identitätspolitik.

Das jüngste Beispiel dafür, wie Identitätspolitik benutzt wird, um die enormen sozialen Spannungen in Kanäle zu lenken, in denen sie der herrschenden Klasse nicht gefährlich werden können, ist die Kampagne um das Urteil gegen einen Studenten der Universität Stanford wegen sexuellem Missbrauch einer jungen Frau nach einer Verbindungsparty auf dem Campus.

Andererseits erleben wir den Aufstieg von rechten Gestalten wie Marine Le Pen in Frankreich, Norbert Hofer in Österreich, der AfD in Deutschland und ähnlicher Gruppierungen in vielen anderen Ländern. Diese Entwicklung wirft grundlegende historische Fragen auf.

Lehren aus der deutschen Geschichte

Als ich als Jugendlicher ein Interesse an Politik entwickelte, beschäftigte mich die Frage: Wie konnte ein Antisemit, eine deklassierte Gestalt aus der Gosse Wiens zum „Führer“ Deutschlands werden? Die Antwort fand sich nicht in der Person Hitlers, sondern in der Krise und der Sackgasse des deutschen Kapitalismus.

Ein Sprichwort besagt: „Jedes Volk bekommt die Führer, die es verdient.“ Auf das Deutschland der 1930er trifft das nicht zu. Millionen von Arbeitern lehnten Hitler ab, wurden aber von ihrer Führung verraten. Auch heute gibt es unter Arbeitern und Jugendlichen massiven Widerstand gegen soziale Angriffe, Militarismus und Fremdenfeindlichkeit. Das zeigt u.a. die Unterstützung für Bernie Sanders in den USA. Doch dieser Widerstand findet keine Stimme und keine Perspektive. Die herrschenden Eliten können nur so vorgehen, wie sie es gegenwärtig tun, weil es keine politisch bewusste Arbeiterbewegung gibt.

Was früher als „Arbeiterorganisationen“ bezeichnet wurde – die Gewerkschaften, die Labour Party und ähnliche Organisationen – haben sich zu Anhängseln des bürgerlichen Staates entwickelt. Wie wir in Griechenland, Frankreich und vielen anderen Ländern sehen können, stehen sie bei den sozialen Angriffen an vorderster Front. Tony Blair und Gerhard Schröder haben am erfolgreichsten soziale Errungenschaften zerstört, die die Arbeiter in der Nachkriegszeit in erbitterten Kämpfen gewonnen hatten.

Die zentrale Aufgabe der Arbeiterklasse, die die SEP zum Kernthema ihres Wahlkampfs gemacht hat, ist der Aufbau einer neuen Führung, einer revolutionären Partei. Das erfordert, dass man sich auf die Lehren aus der Geschichte stützt. In diesem Zusammenhang möchte ich über einige historische Fragen sprechen, die für das Brexit-Referendum äußerst relevant sind.

Großbritannien hat die älteste Arbeiterklasse der Welt. Sie hat eine lange und stolze kämpferische Tradition. Es gibt die Tradition der Chartisten, die einen großen Einfluss auf Marx und Engels ausübten. Trotzki schrieb einst: „Ohne die Chartisten hätte es jedoch keine Pariser Kommune gegeben. Ohne beide hätte es keine Oktoberrevolution gegeben.“ Es gibt die Tradition militanter gewerkschaftlicher Kämpfe im neunzehnten Jahrhundert, des Generalstreik von 1926, des Bergarbeiterstreiks von 1974, der zum Sturz der Regierung Heath führte, und des Bergarbeiterstreiks von 1984-85.

