Perspektive

Der Angriff auf Mossul und die imperialistische Heuchelei

Die lange geplante, von den USA gelenkte Offensive zur Rückeroberung der Stadt Mossul vom islamischen Staat (IS) hat begonnen. Montagmorgen verkündete der irakische Premierminister Haider al-Abadi im nationalen Fernsehen: „Heute erkläre ich den Beginn dieser siegreichen Operationen.“

Der Angriff auf Mossul bringt die grenzenlose Heuchelei zutage, mit der die USA und Europa ihre Resolutionen in den Vereinten Nationen verfassen. Er entlarvt auch das unablässige Medientrommelfeuer. Die von Russland unterstützte syrische Armee wird aufgrund ihres Versuchs, den östlichen Teil Aleppos von den islamistischen Milizen zurückzuerobern, der „Kriegsverbrechen“ gegen Zivilisten beschuldigt. Derweil eröffnen die USA, ihre Verbündeten und ihre Marionettenregierung in Bagdad einen brutalen Angriff gegen eine viel größere Stadt im Irak, in der anderthalb Millionen Zivilisten, darunter 600.000 Kinder, eingeschlossen sind.

Lise Grande, die Uno-Koordinatorin für humanitäre Hilfe, erklärte am Wochenende gegenüber der New York Times: „Die Vereinten Nationen sind zutiefst beunruhigt, dass im Extremfall die Operation in Mossul die komplexeste und größte im Jahr 2016 sein könnte, und wir befürchten, dass nicht weniger als eine Million Zivilisten zur Flucht gezwungen sein könnten.“

Die New York Times begrüßt in ihrem Leitartikel vom 14. Oktober dennoch den „bevorstehenden Kampf um Mossul“. Sie erklärt, die Stadt müsse von der „Herrschaft der Terroristen befreit werden“ – ohne Rücksicht auf die menschlichen Kosten. Knapp zwei Wochen zuvor wurde Russland in einem Leitartikel dieser Zeitung als „Unrechtsstaat“ beschimpft, weil es den Angriff auf Aleppo unterstützte, der „das Leben von 250 000 Menschen bedroht“.

Aus der Sicht der imperialistischen Heuchler besteht zwischen den beiden Schlachten folgender Unterschied: Die extremistischen islamistischen Gruppen, die in Aleppo angegriffen werden, haben die Unterstützung Washingtons und der europäischen Mächte und dienen dem Versuch, die von Russland unterstützte syrische Regierung zu stürzen. Aus diesem Grund gelten zivile Opfer dort als „Kriegsverbrechen“.

Den IS dagegen sieht die Washingtoner Regierung als Hindernis an, weil er die Waffen und Rekruten, die er sich aufgrund der US-gelenkten Intrigen in Syrien verschaffte, 2014 benutzt hat, um große Gebiete im Westen und Norden des Iraks einzunehmen. Er bedroht das US-Marionetten-Regime in Bagdad und die kurdischen Gebiete. Aus diesem Grund gelten Zivilisten, die bei der Wiedereroberung von Mossul getötet werden, als „Kollateralschäden“.

Die amerikanischen Ziele in Syrien und im Irak sind jedoch die gleichen: Es geht darum, die beherrschende Stellung der USA über die wichtigste ölproduzierende Region der Welt zu sichern.

Bis zu 20.000 Soldaten der irakischen Armee und 10.000 kurdische Peschmerga-Kämpfer greifen Mossul an. Verstärkt werden sie von 6000 irakischen Polizisten, von Tausenden IS-feindlichen christlichen, turkmenischen und sunnitischen Milizionären. Hinzu kommen tausende weitere Kämpfer, die Anhänger der schiitischen Parteien, die das Regime in Bagdad kontrollieren.

Hinter den Kulissen überwacht und befehligt das US-Militär den Angriff. Amerikanische, britische, französische, australische und jordanische Kampfjets unterstützen die verschiedenen Regierungseinheiten aus der Luft. Die US-Marine und französische Armeeeinheiten geben Artillerieunterstützung. Hunderte von amerikanischen, britischen, australischen, deutschen und italienischen Spezialeinheiten und „Ausbilder“ sind an dem Kampf beteiligt. Sie beraten die irakischen und kurdischen Einheiten und führen Regie bei den Luft- und Artillerieangriffen.

