Chris Marsden an der Humboldt-Universität Berlin

Das Brexit-Referendum und der Kampf für den Sozialismus

Am Freitag, den 17. Juni, sprach Chris Marsden an der Berliner Humboldt-Universität auf einer Versammlung der International Youth and Students for Social Equality. Der Nationale Sekretär der Socialist Equality Party (SEP) in Großbritannien erklärte, warum seine Partei im Referendum vom 23. Juni über die britische EU-Mitgliedschaft zu einem aktiven Boykott aufruft.

Chris Marsden spricht in der HU Berlin

Marsdens Rede wurde mit großem Interesse aufgenommen und lebhaft diskutiert. Auf die Frage, wie sich der Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox auf das Referendum auswirke, antwortete Marsden: „Dieses tragische Ereignis zeigt die zutiefst reaktionären Kräfte, die diese Kampagne hervorgebracht hat.“ Unmittelbar nach dem Mord hätten die Politiker die Kampagne kurz unterbrochen. Aber rasch sei der Mord von beiden Seiten politisch ausgeschlachtet worden.

Marsden ging auch auf die Frage ein, warum der frühere Bürgermeister von London, Boris Johnson, der bisher die EU-Mitgliedschaft befürwortet hatte, seine Meinung geändert hat und jetzt an der Spitze der Kampagne für einen Austritt steht. Die Banker und Spekulanten der City von London, die in der britischen Hauptstadt die Politik bestimmten, hätten bis vor kurzem von Geschäften mit der EU profitiert, sagte Marsden. Aber viele gingen jetzt davon aus, dass sich die Situation ändere. Eine nicht unwichtige Minderheit lehne die EU ab, weil sie darin ein sinkendes Schiff sehe. Das einzige, was in Europa wachse, seien die Probleme und Krisen, so dass sich das Interesse der Investoren von Europa weg auf Asien verlagere.

Auf die Behauptung, ein Verbleib in der EU könnte den Aufstieg des übelsten Nationalismus in Schach halten, betonte Marsden, die Einheit Europas sei eine Klassenfrage. „Die Einheit der europäischen Arbeiterklasse wird sich im Widerstand gegen die EU formieren, aber nicht durch die EU.“

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Ich empfinde es als Privileg, heute Abend auf dieser Versammlung vor deutschen Studenten, Jugendlichen und Arbeitern zu sprechen. Für mich persönlich ist es ein Vergnügen. Aber ich spreche hier zu politischen Fragen.

Chris Marsden

Vor drei Tagen hielt die Socialist Equality Party eine Versammlung in London, auf der mein heutiger Übersetzer, Peter Schwarz, der Hauptsprecher war. Er ist ein führendes Mitglied der Partei für Soziale Gleichheit und Sekretär des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

Er erklärte einem britischen Publikum, welche politische Bedeutung die Brexit-Abstimmung für die europäische Arbeiterklasse hat.

Nun bin ich hier, um Arbeiter und Jugendliche in Deutschland aufzufordern, in enge politische Verbindung mit der arbeitenden Bevölkerung in Großbritannien zu treten.

Ich möchte hier zu einem internationalen Kampf aufrufen, der sich nicht nur gegen die Europäische Union richtet, sondern auch gegen die Regierungen von Premierminister David Cameron, Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrer Kollegen auf dem ganzen Kontinent. Ich rufe dazu auf, Nationalismus in jeder Form abzulehnen, auch den Nationalismus, der sich als „links“ ausgibt. Ich werde für den Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa eintreten.

In weniger als einer Woche wird im Vereinigten Königreich abgestimmt. Jeder Tag bestätigt aufs Neue, wie richtig es ist, dass die SEP zu einem aktiven Boykott des Referendums aufruft. Ich will hier so kurz wie möglich erklären, wie wir zu dieser Entscheidung gekommen sind.

