Perspektive

Trump erhielt 1,7 Millionen Stimmen weniger als Clinton

Donald Trump liegt bei den Wählerstimmen stärker im Hintertreffen als jeder andere Kandidat, der zuvor die Präsidentschaftswahl im Wahlmännergremium gewann.

Was die Wahlmänner angeht, so hat Trump mit 302 Stimmen eindeutig mehr als Hillary Clinton mit 236. Die Wahlmännerstimmen werden nach dem Sieg in den einzelnen Bundesstaaten vergeben. Die Formel, die hier zur Anwendung kommt, begünstigt kleinere, ländlich geprägte Bundesstaaten.

Dagegen beträgt Clintons Vorsprung bei den abgegebenen Wählerstimmen inzwischen mehr als 1,7 Millionen.

Als erstes berichtete Associated Press am Samstag, dass Clintons Vorsprung die anderthalb Millionen Marke übertroffen habe. Die Stimmauszählung ging zu diesem Zeitpunkt noch weiter, besonders in den Bundesstaaten Kalifornien und Washington, die Clinton mit großem Abstand gewonnen hat.

Am Sonntagabend veröffentlichte der parteiunabhängige Cook Political Report eine aktualisierte Zählung, die Clintons Vorsprung schon bei 1,72 Millionen Stimmen sah. Millionen Stimmen waren zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht ausgezählt.

In Prozent der abgegebenen Wählerstimmen führt Clinton mit 1,3 Prozent Vorsprung, d.h. mit 48 Prozent zu 46,7 Prozent. Die fehlenden 5,3 Prozent entfallen auf Kandidaten der Libertären, der Grünen und anderer kleinerer Parteien, die mehr als sieben Millionen Stimmen erhalten haben, ohne einen einzigen Wahlmann zu gewinnen.

Von den 132,7 Millionen Stimmen, die bisher ausgezählt wurden, hat eine deutliche Mehrheit von über siebzig Millionen nicht für Trump gestimmt.

Auf Grundlage dieser Trends wird Clinton bei den Wählerstimmen am Ende wahrscheinlich mit über zwei Millionen vor Trump liegen. Das ist ein größerer Vorsprung, als ihn im zwanzigsten Jahrhundert so bedeutende Präsidenten wie John F. Kennedy (1960), Richard Nixon (1968) und Jimmy Carter (1976) erreichten. Und trotzdem kann Trump der 45. Präsident der Vereinigten Staaten werden.

Für eine solche Kluft zwischen Wahlmännergremium und Wählerstimmen gibt es keinen historischen Präzedenzfall. Aber weder die Demokratische Partei noch die Medien haben das zum Thema gemacht.

Ganz im Gegenteil. Führer der Demokratischen Partei haben Trump zum unangefochtenen Sieger der Wahl 2016 erklärt. Das gilt für Präsident Barack Obama, Vizepräsident Joseph Biden, Hillary Clinton selbst und ihren Hauptgegner bei den Demokratischen Vorwahlen, Senator Bernie Sanders, sowie für die Demokratischen Kongressführer.

Weit davon entfernt, Trumps angebliches „Mandat“ in Frage zu stellen, versuchen sie sich bei dem rechten Milliardär und seinen faschistischen Beratern einzuschmeicheln. Sie erklären ihre Bereitschaft, ihn in Fragen zu unterstützen, bei denen sich ihre Politik mit seiner überschneidet.

Andersherum wäre es völlig klar, welche Haltung die Republikanische Partei eingenommen hätte, wäre Hillary Clinton unter diesen Bedingungen gewählt worden, d.h. mit einer Mehrheit des Wahlmännergremiums aber zwei Millionen weniger Wählerstimmen als Trump.

Die Republikaner würden aufheulen, Clintons Wahl sei illegitim, „das Volk“ habe Trump gewählt, Clintons Politik habe eine Abfuhr erhalten. Selbst wenn sie schließlich doch ins Weiße Haus einzöge, müsste sie große Zugeständnisse machen, bis hin zur praktischen Bildung eines Koalitionskabinetts und zur Übernahme bedeutender Teile des Republikanischen Programms. Und Clinton hätte dem zugestimmt.