Die US-gestützten Truppen im Irak werden für mindestens genauso viel Gräueltaten verantwortlich sein, wie sie das russische Regime und sein syrischer Klientelstaat in Aleppo verüben. Der Angriff auf die im Westen des Iraks gelegene Stadt Falludscha Anfang des Jahres lässt erahnen, wie der Angriff auf Mossul vonstattengehen wird. Ganze Stadtteile werden aus der Luft und vom Boden aus in Schutt und Asche gelegt, egal wie viele verzweifelte Zivilisten in den Häusern Zuflucht suchen. Man wird die Elektrizitäts- und Wasserversorgung, sowie die Kanalisation der Stadt zerstören. Medizinische Dienste und das Transportwesen werden nicht mehr funktionieren.

Die mögliche Zerstörung von Mossul und die große Zahl an zivilen Opfern werden schon im Voraus wegen des fanatischen Widerstands des IS als unvermeidbar gerechtfertigt. Die Schätzungen über die Zahl der in Mossul verbliebenen IS-Kämpfer reichen von ein paar Tausend bis zu mehr als 10.000. Reißerische Berichte tauchen jetzt darüber auf, dass sich der IS gründlich auf langwierige Straßenkämpfe vorbereitet habe. Offizielle Vertreter der USA und des Iraks zitieren Einwohner von Mossul und berichten den Medien, Gebäude und Autos seien mit Sprengstoff versehen, umfassende Minenfelder ausgelegt und Straßensperren auf den Hauptverkehrsadern errichtet worden. Angeblich wurde ein Tunnelsystem gebaut, das die verschiedenen Teile der Stadt miteinander verbinden soll.

Die Stadt Mossul muss jetzt – wie es US-Militärs in Bezug auf die vietnamesische Stadt Bến Tre 1968 erklärten – zerstört werden, um „gerettet“ zu werden.

Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und dem Wohlergehen der Bevölkerung der Stadt zeigt sich in den Flugblättern, die Samstagnacht zu Zehntausenden über der Stadt abgeworfen wurden. Laut einem Bericht von Reuters rät eins der Flugblätter: „Bleibt ruhig und erzählt euren Kindern, dass [die Bombardierungen] nur ein Spiel sind oder der Donner vor dem Regen… Die Frauen sollten nicht kreischen und schreien, um die Kinder nicht zu erschrecken.“ Ein weiteres Flugblatt warnt unheilvoll: „Wenn ihr Truppen seht, bleibt mindestens 25 Meter davon entfernt und vermeidet plötzliche Bewegungen.“

Die Iraker, die ihre „Befreiung“ vom IS überleben, werden anschließend gezwungen, aus den unbewohnbaren Ruinen zu fliehen und in überfüllten Flüchtlingslagern Zuflucht zu suchen. Keine ernsthaften Vorbereitungen wurden getroffen, um mit einer derartigen Situation fertig zu werden. Es gibt keine Zeltstädte mit Kliniken und Vorräten an Wasser und Lebensmitteln. Hilfsorganisationen befürchten, dass Zehntausende durch Verletzungen, Strahlenbelastung, Krankheiten, Wassermangel oder an Hunger sterben werden.

Der Angriff auf Mossul reiht sich ein in die lange Liste von Gräueltaten und Verbrechen, die dem irakischen Volk vom US-Imperialismus und seinem Militärapparat seit mehr als 25 Jahren zugefügt werden. Der Grund ist das Streben des US-Imperialismus nach Vorherrschaft über eine der rohstoffreichsten und strategisch bedeutendsten Regionen der Welt.

Tausende von Todesopfern werden zu denen hinzukommen, die früheren imperialistischen Verbrechen zum Opfer fielen: dem Golfkrieg von 1991, den anschließenden Sanktionen gegen den Irak, den Folgen der Kontamination durch Waffen mit abgereichertem Uran, der Invasion von 2003, dem mörderischen Krieg zwischen den Religionsgruppen, der von den US-Besatzern bewusst angeheizt wurde, und den Operationen der irakischen, US-freundlichen Regierungstruppen nach dem weitgehenden Abzug der amerikanischen Truppen von 2010 bis 2011.

Glaubwürdige Schätzungen gehen von einer Gesamtzahl von über anderthalb Millionen Todesopfern seit 1991 aus. Allein seit 2003 wurden mindestens vier Millionen Iraker zu Binnenflüchtlingen gemacht oder sind aus dem Land geflohen.

Die Verteidigung der Massen im Irak und im Nahen Osten gegen die imperialistische Unterdrückung erfordert den Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung, die sich auf die Arbeiterklasse und eine revolutionäre und sozialistische Perspektive stützt.

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