Die Socialist Equality Party ist ein unversöhnlicher Gegner der Europäischen Union. Die EU ist ein Werkzeug der herrschenden Klassen in Europa, die sie benutzen, um brutale Sparmaßnahmen durchzusetzen – am direktesten gegen die Arbeiter Griechenlands, Spaniens, Portugals und Irlands, aber auch gegen Arbeiter in Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Unser Premierminister Cameron hat sogar ein „Zeitalter der Sparpolitik“ ausgerufen. Seine Regierung setzt Kürzungen in Höhe von 210 Milliarden Pfund (273 Mrd. Euro) durch. Das entspricht zehn Prozent des britischen Bruttoinlandsprodukts. Zwanzig Prozent aller öffentlichen Arbeitsplätze werden so zerstört, Millionen weitere Stellen im privaten Sektor gestrichen und lebenswichtige Dienstleistungen abgeschafft.

Die EU ist zweitens ein Instrument der militärischen Aggression. Sie ist ein wichtiger Nato-Partner im eskalierenden Konflikt mit Russland und China, der darauf zurückgeht, dass die USA und die europäischen Regierungen die gesamten Märkte und Ressourcen der Welt kontrollieren wollen. Das gilt ganz besonders für die entscheidenden Öl- und Gas-Reichtümer, über die das Putin-Regime in Moskau verfügt, und für die gigantische Produktionskapazität, die dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping untersteht und Millionen ausgebeuteter Arbeiter beschäftigt.

Schließlich ist die EU ein Werkzeug, um die Festung Europa aufzubauen und zu kontrollieren. Sie ist verantwortlich für die schreckliche Behandlung Hunderttausender, die vor den Kriegen in Libyen, im Irak und in Syrien fliehen, an denen Großbritannien, Deutschland, Frankreich und viele andere mitbeteiligt sind. Sie ist weiter verantwortlich für den Tod Tausender, die im Mittelmeer ertrinken, und dafür, dass Zehntausende Menschen in Lager eingesperrt werden, die eigentlich Konzentrationslager sind.

Dennoch lehnt die SEP es ab, die reaktionären kapitalistischen Politiker zu unterstützen, die die berechtigte Feindschaft gegen die EU ausnützen und ausbeuten wollen.

Die Kampagne für den Austritt artikuliert die Interessen jenes Flügels der britischen herrschenden Klasse, der die EU-Mitgliedschaft als ein Hindernis, für die unbeschränkte Ausbeutung der Arbeiter als auch für die Freiheit der City of London von jeder Regulierung betrachtet, und die auf dem globalen Markt eine Führungsrolle gegen ihre europäischen Hauptrivalen Berlin und Paris spielen möchte. An ihrer Spitze stehen die rechtesten Vertreter der Tory-Partei, solche Leute wie Boris Johnson und Michael Gove und die UK Independence Party (UKIP) mit ihrem Führer Nigel Farage.

Aus diesem Grund ist ein aktiver Boykott die einzige Möglichkeit, wie Arbeiter einen unabhängigen Standpunkt einnehmen können.

Wir lehnen jene ab, die sich wie der Labour-Führer Jeremy Corbyn hinter die EU stellen und behaupten, man könne damit die Tory-Partei unter Kontrolle halten, die Arbeiterrechte verteidigen und die EU reformieren. Corbyn lügt. Als seine Verbündeten bezeichnet er den Syriza-Führer Alexis Tsipras in Griechenland und die Regierung François Hollandes von der Sozialistischen Partei Frankreichs.

Syriza hat ihr Wahlversprechen gegen die Sparpolitik verraten und neue verheerende Sparmaßnahmen unterzeichnet, die sie in offenen Konflikt mit der Arbeiterklasse gebracht haben. Sie hat ihr Verhalten damit begründet, nur so in der EU bleiben zu können. Hollande mobilisiert zur Stunde sogar Bereitschaftspolizei gegen Arbeiter, weil sie gegen seine Pläne protestieren, rechte und arbeiterfeindliche Sparmaßnahmen und Kürzungen durchzusetzen.

Wir lehnen auch solche pseudolinken Gruppen ab wie die Socialist Workers Party, die mit Marx21 verbunden ist, und die Socialist Party, die Schwesterorganisation der SAV.

Sie behaupten, es spiele keine Rolle, dass die Rechten die Austritts-Kampagne dominieren. Sie sagen, ein Austritts-Votum werde die Tory-Partei spalten und das Zustandekommen einer Labour-Regierung unter Jeremy Corbyn beschleunigen, der dann Maßnahmen gegen die Sparpolitik ergreifen würde.