Die historischen Parallelen sind lehrreich. Bei nur fünf Präsidentschaftswahlen seit George Washington hat ein Kandidat das Weiße Haus gewonnen, der nur eine Minderheit der Wählerstimmen bekam. 1824 lag John Quincy Adams bei einer Wahl mit vier Kandidaten um 40.000 Wählerstimmen hinter Andrew Jackson. Kein Kandidat kam auch nur in die Nähe einer Mehrheit, weder bei den Wählerstimmen noch im Wahlmännergremium. Damals vergaben mehrere Staaten Wahlmännerstimmen noch ohne allgemeine Wahlen, auf Beschluss des Staatsparlaments. Die Quincy Adams-Regierung steckte von Anfang an in der Krise, und 1828 eroberte Jackson das Weiße Haus in einem Erdrutschsieg.

1876 erzielte der Demokrat Samuel Tilden eine Stimmenmehrheit von 250.000, erhielt aber nicht die Mehrheit der Wahlmänner. Die Wahlmännerstimmen mehrerer Staaten wurden angefochten. Schließlich wurde der Republikaner Rutherford Hayes aufgrund eines Kuhhandels mit den Demokraten zum Präsidenten ernannt. Die Demokraten ließen sich den Handel politisch teuer bezahlen. Sie erreichten den Abzug der Bundestruppen aus dem Süden und ein Ende der Rekonstruktionsperiode. Das öffnete die Tür zu einer Welle von Gewalttaten durch den Ku-Klux-Klan und schließlich sogar zur Jim Crow-Rassentrennung in der ganzen Region.

1888 gewann der Republikaner Benjamin Harrison die Mehrheit im Wahlmännergremium, lag aber bei den Wählerstimmen um 89.000 hinter dem Demokratischen Amtsinhaber Grover Cleveland zurück. Die Nord-Süd-Spaltung spiegelte die Kampflinien des Bürgerkriegs wider. Cleveland gewann die ehemaligen Konföderierten Staaten und die vier Sklavenstaaten, die nicht aus der Union ausgetreten waren (Missouri, Kentucky, Maryland und Delaware), dazu New Jersey und West Virginia. Harrison führte eine schwache Regierung und wurde 1892 vernichtend geschlagen, als sich Cleveland erneut um die Präsidentschaft bewarb.

Es dauerte dann mehr als hundert Jahre bis wieder ein Präsident gewählt wurde, der nicht die Mehrheit der Wählerstimmen erreichte. Im 19. Jahrhundert hatten die Sieger im Wahlmännergremium Krisenregierungen geführt, weil ihnen die Mehrheit bei den Wählerstimmen fehlte. Im Unterschied dazu wurden beide Beispiele im 21. Jahrhundert, bei denen ein Republikaner aufgrund der Wahlmännerstimmen Sieger wurde, als legitim anerkannt und weder von den Demokraten noch von den Medien hinterfragt, obwohl sie weniger Unterstützung in der Bevölkerung genossen als ihre Rivalen.

George W. Bush wurde 2000 vom Obersten Gericht als Präsident eingesetzt, obwohl er 540.000 Wählerstimmen weniger als sein Gegenkandidat bekommen hatte. Die Differenz war doppelt so groß wie bei jedem früheren Minderheits-„Sieger“. Der Demokrat Al Gore kapitulierte schändlich, und die Demokraten im Kongress gingen dazu über, Georg W. Bushs Steuersenkungen für die Reichen zu verabschieden und seine Kriege in Afghanistan und im Irak zu billigen.

Heute steht Donald Trump kurz davor, ins Weiße Haus einzuziehen, obwohl er voraussichtlich viermal so viele Wählerstimmen weniger erhielt, als der bisherige Rekordhalter George W. Bush vor sechzehn Jahren. Nicht ein einziger prominenter Demokrat stellt sein Recht auf das Präsidentenamt in Frage. Und niemand schlägt vor, dass Trump angesichts der riesigen Kluft bei den Wählerstimmen bei der Umsetzung seines brutal rechten Programms doch etwas behutsamer vorgehen möge.

Der Grund dafür liegt darin, dass die Demokraten neben ihrer angeborenen Rückgratlosigkeit auch mit den wesentlichen Elementen von Trumps Politik übereinstimmen.

Nach der Wahl setzt die herrschende Klasse auf eine Politik des Wirtschaftsnationalismus und beträchtliche Teile der Demokratischen Partei billigen Trumps Pläne für aggressiven Handelskrieg. Auch Trumps Kriegspolitik, seine Zerstörung demokratischer Rechte, weitgehende Steuersenkungen für die Wirtschaft und eine Verschärfung der Angriffe auf die Arbeiterklasse haben die Unterstützung eines großen Teils der herrschenden Klasse und ihrer beiden Parteien.

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