Weniger Flüchtlinge, mehr Tote im Mittelmeer

Innerhalb von nur 48 Stunden sind mehr als 9.500 Flüchtlinge vor der westlibyschen Küste aus Seenot gerettet worden. Bei den dramatischen Rettungsaktionen konnten mindestens zwei Flüchtlinge nur noch tot geborgen werden. Die Zahl der Flüchtlinge, die in diesem Jahr über die zentrale Mittelmeerroute von Libyen nach Italien gelangten, stieg damit auf mehr als 112.000. Mehr als 3.167 Flüchtlinge sind in den ersten acht Monaten dieses Jahres während der Überfahrt nach Europa ums Leben gekommen.

Alleine am vergangenen Montag wurden bei 40 Rettungseinsätzen 6.500 Flüchtlinge von völlig überfüllten Booten gerettet. An den Rettungsaktionen waren neben Schiffen der italienischen Marine und Küstenwache auch Boote von Nichtregierungsorganisationen beteiligt. Am Dienstag wurden bei 30 Rettungseinsätzen nochmals etwa 3.000 Flüchtlinge aus dem Meer gefischt. Aufgrund des guten Wetters und der derzeit ruhigen See wagen wieder vermehrt Flüchtlinge die gefährliche Überfahrt nach Europa.

Die Rettungsaktionen dieser Woche können jedoch nicht über die desaströsen Folgen der europäischen Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge hinwegtäuschen. Untersuchungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zeigen einen dramatischen Anstieg der auf der Überfahrt nach Europa Ertrunkenen, obwohl die Zahl der an Europas Küsten gestrandeten Flüchtlinge in den ersten acht Monaten stark zurückgegangen ist.

Die IOM registrierte bis Ende August insgesamt etwa 280.000 Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa gelangten. Von Januar bis Dezember 2015 waren es noch über eine Million gewesen.

Während in den ersten drei Monaten dieses Jahres noch annähernd 160.000 Flüchtlinge über die Ägäis nach Griechenland kamen, ist dieser Fluchtweg wegen der Schließung der Balkanroute und des schmutzigen Deals der Europäischen Union mit der Türkei inzwischen nahezu völlig versperrt. Die Zahl der Ankünfte in Italien ist hingegen im Vergleich zum letzten Jahr, als in den ersten acht Monaten 116.000 Flüchtlinge registriert wurden, nahezu konstant geblieben.

Die zentrale Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien forderte mit 2.728 die höchste Zahl an Todesopfern. In der Ägäis ertranken 386 Flüchtlinge auf der Überfahrt und auf der westlichen Mittelmeerroute zwischen Marokko und Spanien 53. Die Zahl der Todesopfer hat damit schon jetzt fast das Vorjahresniveau erreicht, als insgesamt 3.673 Flüchtlinge die Überfahrt nicht überlebten.

Das Mittelmeer ist damit die mit Abstand gefährlichste Flüchtlingsroute weltweit. Jeder 29. Flüchtling, der sich von Libyen oder Ägypten aus auf den Weg nach Europa macht, ertrinkt während der Überfahrt – im Schnitt 13 Flüchtlinge täglich.

Die Hauptverantwortung für dieses Massensterben tragen nicht skrupellose Schleuser, die Migranten auf seeuntüchtige Boote zwingen, sondern die europäischen Regierungen, die vehement jeden Zuzug von Flüchtlingen verhindern. Sie blicken nicht nur gleichgültig auf die unzähligen Todesopfer ihrer menschenverachtenden Flüchtlingspolitik, sondern betrachten sie als nützlichen Kollateralschaden ihrer Abschreckungspolitik.

Als im November 2014 die italienische Marinemission „Mare Nostrum“, die mehr als 100.000 Flüchtlinge im Seegebiet zwischen Libyen und Italien gerettet hatte, eingestellt und durch die Frontexmission „Triton“ ersetzt wurde, kam die EU-Grenzschutzagentur bereits zu dem Schluss, „dass der Rückzug von Marineeinheiten aus dem Seegebiet nahe der libyschen Küste ... wahrscheinlich zu einer höheren Anzahl von Todesfällen führt“. Dadurch würden aber, so Frontex damals, „deutlich weniger Migranten die Überfahrt bei schlechtem Wetter wagen und die Preise für die Überfahrten steigen“.