So räumt zum Beispiel Sally Campbell von der SWP ein: „Jeremy Corbin hat schon früh, als er die Parteiführung übernahm, einem Deal zugestimmt, er werde die britische Mitgliedschaft in diesem Club neoliberaler Bosse, als den er die EU bezeichnet, nicht länger anfechten. In dieser Frage hat er im Interesse der ‚Parteieinheit‘ einen Kompromiss geschlossen.“

Aber Jeremy Corbyn tut von morgens bis abends nichts anderes, als „im Interesse der Parteieinheit“ Kompromisse zu schließen!

Weiter behauptet Campbell, dies spiele keine Rolle, weil es angeblich „unwahrscheinlich“ sei, dass Corbyn als Führer der Labour Party in nächster Zeit abgesetzt werde: „Wenn die Tories sich gegenseitig bekämpfen und die nächsten drei Jahre weitere offene oder verdeckte Führungskämpfe austragen, wird Corbyn davon profitieren.“

Dies sagte sie sogar noch, als Corbyn schon die Schlüsselfigur in der Kampagne für den Verbleib in der EU geworden war.

Auf einen solchen Unsinn mussten wir ständig mit dem einfachsten Argument antworten: dass nämlich eine Stimme für eine rechte Position – die Rechten stärkt!

Vor allem erklären wir in unserem Statement zum Brexit-Referendum: „Die Hauptsorge von Sozialisten gilt nicht einfach den heutigen Interessen der Arbeiterklasse, sondern vor allem auch ihrer Zukunft. Die größte politische Gefahr besteht in der aktuellen Situation darin, zugunsten eines vermeintlich ‚linken Nationalismus‘ die Klassenbanner zu vermischen.“

Ich kann hier nicht auf jedes Beispiel des verkommenen und erbärmlichen Charakters sowohl des Austritts- als auch des Verbleib-Lagers eingehen. So werde ich mich auf zwei Fragen konzentrieren: Erstens: Für beide Lager ist die Ablehnung von Immigranten zur Schlüsselfrage in der Referendumskampagne geworden. Und zweitens: Das drohende Auseinanderbrechen der EU verschärft nationale Antagonismen, die die Gefahr von Diktatur und Krieg beinhalten.

In beiden Fragen wird deutlich, wie kriminell es ist, zu behaupten, dass die Arbeiterklasse irgendwie automatisch profitieren würde, wenn die EU auf der Grundlage einer nationalistischen Kampagne zerfallen würde.

Im April stand auf der Website der Befürworter eines so genannten „linken“ EU-Austritts („Left Leave“) folgende Behauptung: „Viele, besonders auf der Linken, sagten voraus, dies werde eine bösartige, von Rassismus beherrschte Kampagne, in der Nigel Farage und Ukip das Sagen hätten… Aber so ist es nicht gekommen.“ Die Kampagne habe sich stattdessen als „langweilig“ herausgestellt.

Keine Behauptung wurde je auf so schreckliche Weise widerlegt. Erst gestern wurde die Abgeordnete Jo Cox von einem 52-jährigen Mann mehrfach niedergestochen und dann erschossen, der wiederholt „Britain First!“ (Großbritannien zuerst) ausrief. Cox, eine bekannte Vertreterin des Verbleib-Lagers, starb eine Stunde später. „Britain First“ ist eine faschistische Gruppe, die physische Angriffe auf muslimische Labour-Abgeordnete im Namen des Kampfs gegen die so genannte „Islamisierung Großbritanniens“ befürwortet.

Der Täter soll psychisch krank sein. Aber es deutet immer mehr darauf hin, dass er gleichzeitig ein Sympathisant der Faschisten ist. Er ist jemand, der seit Jahren im nationalistischen Gift schmorte. Er hatte Verbindungen zu einer rassistischen Website in Südafrika, besorgte sich über faschistische Websites in den Vereinigten Staaten Instruktionen, wie man ein Gewehr baut, und bestellte Schriften von Hitler. Und dann, mitten in dieser Kampagne, bricht es aus ihm heraus und er wird auf entsetzliche Weise gewalttätig.

