Bundesverfassungsgericht verhandelt Tarifeinheitsgesetz

Am Dienstag eröffnete das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die zweitägigen Verhandlungen zum Tarifeinheitsgesetz, das im Juli 2015 in Kraft getreten ist. Insgesamt sind elf Klagen gegen das Gesetz anhängig, ein Urteil wird erst in einigen Monaten erwartet.

Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles (SPD), war persönlich nach Karlsruhe gereist, um das Anti-Streik-Gesetz zu verteidigen. Im Oktober 2014 hatte sie in enger Zusammenarbeit mit den Arbeitgeberverbänden und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) das Gesetz auf den Weg gebracht und ein halbes Jahr später durch den Bundestag gepeitscht.

Das Gesetz bestimmt, dass „Tarifkollisionen“ in Betrieben mit mehreren Gewerkschaften unterbunden werden, indem nur noch „die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar [sind], die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat“.

Vordergründig richtet sich das Gesetz gegen die kleineren Spartengewerkschaften wie die Gewerkschaft der Lokführer (GdL), die Vereinigung Cockpit (Piloten), UFO (Fluglotsen), GdF (Vorfeldlotsen) und den Marburger Bund (Ärzte). Sie waren entstanden oder hatten an Einfluss gewonnen, weil die DGB-Gewerkschaften seit Jahrzehnten als verlängerter Arm der Konzerne arbeiten und deren Angriffe auf die Beschäftigten durchsetzen.

Das Tarifeinheitsgesetz nimmt den kleineren Gewerkschaften das Recht, Tarifverträge abzuschließen, wenn eine konkurrierende DGB-Gewerkschaft über mehr Mitglieder in einem Betrieb verfügt, und bedeutet daher de facto ein Streikverbot. Selbst wenn eine Gewerkschaft, wie etwa die GdL bei den Lokführern der Deutschen Bahn oder Cockpit bei den Piloten der Lufthansa, in einem Berufszweig die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten vertritt, darf sie für diese keinen Tarifvertrag abschließen, wenn eine DGB-Gewerkschaft im Gesamtkonzern mehr Mitglieder hat.

Damit erhält der DGB eine weitgehend uneingeschränkte Monopolstellung in den Unternehmen. Der Opposition gegen seine unternehmensfreundliche Politik wird ein Maulkorb verpasst, was an die Reglementierung der Arbeiterbewegung durch die korporatistische „Deutsche Arbeitsfront“ unter den Nazis erinnert.

Unmittelbar nach Verabschiedung des Gesetzes hatten der Deutsche Beamtenbund (dbb), zu dem die GdL gehört, sowie Cockpit, UFO, GdF und Marburger Bund beim Bundesverfassungsgericht Klage eingereicht, da das Tarifeinheitsgesetz gegen die im Grundgesetz verbriefte Koalitionsfreiheit verstößt.

Im Grundgesetz, Artikel 9, Absatz 3, heißt es: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“ Noch im Jahre 1954 hatte das Bundesverfassungsgericht unter dem Eindruck der starken antikapitalistischen Stimmungen der Nachkriegszeit geurteilt, der Grundrechtsschutz bleibe nur eine „leere Hülse“, wenn die Gewerkschaften nicht zu Arbeitsniederlegungen aufrufen dürften.

Der Präsident der Vereinigung Cockpit, Ilja Schulz, erklärt: „Kleine Gewerkschaften wie wir werden ihrer Rechte beraubt, denn de facto bedeutet es ein Streikverbot. Dieser Verfassungsbruch gleicht einer Abschaffung dieser Gewerkschaften und darf deshalb nicht bestehen bleiben.“

Claus Weselsky, der Bundesvorsitzende der GdL, sagt: „Wenn nur noch die größere Gewerkschaft im Betrieb Tarifverträge schließen darf, dann ist die kleinere − und selbst wenn sie 100 Prozent ihres Berufsstandes organisiert hat − zum kollektiven Betteln verdammt.“

Und der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP), der die Vereinigung Cockpit juristisch vertritt, erklärte gegenüber dem Handelsblatt: „Es geht hier nicht um einen einzelnen Tarifvertrag, sondern um eine verfassungsrechtliche Grundsatzfrage – um die Tarifautonomie. Und das betrifft die ganze Gesellschaft. Es geht um das Streikrecht, das auf jeden Fall gefährdet wird, obwohl die Regierung verspricht, es zu schützen.“

Die Dienstleistungsgewerkschaft im DGB, Verdi, hatte sich den Klagen der kleinen Gewerkschaften angeschlossen, weil sie inzwischen in vielen Betrieben weniger Mitglieder als andere Gewerkschaften hat. Dies gilt vor allem in ihren betrieblichen Auseinandersetzungen mit der IG Metall, aber auch mit den Spartengewerkschaften selbst, die aufgrund der rechten Politik Verdis in vielen Konzernen mehr Mitglieder als Verdi haben.