Mittlerweile operieren europäische Marineverbände der Mission „Eunavformed – Sophia“ in dem Seegebiet. Doch da sie nicht als Rettungsmission fungieren, sondern als Kampfeinsatz gegen Menschenschmuggel, sind sie nicht in das SOS-System der italienischen Küstenwache eingebunden. Die militärischen Schiffe werden vom Radar der Küstenwache gar nicht erfasst. Die Einsatzzentrale der italienischen Küstenwache muss immer erst beim Stab von Kommandeur Enrico Credendino nachfragen, ob Marineschiffe in der Nähe einer Havarie eines Flüchtlingsbootes unterwegs sind.

Die Militarisierung des Mittelmeeres, mit der die EU regelrecht Krieg gegen Flüchtlinge führt, soll zukünftig noch ausgeweitet werden, indem auch die Küstenwachen nordafrikanischer Staaten verstärkt in die Abschottungspolitik der Europäischen Union einbezogen werden.

Bereits im September beginnen Marineeinheiten der Mission „Sophia“ mit der Ausbildung der libyschen Küstenwache und Marine. Eine entsprechende Vereinbarung hat die EU kürzlich mit der libyschen „Einheitsregierung“ getroffen.

Was als Kampf gegen skrupellose Schlepper und illegalen Waffenhandel dargestellt wird, richtet sich in erster Linie gegen die Flüchtlinge selbst. Das zeigen zwei Fälle, in denen die libysche Küstenwache Rettungsschiffe von Menschenrechtsorganisationen unter Beschuss nahm.

Bereits im April attackierte ein libysches Schnellboot ein Schiff der Organisation „Sea-Watch“ außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer. Bewaffnete stürmten das Schiff unter dem Vorwand, es werde der illegalen Fischerei verdächtigt, und schüchterten die Besatzung mit Schüssen ein.

Am 17. August geriet die Bourbon Argos der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, die für einen Rettungseinsatz in internationalen Gewässern nördlich der libyschen Küste unterwegs war, ins Fadenkreuz der libyschen Küstenwache. Schüsse eines libyschen Schnellboot beschädigten die Brücke der Bourbon Argos, die anschließend geentert und fast eine Stunde lang durchsucht wurde.

Trotzdem verlängerte die Europäische Union die Mission EUBAM, die dem Aufbau des libyschen Militärs und der Polizei dient. EUBAM hat die Aufgabe, „eine mögliche zukünftige EU-Mission zu planen, die im Bereich Strafjustiz, Migration, Grenzschutz und Terrorismusbekämpfung Beratung bieten und den Kapazitätsaufbau vorantreiben soll“, wie es im Beschluss der EU-Außenminister heißt.

Auch die Nato will sich an der Aktion beteiligen. Bereits am 9. Juli gab Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Überführung der 2001 ins Leben gerufenen Marinemission „Active Endeavor“ in die Mission „Sea Guardian“ bekannt, die vor der libyschen Küste operiert.

Ein Ziel ist dabei der Aufbau einer Präsidialgarde, die es dem von der EU und den USA installierten Ministerpräsidenten der Einheitsregierung, Fajis as-Sarradsch, ermöglichen soll, seine Marinebasis bei Tripolis zu verlassen, um größere Gebiete unter seine Kontrolle zu bringen. Unter anderem soll es so möglich werden, Flüchtlinge, die von Libyen aus nach Europa gelangen, umgehend wieder in das nordafrikanische Land abzuschieben, was insbesondere die deutsche Regierung anstrebt.

Die Menschenrechtsorganisation ProAsyl prangert dieses menschenverachtende Vorgehen zu Recht an. „Die libysche Küstenwache zu befähigen, Flüchtlingsboote aufzugreifen und Schutzsuchende zurück nach Libyen zu verbringen, ist Beihilfe zu schwersten Menschenrechtsverletzungen“, schreibt ProAsyl. Misshandlungen und Folter sind in den libyschen Internierungslagern, in denen Flüchtlinge gefangen gehalten werden, an der Tagesordnung.

Während die USA und ihre europäischen Verbündeten die Kriege in Syrien und in Libyen eskalieren und damit weitere Millionen in die Flucht treiben, versperrt ihnen die Europäische Union die Fluchtwege. Mit grenzenlosem Zynismus treibt sie Flüchtlinge, die vor den Folgen ihrer eigenen, aggressiven Außenpolitik fliehen, auf immer gefährlichere Routen oder lässt sie durch Marionettenregime in Transitstaaten gefangen nehmen.

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