Allerdings gibt es hier auch eine sehr lange Tradition des politischen Opportunismus. Der Kampf für den Marxismus hat sich in Großbritannien immer als sehr langwierig und schwierig erwiesen. Als Lenin in seinem Buch über den Imperialismus über die Fähigkeit der imperialistischen Bourgeoisie schrieb, einen Teil der Arbeiterklasse, eine Arbeiteraristokratie zu kaufen, dachte er an Großbritannien. Der enorme Reichtum und die Macht des britischen Imperialismus im neunzehnten Jahrhundert ermöglichte es ihm, eine kleine privilegierte Schicht von Arbeitern zu bestechen, die den Klassenkampf unter Kontrolle hielten und die soziale Revolution entschieden ablehnten.

Das brachte Persönlichkeiten wie Ramsay MacDonald sowie Beatrice und Sydney Webb hervor, über die Trotzki einige hervorragende Artikel schrieb. Sein Essay „Die fabianische ‚Theorie‘ des Sozialismus“ beginnt mit den Worten: „Wir warnen unsere Leser im Voraus, dass wir uns in einen ideologischen Ramschladen wagen, in dem der stickige Geruch von Kampfer die Motten nicht an ihrer Arbeit hindert.“

Ich muss jedoch zugeben, dass sogar diese Gestalten recht anständig wirken, wenn man das Material der linken Austrittsbefürworter von „Left Leave“ liest. Von Figuren wie George Galloway, der unter der Parole „Links, rechts, links, rechts, vorwärts Marsch zum Sieg am 23. Juni“ gemeinsam mit Nigel Farage von der UK Independence Party (UKIP) auftritt. Oder von den Anführern der Socialist Workers Party (SWP), die behaupten, ein Brexit würde zu einer Spaltung innerhalb der Konservativen Partei führen und Jeremy Corbyn an die Macht bringen.

So schrieb Alex Callinicos: „Ich habe keine Angst vor Boris Johnson. Wenn die Austrittsbefürworter gewinnen, wird es die Tory-Regierung zerstören und mit Cameron und Osborne zwei wichtige Persönlichkeiten dieser Regierung ausschalten... Es wird brutale, blutige Fraktionskämpfe geben, gegen die jene zu Thatchers Zeiten wie ein Kaffekränzchen wirken. Wenn die Austrittsbefürworter gewinnen, werden wir eine Chance haben, einen brutalen, unterdrückerischen Feind zu besiegen.“

Joseph Choonara, ebenfalls SWP-Führungsmitglied, schrieb: „Hier in Großbritannien tun einige, als würde der Brexit automatisch zu einem Rechtsruck führen. Aber wenn Cameron das Referendum verliert, wird es die herrschende Klasse schwächen und ziemlich sicher das Ende von Camerons eigener Laufbahn als Premierminister bedeuten. Die Tories wären in einer misslichen Lage. Ein potenzieller Nutznießer eines solchen Szenarios ist Jeremy Corbyn. Unter diesen Bedingungen würde ich eine Neuwahl begrüßen, und einen Sieg Corbyns. Dies wiederum würde der revolutionären Linken mehr Möglichkeiten geben.“

Diese Politik ist in zweierlei Hinsicht politisch kriminell. Zum einen ist Corbyn kein Sozialist. Wenn er, was unwahrscheinlich ist, Premierminister werden sollte, würde er sich nicht anders verhalten als Syriza-Parteichef Alexis Tsipras in Griechenland. Er ist ein bürgerlicher Politiker und hat immer wieder bewiesen, dass er sich nicht gegen die herrschende Klasse stellen wird.

Doch grundlegender ist Folgendes: Man kann den Kampf für den Sozialismus nicht an einen Flügel der Bourgeoisie delegieren. Der einzige Weg zum Sozialismus ist eine unabhängige politische Bewegung der Arbeiterklasse. Taktische Manöver und Versteckspiele mit rechten Teilen der Bourgeoisie sind kein Ersatz für eine solche Bewegung. Sie muss eine sozialistische Perspektive haben, mit offenen Augen kämpfen und alle Teile der herrschenden Klasse als Gegner betrachten.

