Moderne Dienstleistungssklaven – der Film „Toni Erdmann“ von Maren Ade

Der europäische Filmpreis 2016 ging an den deutschen Spielfilm „Toni Erdmann“ (Regie und Buch: Maren Ade). Der Film wurde bereits auf dem Filmfestival in Cannes gefeiert und ist auch der deutsche Oscarkandidat für die Verleihung 2017.

Die Hauptfiguren sind die etwa 37-jährigie Unternehmensberaterin Ines und ihr Vater Winfried. Der kauzige Musiklehrer mit „grüner Gesinnung“ lebt zurückgezogen mit Hund in einem Gartenidyll in Aachen. Mit seinen antiautoritär-anarchischen Späßen bringt er Leute in Verlegenheit, verkleidet sich dafür, erscheint mal als Tod oder als sein eigener Bruder mit künstlichem Gebiss.

Tochter Ines scheint das Gegenteil ihres verspielten Vaters. Sie ist ein modernes Kind der New Economy, hat die Welt gesehen, d.h. die überall gleich öde Welt des Business mit seinen streng strukturierten Abläufen. Ihr Leben diktiert der Terminkalender. Privatleben hat sie keins. Momentan lebt sie in Bukarest, wo ihre Firma ein rumänisches Ölunternehmen zu mehr Konkurrenzfähigkeit verhelfen soll.

Ines und ihr Vater Winfried © NFP

Winfried merkt, dass seine Tochter unglücklich ist und taucht unerwartet in Bukarest auf. Nun bringt er ihre sterile Umgebung in Verwirrung, provoziert peinliche Situationen. Er klopft dem gefürchteten Chef leutselig auf die Schulter, ob dieser nicht die Kosten für die Ersatztochter tragen könnte, die er seinetwegen engagieren musste. (Das ist natürlich ein Witz). Später erscheint er in skurriler Verkleidung und gibt sich als Geschäftsmann und Persönlichkeitstrainer Toni Erdmann aus, was zwar von niemandem geglaubt wird, aber alle unterhält.

Ade findet viele Situationen, die überzeugend die Welt des Business als abgehobene, sozial gleichgültige und verlogene Welt zeigen, in der die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz durch geschäftiges Gebaren und phrasenhaft-gewichtiges Geplapper kaschiert wird. Wie jeder in der Firma weiß Ines, dass ihre Arbeit nicht dem Aufbau Rumäniens gilt, sondern dem nächsten Geschäftsabschluss. Die Mitarbeiter rotieren dafür Tag und Nacht wie Hamster im Laufrad.

Die Modernisierung Rumäniens sieht so aus: Eine völlig nutzlose Luxusmeile voll amerikanischer Werbung in der City von Bukarest. Kein normaler Einheimischer hat das Geld, hier einzukaufen. Auf einer künstlichen Eisfläche zieht ein einsames Paar seine Kreise. Unweit von Ines‘ Büro trennt ein hoher Bretterzaun diese Welt abrupt von der Welt der Slums. Aus ärmsten Verhältnissen kommen die Ölarbeiter, die mit Hilfe von Ines entlassen werden sollen.

Zum modernen Rumänien gehört die kleine Schicht sozialer Aufsteiger, die sich nach einem Auslandsstudium voller Markt-Glauben völlig in den Dienst internationaler Unternehmen gestellt haben. Die Eltern von Ines‘ rumänischem Kollegen betreiben ein BMW-Autohaus, und die rumänische Assistentin fragt Ines ständig, ob sie mit ihrer „Performance“ zufrieden sei. Ines selbst legt mitunter eine zynische koloniale Mentalität an den Tag, lässt die rumänischen Angestellten im Massagesalon springen, für die ihre Firma so viel getan hätte.

Sandra Hüller gelingt es großartig, die widersprüchliche Gefühlslage von Ines zu verkörpern: immer auf dem Sprung, permanent leistungsbereit, Härte aber auch Panik, als sie sich am Fuß verletzt. Kranksein? Alles Menschliche stört hier, auch wenn man sich duzt und der Teamgeist beschworen wird.