Warum gerade jetzt? Seine Taten sind vor allem ein Ausdruck des reaktionären politischen Klimas und der sozialen Kräfte, die diese Referendumskampagne entfesselt hat.

Am gleichen Tag als Cox ermordet wurde, veröffentlichte Ukip-Führer Nigel Farage das jüngste Plakat seiner Austritts-Kampagne. Neben einer langen Schlange verzweifelter Flüchtlinge stehen die Sätze: „Grenze der Belastbarkeit. Die EU hat uns alle im Stich gelassen. Wir müssen von der EU brechen und die Kontrolle über unsere Grenzen zurückgewinnen.“

In den Medien wurde das Plakat mit einem anderen Bild verglichen, das aus einem Nazi-Propagandafilm stammt – mit beinahe identischer Botschaft. Hier der Kommentar, der in diesem Nazi-Propagandafilm dazu abläuft:

„Das sind jene Ostjuden, die besonders nach dem Weltkrieg die Großstädte Mittel- und Westeuropas überschwemmten, wo sie als Parasiten ihre Gastvölker zersetzten und tausendjährige Kulturen zu vernichten drohten. Wo sie auch auftauchten, brachten sie Verbrechen, Korruption, und Chaos mit sich.“

Die Botschaft ist die gleiche! Jeder kennt sie. Man muss nur das Wort „Juden“ durch „Muslime“ ersetzen.

Nur einen Tag davor veröffentlichte die Website Leave.EU, die von Ukips größtem Sponsor finanziert wird, eine Karikatur. Darauf ist die EU als sinkendes Schiff gezeichnet. Die Ursache ist eine Immigrantenwelle, in der Muslime als Terroristen, Diebe und Vergewaltiger dargestellt sind. Einer von ihnen bedroht eine arisch aussehende Meerjungfrau am Schiffsbug mit den Worten: „Ficke! Ficke!“

Nun zu der Behauptung, Farage sei kaltgestellt worden: In Wirklichkeit ist Farage heute allgegenwärtig. Er ist der britische Politiker, der gegenwärtig am meisten im Fernsehen auftritt. Er liefert sich Rededuelle mit Cameron auf ITV und tritt in verschiedenen BBC-Sendungen auf.

Farage hat nicht Unrecht, wenn er sich damit brüstet, dass die fremdenfeindliche Politik von Ukip heute den Grundtenor beider Lager bestimmt. Auf der Website von Breitbart sagt er: „Die heutigen Titelseiten signalisieren einen wirklichen Wendepunkt in der britischen Politik. Die zwei Männer, die als Camerons Nachfolger als Premierminister die besten Chancen haben, bekennen sich beide jetzt öffentlich zu einem Punktesystem für Einwanderer, wie es in Australien existiert. Jetzt können sie nicht mehr zurück. Und was noch besser ist: Boris Johnson hat vorgeschlagen, dass Einwanderer Englisch sprechen müssen.“

Die Reaktion der Verbleib-Kampagne besteht darin, mit der Austritts-Kampagne darin zu wetteifern, wer die beste Politik hat, um Einwanderer zu stoppen. Sie präsentieren die Festung Europa als beste Garantie gegen die Ankunft von Flüchtlingshorden. Und vor kurzem hat das Verbleib-Lager sogar die Position des Austritts-Lagers übernommen, das Recht auf Freizügigkeit für EU-Bürger abzuschaffen.

Die Labour-Party steht an der Spitze dieses Schwenks. So beschwert sich die Labour-Abgeordnete Yvette Cooper über die konservative Innenministerin, Theresa May, diese habe in der Kampagne überhaupt nichts über Immigration gesagt. Weiter sagt Cooper: „Wenn Großbritannien nächstes Jahr die EU-Präsidentschaft übernimmt, sollten wir das nutzen, um innerhalb der EU eine Vereinbarung zu treffen…, wie wir die Wirtschaftsmigration kontrollieren und stoppen können.“

Alan Johnson, der offizielle Labour-Führer der Verbleib-Kampagne, erklärte: „Wenn jemand glaubt, dass unsere Grenze in Calais (Frankreich) auch nach einem EU-Austritt noch bestehen bleibt, dann hängt er Phantasien nach.“ Der frühere Labour-Schatten-Schatzkanzler Ed Balls erklärte: „Wir müssen Europa unter Druck setzen, damit es die Grenzen wieder ordentlich befestigt und neue Kontrollen gegen Wirtschaftsmigration einführt.“