Callinicos‘ Kernaussage, „Nach Boris kommt Jeremy“, erinnert an Ernst Thälmanns Erklärung „Nach Hitler kommen wir!“ Thälmann führte in den 1930er Jahren die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD).

Die deutsche Geschichte unterstreicht, dass die Arbeiterklasse für einen derartigen taktischen Opportunismus, für Abenteurertum und das Eintreten für Nationalismus einen hohen Preis bezahlt. Wie ich bereits erwähnt habe, ist Hitler nicht an die Macht gekommen, weil „das deutsche Volk“ ihn unterstützt hat. Er wurde von den deutschen Eliten an die Macht gebracht – dem Militär, den Industriellen und den rechten Parteien –, und das hauptsächlich deshalb, weil sie ein Werkzeug brauchten, um die Arbeiterklasse zu unterdrücken und den nächsten Krieg vorzubereiten. Er hatte zwar einen gewissen Rückhalt unter Teilen des Kleinbürgertums und des Lumpenproletariats, aber die großen Arbeiterparteien SPD und KPD hatten viel mehr Anhänger.

In der letzten Reichstagswahl im November 1932, nur zwei Monate vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, hatten diese beiden Parteien zwei Millionen Stimmen mehr als die Nazis. Die NSDAP erhielt weniger als ein Drittel der abgegebenen Stimmen. Deswegen ist die Behauptung, Hitler sei von der deutschen Bevölkerung an die Macht gewählt worden, eine Lüge. Er wurde von den deutschen Eliten an die Macht gebracht und von einem Teil der deutschen Bevölkerung unterstützt.

Die Arbeiterklasse war bereit zum Kampf. Sie hatte sogar bewaffnete Verteidigungsorganisationen, aber sie wurde von ihrer Führung gelähmt und verraten. Die SPD lehnte jeden Kampf gegen die Faschisten ab und verließ sich auf den bürgerlichen Staat, dessen Polizei und Justiz sich dann schnell auf Hitlers Seite stellten. Die KPD propagierte zwar weiterhin die soziale Revolution, aber sie war unter Stalins Einfluss desorientiert und entwickelte eine katastrophale politische Linie.

Viele von euch werden wissen, dass die KPD damals eine ultralinke Politik verfolgte, die als „Sozialfaschismus“ bezeichnet wird. Sie lehnte eine Einheitsfront mit den Sozialdemokraten gegen die faschistische Gefahr ab, wie sie von Trotzki gefordert wurde. Sie begründete das mit dem Argument, die Sozialdemokraten und die Faschisten seien Zwillinge und die SPD sei sozialfaschistisch. Diese Politik hatte katastrophale Folgen, sie führte zur Spaltung und Lähmung der Arbeiterklasse.

Weniger bekannt ist die Tatsache, dass sich hinter dieser ultralinken Fassade Fatalismus, Passivität und ein sehr rechter Inhalt verbargen. Die Theorie des „Sozialfaschismus“ war 1928 von der Komintern entwickelt worden. Auf ihrem 6. Weltkongress hatte sie die „dritte Periode“ ausgerufen, in der laut Stalin in allen Ländern alles direkt auf die soziale Revolution zulief. Nur ein halbes Jahr später wurde Trotzki, der sich gegen diese Linie aussprach, aus der Sowjetunion ausgewiesen. Es dauerte dann noch eine Zeitlang, bis alle Folgen dieser Politik sichtbar wurden.

Ein wichtiges Ereignis war der Volksentscheid gegen den Young-Plan im Dezember 1929. Eine Koalition aus rechten, nationalistischen Parteien und führenden Industriellen organisierte einen Volksentscheid gegen den Young-Plan, der Änderungen an den Reparationszahlungen aus dem Vertrag von Versailles vorsah.

Das Besondere an diesem Volksentscheid war, dass Hitlers NSDAP zum ersten Mal von den großen bürgerlichen Parteien als Koalitionspartner akzeptiert wurde. Sie wurde in das Bündnis eingeladen, das den Volksentscheid organisierte. Das war ein wichtiger Schritt für die Entwicklung der Nazis zu einer angesehenen Partei und bedeutete eine massive politische Stärkung.