Ines fragt ihren Coach, wie sie ihre Körpersprache besser kontrollieren könne. Er rät, Gesprächspartnern weniger zuzuhören. Nächtlicher Drogenkonsum und gelegentliche Sex-Treffs lösen nicht die ständige Anspannung. „Bist du noch Mensch“, fragt Ines‘ Vater die Tochter an einer Stelle des Films.

Der große internationale Erfolg des Films hat sicher mit solchen frustrierenden Erfahrungen zu tun. Die internationale Krise hat inzwischen den Mittelstand stark in Mitleidenschaft gezogen. Viele der traditionell Besserverdienenden, oft hoch qualifiziert, müssen sich regelrecht prostituieren, sei es in würdelosen Dienstleistungsjobs, als Freiberufler oder in kleinen Start-Ups der Kreativwirtschaft. Allseits verbreitet sind prekäre Arbeitsverhältnisse und kaum Zeit für die Familie.

Bereits Ades Film „Alle anderen“, der auf der Berlinale 2009 mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, widmete sich einem jungen Architekten, dessen Projektträume sich alle zerschlagen. Im Italien-Urlaub triff er einen erfolgreichen ehemaligen Kommilitonen. Obwohl er den Karrieristen nicht leiden kann, lässt er sich von ihm vereinnahmen. Die bodenständige Freundin, die sich dem abgehoben-oberflächlichen Milieu weder anpassen will noch kann, ist entsetzt über den Abgrund, der sich plötzlich zwischen ihr und dem Freund auftut, der sich der „peinlichen Freundin“ zu schämen beginnt.

Die eigene Würde bewahren, könnte das Motto des Films „Toni Erdmann“ lauten. Die Kunstfigur Toni Erdmann kennt keine Berührungsängste, keine Autoritäten. In seiner lächerlichen Verkleidung strahlt er eine unheimliche Sicherheit aus, die auch fasziniert. Er verleiht Ines Kraft, reinen Tisch zu machen. Kurzerhand erklärt sie ihre Geburtstagsparty zur Nacktparty, worauf die meisten Gäste, Arbeitskollegen, Shoppingfreundinnen die Flucht ergreifen. Später liegen sich Vater und Tochter in den Armen. Ines ist erlöst. Sie ist wieder Mensch, ein Individuum, bereit das Leben in die eigenen Hände zu nehmen.

Zu den Stärken des Films gehört das fehlende Happy End. Ines nimmt das Leben in die eigene Hand, indem sie in Singapur bei der Sanierungsfirma McKinsey anheuert, eine ebenso berüchtigte Sanierungsfirma wie ihre bisherige. Die letzte Einstellung zeigt Ines im Garten des Vaters. Ihr Blick ist desillusioniert. Aber es ist nicht der Blick einer Verliererin. Er vereint eine gewisse Resignation mit beunruhigender Unberechenbarkeit. Das ist kein schlechtes Bild für das soziale Brodeln in Teilen der Mittelschicht.

Mitunter fehlt der Darstellung von Ines‘ Entwicklung etwas die Schärfe. Der um seine Tochter kämpfende Winfried alias Toni Erdmann ist durchweg als positive Gegenfigur angelegt, die dem System moderner Dienstleistungssklaverei, bodenständige Menschlichkeit entgegensetzt. Er ist respektlos gegenüber den Firmen-Autoritäten und muss doch hilflos zusehen, wie durch seine unbedachte Bemerkung ein Öl-Arbeiter entlassen wird.

In der sehenswerten deutsche Satire „Zeit der Kannibalen“ (2014, Regie: Johannes Naber, Buch: Stefan Weigl), es geht ebenfalls um eine global agierende Sanierungs-Firma, haben mehrere der asozialen Hauptfiguren eine grüne Vergangenheit. Ines, die Tochter des bärtigen Musiklehrers Winfried mit dem typischen Ökobeutel, hervorragend gespielt von Peter Simonischek, würde sich mit ihnen ausgezeichnet verstehen.

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