Balls erhielt Unterstützung von anderen Labour-Abgeordneten. Der stellvertretende Parteichef Tom Watson erklärte: „Ich glaube, ein künftiges Europa wird sich um Dinge wie die Regeln zur Freizügigkeit von Arbeitskräften kümmern müssen.“ Praktisch täglich verkündet ein führender Labour-Politiker im Guardian, dem Sprachrohr der sogenannten „liberalen Linken“ in Großbritannien: „Bei der Zuwanderung läuft etwas schief.“

So viel zu den fortschrittlichen Auswirkungen einer Labour-Regierung unter Corbyn!

Je näher die Abstimmung rückt, desto offener erklären die Austritts-Befürworter, dass ihre Kampagne letztlich auf eskalierende nationale Gegensätze zurückgeht, und die Austrittsgegner warnen immer offener davor, dass der Austritt diese Feindseligkeiten verschärfen und zum Zerfall der EU führen wird.

Einige Kommentare nennen insbesondere Deutschland als Gefahr für die EU. Rupert Murdochs Zeitung The Sun schrieb in einem Leitartikel: „Wenn wir bleiben, wird Großbritannien in wenigen Jahren von diesem immer weiter expandierenden, von Deutschland beherrschten Föderalstaat erdrückt werden.“

Dr. Robert Lefever hetzt in der Daily Mail: „Ein föderales Europa wird ein deutscher Superstaat sein… Das alarmierend rasche Endergebnis wird sein, dass sich Großdeutschland (derzeit Euroland genannt) ebenso zu einer Kolonialmacht entwickelt wie das kommunistische Russland in der Sowjetunion… Der Glaube, eine Herrenrasse zu sein, ist in Deutschland noch immer weit verbreitet. Wer den Zweiten Weltkrieg als ‚Hitlers Krieg‘ bezeichnet, unterschätzt, wie viel Unterstützung er in der Bevölkerung hatte. Andere europäische Staaten fürchten die deutsche Vorherrschaft aus gutem Grund.“

Es wird immer klarer, welche Auswirkungen das Aufleben solcher nationaler Spannungen auf einem Kontinent hat, der zweimal Schauplatz eines Weltkriegs war. Die Bourgeoisie fühlt sich zu panischen Reaktionen provoziert. In einem Bericht der amerikanischen Brookings Institution heißt es:

„Der Brexit würde zu einem weltweiten Rückgang der Aktienkurse führen, da Investoren die Auswirkungen des Referendums auf die britische Wirtschaft fürchten. Er könnte außerdem der erste Schritt zum Zerfall der Europäischen Union sein… Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass Schottland ein neues Referendum über die Sezession von Großbritannien abhält, wie es bereits stattgefunden hat. Auch Nordirland wäre betroffen, das bisher eine Zeit relativen Friedens genossen hat. Außerdem würde es in Europa zu weiteren regionalen Abspaltungen kommen.“

Es droht nicht nur der Zerfall der Europäischen Union, sondern auch der Zerfall von Nationalstaaten. So warnt der OSZE-Generalsekretär Angel Gurria: „Der Brexit würde sowohl die Einheit des Vereinigten Königreichs als auch die Einheit der Europäischen Union in Frage stellen.“

Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rats, sprach eine noch apokalyptischere Warnung aus: „Als Historiker fürchte ich, dass dies der Beginn eines Prozesses ist, der nicht nur zur Zerstörung der EU führt, sondern auch zur Zerstörung der westlichen politischen Zivilisation.“

Der Brexit ist jedoch nicht die Ursache für den Zerfall der EU, sondern Ausdruck eines länger andauernden Prozesses. Die nationalen Gegensätze, die sich in ihm ausdrücken, haben ihre Wurzeln in den Widersprüchen des Kapitalismus. Er ist das Ergebnis der Versuche rivalisierender Nationalstaaten, die globalen Märkte und Rohstoffe zu kontrollieren. Das ist auch die Triebkraft für koloniale Eroberungskriege und Handelskriege, und letztlich für Krieg zwischen den imperialistischen Mächten selbst.