Die KPD lehnte den Versailler Vertrag ab. Trotzdem weigerte sie sich, diesen rechten Volksentscheid zu unterstützen. In einer Erklärung, die sie dazu veröffentlichte, heißt es: „Die Kommunistische Partei lehnt beide Lager der bürgerlichen Reaktion ab [die Unterstützer und die Gegner des Volksentscheids] ... Die Reparationsfrage kann nur durch die proletarische Revolution gelöst werden.“

Hier mischte sich Stalin ein. Heinz Neumann, damals einer der drei wichtigsten Anführer der KPD, besuchte ihn in seinem Urlaub am Schwarzen Meer und schrieb der KPD einen Brief über ihre Unterhaltung. Darin hieß es, Stalin betrachte die Kampagne um den Young-Plan als „Schlüssel zum ‚Geheimnis‘ der plötzlichen Erfolge des Nationalsozialismus“.

Stalin betonte, die KPD dürfe nicht länger beiseite stehen und müsse „unbedingt eine schroffe Wendung durchführen“. Andernfalls erschienen „die Faschisten als die einzigen Vertreter der Volksinteressen und werden uns hunderttausende, vielleicht Millionen von Kleinbauern, städtische Mittelschichten, ja sogar Arbeitermassen, die von der Sozialdemokratie fortgehen, entreißen“. Mit anderen Worten, Stalin forderte die KPD auf, sich an den Nationalismus anzupassen.

Die KPD gehorchte. Im Sommer 1930 veröffentlichte sie eine „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“, in der sie den Nazis vorwarf, die nationalen Interessen der deutschen Arbeiter zu verraten. Sie kritisierte die Nazis nicht mehr von einem internationalistischen Standpunkt, sondern von rechts. Sie warf ihnen vor, sie würden die Interessen der Nation nur in Worten verteidigen, nicht aber in Taten.

Die KPD passte ihre gesamte Propaganda an diese nationalistische Linie an. 1931 machte sie die „Volksrevolution“, im Gegensatz zur proletarischen Revolution, zu ihrer offiziellen Parole. Trotzki schrieb dazu: „Es ist schwer, sich eine beschämendere prinzipielle Kapitulation vorzustellen als diejenige, die die stalinistische Bürokratie mit ihrer Ersetzung der Losung der proletarischen Revolution durch die der Volksrevolution vollzogen hat. Keine Spitzfindigkeiten, kein Spiel mit Zitaten, keine historische Fälschung kann darüber betrügen, dass es sich um einen prinzipiellen Verrat am Marxismus zum Zwecke besserer Nachahmung der faschistischen Scharlatanerie handelt.“

Diese Anpassung an die Parolen der Nazis ging einher mit der Verurteilung der SPD als Sozialfaschisten. Der Höhepunkt dieser Politik war der sogenannte „Rote Volksentscheid“ im August 1931. Die Nazis hatten ein Referendum gegen die Regierung von Preußen organisiert, das mit fast 80 Prozent der Gesamtfläche das größte Land des Deutschen Reichs war. Die preußische Regierung war in einer mächtigen Position, weil sie die Berliner Polizei und große Teile Deutschlands kontrollierte. Sie war eine wichtige Bastion des bürgerlichen Staates und wurde von einer Koalition aus SPD und Zentrum regiert. Der Volksentscheid hatte die Absetzung dieser Koalition zu Gunsten einer rechten Regierung zum Ziel.

Die KPD beschloss, den Volksentscheid zu unterstützen und nannten ihn den „Roten Volksentscheid“. Während sie zuvor eine Einheitsfront mit den Sozialdemokraten verweigert hatte, bildete sie jetzt eine Einheitsfront mit den Faschisten gegen die Sozialdemokraten. Obwohl sie die Faschisten in ihrer Propaganda weiterhin verurteilte und KPD-Mitglieder sich Straßenschlachten mit ihnen lieferten, passte sich die Partei eindeutig an diese rechten Figuren an.