Dieser Kampf auf Leben und Tod, den eine sagenhaft reiche Finanzoligarchie führt, ist gleichzeitig der Schlüssel, um die Offensive gegen die Arbeiterklasse zu verstehen, die in allen Ländern im Namen der „globalen Wettbewerbsfähigkeit“ geführt wird.

Die daraus entstehenden Klassengegensätze bilden die objektive Grundlage für die Entwicklung einer Massenbewegung gegen das kapitalistische Profitsystem. Dazu muss die sozialistische Partei der Arbeiterklasse vor allem jene „linken“ Vertreter des Nationalismus entlarven, die die Arbeiter drängen, sich auf der nationalen Scholle zu verschanzen und eine Art Festungswirtschaft gegen die Übel der Globalisierung zu errichten.

Vom Standpunkt der historischen Interessen der Arbeiterklasse kann es keinen größeren Verrat geben. Wer nationale Spaltungen zwischen Arbeitern schürt, überlässt die politische Initiative Gruppen wie dem Front National in Frankreich, dessen Führerin Marine Le Pen sich mittlerweile „Madame Frexit“ nennt, oder der AfD in Deutschland. Letzten Endes ebnen sie damit den Weg für Faschismus und Krieg und bringen erneut Barbarei und Zerstörung über die Völker Europas.

Die EU bricht auseinander, und viele ihrer Mitgliedsstaaten, darunter auch Großbritannien, zerbrechen. Und es ist nicht unsere Aufgabe, sie zu retten.

Wir wollen die EU und die Nationalstaaten durch eine höhere gesellschaftliche Form ersetzen: die Vereinigung der Arbeiterklasse über die nationalen Grenzen hinweg in einem gemeinsamen Kampf gegen die herrschende Klasse und ihre Regierungen. Die enormen Produktivkräfte des Kontinents könnten auf diese Weise der Mehrheit zur Verfügung gestellt werden und würden die Grundlage bieten, jedem ein reichhaltiges und erfülltes Leben zu ermöglichen.

Die arbeitende Bevölkerung hat im Grunde nur die folgende Wahl: Entweder Nationalismus, soziale und politische Reaktion und Krieg – oder sozialistischen Internationalismus.

Wir stellen die parlamentarische Herrschaft in London oder Berlin nicht der in Brüssel entgegen als wäre die erstere eine Art echte „Demokratie“ oder sogar „Selbstbestimmung“. Hinter diesen hochtrabenden Phrasen verbirgt sich die Tatsache, dass eine parasitäre, superreiche Elite über die Arbeiterklasse herrscht und das Leben von Millionen Menschen zerstört. Wir wissen, dass echte Demokratie nur auf der Grundlage eines egalitären Systems ohne Klassenunterdrückung möglich ist.

Wir unterstützen keine Fraktion der kriminellen Parasiten, die das Leben von Millionen Menschen zerstört haben und nun die Referendums-Kampagne führen. Wir bestehen darauf, dass die Verbündeten der britischen Arbeiter die Arbeiter in Deutschland, Europa und der ganzen Welt sind.

Die Ereignisse in Griechenland, Frankreich und Belgien zeigen, dass die Arbeiterklasse einmal mehr in den Kampf getrieben wird. Unter der Führung einer Partei, die gestählt ist in den reichen Lehren der Geschichte, verkörpert im Programm und der Perspektive des Trotzkismus, wird sie sich als die mächtigste politische und soziale Kraft erweisen, die die Welt je gesehen hat.

Dem Ruf nach einer Rückkehr zum Nationalstaat mit befestigten Grenzen halten wir den Schlachtruf von Marx entgegen: Proletarier aller Länder vereinigt Euch!

Die europäischen Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die SEP und die PSG, bieten der Arbeiterklasse, vor allem der jungen Generation, eine internationalistische und sozialistische Alternative an. Ich appelliere an euch alle, gründlich über meine Worte nachzudenken und euch dafür zu entscheiden, euer Leben diesem alles entscheidenden Kampf für den Sozialismus zu widmen.

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