Die Vorstellung, man könne mit den Faschisten Verstecken spielen, fand ihren schärfsten Ausdruck in Thälmanns Parole: „Nach Hitler kommen wir“. Danach war eine Machtübernahme der Faschisten kein großes Problem, weil es die Krise der Bourgeoisie verschärfen und der KPD die Machtübernahme ermöglichen würde. Es war eine absolut verantwortungslose Politik, die die Arbeiter lähmte, desorientierte und maßgeblich zu Hitlers Sieg beitrug.

Das Referendum scheiterte schließlich, weil die Arbeiter nicht bereit waren, dieser Linie zu folgen. Doch ein Jahr später, im Juli 1932, setzte Reichspräsident Hindenburg die preußische Regierung durch einen Erlass ab und setzte eine rechte Regierung unter der Kontrolle von Reichskanzler Franz von Papen ein, der später eine Koalition mit Hitler einging. Dies war ein wichtiger Schritt in der Vorbereitung der Machtübernahme der Nazis, da sie nun in der Lage waren, die preußische Polizei zu infiltrieren, die in den ersten Monaten des Jahres 1933 eine wichtige Rolle bei der Festigung von Hitlers Herrschaft spielte.

Als die preußische Regierung 1932 abgesetzt wurde, waren zahlreiche sozialdemokratische Arbeiter bereit, zusammen mit der KPD dagegen zu kämpfen. Selbst einige Führer der SPD wollten kämpfen, aber die KPD war nicht dazu bereit. Damit verpasste sie eine gute Chance, Hitlers Aufstieg zur Macht zu verhindern.

Die deutsche Arbeiterklasse zahlte für diesen taktischen Opportunismus einen hohen Preis. Die Vorstellung, man könnte die Rechte für seine eigenen Ziele benutzen und müsse nicht mit einer klaren, prinzipientreuen und sozialistischen Perspektive für eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse kämpfen, war der Hauptgrund, warum Hitler die Macht ergreifen konnte, warum die Arbeiterklasse nicht kämpfte, sondern paralysiert und demoralisiert war.

Die Kampagne für einen aktiven Boykott

Ich bin genauer auf diese Fragen eingegangen, weil sie die Bedeutung der Kampagne unserer britischen Genossen für einen aktiven Boykott verdeutlichen. Die SEP ist buchstäblich die einzige Organisation, die erklärt hat, worum es in diesem Referendum geht, die den reaktionären Charakter beider Lager entlarvt hat, und die für eine unabhängige Perspektive für die Arbeiterklasse kämpft – für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

Die Bedeutung dieser Tatsache lässt sich nicht überschätzen. Es wäre falsch, die Kampagne nur nach ihrer unmittelbaren Unterstützung zu beurteilen. Wir hatten noch keine Treffen mit hunderten und tausenden von Teilnehmern. Aber so gehen wir nicht an den Aufbau einer revolutionären marxistischen Partei heran. Es geht uns nicht darum, möglichst leicht Zugang zum derzeitigen Denkniveau der Arbeiterklasse zu finden, oder darum, möglichst leicht große Treffen zu organisieren.

Unser Ausgangspunkt ist die Analyse der objektiven Situation. Nicht unsere Parolen treiben die Arbeiterklasse in die Revolution, sondern die Krise des Kapitalismus, die wachsenden Klassengegensätze und das Gefühl, in der derzeitigen Gesellschaft keine Zukunft zu haben.

Doch die Geschichte hat auch gezeigt, dass die Entwicklung des Klassenkampfes nicht automatisch ein sozialistisches Bewusstsein schafft, dass sie die Krise der revolutionären Führung nicht löst. Das ist unsere Aufgabe. Wir können sie nicht bewältigen, wenn wir uns an die derzeitige Verwirrung anpassen. Wir können sie nur bewältigen, wenn wir die Krise des kapitalistischen Systems unentwegt analysieren, ein Verständnis davon entwickeln und innerhalb der Arbeiterklasse für dieses Verständnis kämpfen. Genau das tut die WSWS.

Es gab das Beispiel Ägyptens. Dort entwickelte sich eine massive revolutionäre Bewegung, nicht nur auf dem Tahrir-Platz, sondern auch in den großen Industriestädten und den Textilwerken, wo Millionen Arbeiter den Kampf aufnahmen. Diese Revolution wurde verraten und besiegt, weil eine revolutionäre Führung fehlte.

Es gibt aber auch das große Beispiel der russischen Oktoberrevolution, die sich nächstes Jahr zum 100. Mal jährt. Lenin und Trotzki kapitulierten im Frühjahr 1917 nicht vor den Illusionen der russischen Arbeiter in die Regierung Kerenski. Ihre Politik basierte auf einem gründlichen Verständnis der treibenden Kräfte der russischen Revolution, das sie über viele Jahre entwickelt hatten. Viele wichtige Werke, wie Lenins Imperialismus, widmen sich dieser Frage. Sie verstanden die russische Revolution nicht als nationales Ereignis, sondern als Teil der sozialistischen Weltrevolution im Kontext von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution.

Sie wussten, dass die Arbeiterklasse in Konflikt mit der provisorischen bürgerlichen Regierung geraten würde, und sie bereiteten sich darauf vor. Deshalb entwickelten sich die Bolschewiki im Laufe des Jahres 1917 zu einer Massenbewegung und konnten schließlich die Macht übernehmen.

Die Kampagne für einen aktiven Boykott des Referendums ist von enormer Bedeutung, weil die SEP ein historisches Beispiel gegeben hat. Sie hat eine beträchtliche Autorität aufgebaut. Sie wird von den Arbeitern immer mehr als eine Partei wahrgenommen werden, die für Prinzipien kämpft und ihre Politik nicht an opportunistischen Erwägungen ausrichtet. Und das wird sie in den bevorstehenden Klassenkämpfen zu einem Faktor machen.

Es ist auch wichtig, dass diese Perspektive nicht nur auf den Zuständen in Großbritannien basiert, sondern auf einem Verständnis der Entwicklungen in Europa und der Welt. Die Stärke von Trotzkis Perspektive von 1917 lag darin, dass sie auf einer Analyse des Weltkapitalismus beruhte. Nur so ließ sich die russische Revolution mit ihrem Potenzial und ihren Schwierigkeiten verstehen.

100 Jahre später, im einundzwanzigsten Jahrhundert, ist die Arbeiterklasse enorm gewachsen. In buchstäblich jedem Land der Welt gibt es eine riesige Arbeiterklasse. Unter diesen Umständen ist diese internationale Perspektive noch wichtiger. Die Arbeiter verfolgen internationale Ereignisse. Nach der ägyptischen Revolution übernahmen Arbeiter im amerikanischen Wisconsin ihre Parolen. Wenn eine revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse entsteht, breitet sie sich über die ganze Welt aus.

Was unsere Partei attraktiv macht, ist die Tatsache, dass wir zunehmend als Kämpfer für Prinzipien gesehen werden, als eine Partei, die sich nicht an Farage und andere rechte Figuren anpasst, die sich weder auf die Seite einer nationalistischen und immigrantenfeindlichen Kampagne stellt, noch auf die einer Kampagne zur Unterstützung der EU, eines Werkzeugs der großen Konzerne und Finanzinteressen in Europa.

Das Internationale Komitee kann sehr stolz sein auf die Arbeit seiner Genossen in Großbritannien und zuversichtlich auf die bevorstehenden internationalen Klassenkämpfe blicken.

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