Arbeitgeberverbände und DGB verteidigen dagegen im Schulterschluss das Gesetz. So erklärte der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann gegenüber dem NDR, kleinere Gewerkschaften seien unter dem neuen Gesetz in ihrer Handlungsfreiheit überhaupt nicht eingeschränkt. Es müsse in Fällen, in denen in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften tarifvertragsfähig seien, nur eine Kooperation vereinbart werde, die die Einhaltung des Grundsatzes „ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ sicherstelle. Mit anderen Worten, die kleineren Gewerkschaften sollen sich den DGB-Gewerkschaften freiwillig unterordnen.

Der Name „Tarifeinheitsgesetz“ ist eine gezielte Täuschung. Denn gerade die DGB-Gewerkschaften schließen ständig Tarifverträge ab, die auf Spaltung ausgerichtet sind. Alle Tarifauseinandersetzungen werden so geführt, dass immer nur ein möglichst kleiner Teil der Beschäftigten in einer Branche betroffen sind. Selbst innerhalb eines Betriebs werden für Neueingestellte und jüngere Arbeiter, Leih- und Werkvertragsarbeiter ganz unterschiedliche Verträge abgeschlossen. Die meisten Tarifverträge sind Knebelverträge, mit denen Lohnabbau und schlechtere Arbeitsbedingungen durchgesetzt werden. Wenn Arbeiter sich dagegen wehren wollen, erklären Gewerkschaftsfunktionäre, es herrsche Tarif- und Betriebsfrieden und während dieser Zeit seien Streiks verboten.

Der Präsident des Metall-Arbeitgeberverbands Nordrhein-Westfalen, Arndt Kirchhoff, wies in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung darauf hin, dass ein geordneter Tariffrieden zu den Grundvoraussetzungen für den Erfolg eines Unternehmens zähle. „Wenn ständig eine andere Gruppe streikt und die Produktion lähmt, verlieren wir ganz schnell unsere Kunden – und dann bald noch mehr.“ Gerade die Industrie müsse sich jederzeit gegen Konkurrenten aus aller Welt behaupten können.

Nahles Tarifeinheitsgesetz ist ein fundamentaler Angriff auf das grundgesetzlich verankerte Streik- und Koalitionsrecht. Es soll die betriebliche und gesellschaftliche Kontrolle der großen DGB-Gewerkschaften über die Arbeiterklasse sichern.

Deshalb ist die Bundesarbeitsministerin eigens nach Karlsruhe gereist, um das Gesetz zu verteidigen. Sie tat dies mit den Worten, das Gesetz setze auf „Anreize für Kooperation und Abstimmung“. Eine zynischere Formulierung hätte sich auch George Orwell nicht ausdenken können, um die Unterdrückung von Streiks zu rechtfertigen.

Dabei sind weniger die kleinen Sparten-Gewerkschaften das eigentliche Ziel. Wie die Streiks und Arbeitskämpfe der letzten zwei bis drei Jahre zeigen, sind GdL, Cockpit und Co. gewillt, jeweils ihre eigenen Deals mit den Konzernen und Unternehmen zu schließen. So hat die GdL im letzten Jahr beschlossen, bis ins Jahr 2020 auf Streiks zu verzichten.

Vielmehr ist das Nahles-Gesetz darauf ausgerichtet, alle Kämpfe, die den engen Rahmen der Gewerkschaften in den Betrieben sprengen, im Keim zu ersticken.

Denn auf die globale Krise des Kapitalismus hat die Bundesregierung mit der Rückkehr zu einer militärischen Großmachtpolitik reagiert. Gleichzeitig fordern die Konzerne offen Handelskriegsmaßnahmen, wie z.B. Strafzölle gegen Stahlimporte aus China, um ihre wirtschaftlichen Interessen international durchzusetzen. Nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten wird sich diese Entwicklung beschleunigen. Die Herrschenden in Deutschland haben auf Trumps Wirtschaftsnationalismus und Protektionismus mit aggressiven eigenen wirtschaftlichen und weltpolitischen Ansprüchen reagiert.

Arbeiter und ihre Familien sollen durch Arbeitsplatzabbau, Lohnsenkung und schlechtere Arbeits- und Lebensbedingungen für die Konkurrenzfähigkeit der Konzerne und die militärische Aufrüstung zahlen. Heftige soziale Kämpfe und Proteste, die weit über Tarifauseinandersetzungen gehen, sind unvermeidlich.

In einem Artikel zum Tarifeinheitsgesetz schrieben wir im Mai 2015: „Jede Art von Protest und Widerstand – sowohl gegen sozialen Angriffe als auch gegen die in der Bevölkerung verabscheute Kriegspolitik – soll schon im Keim erstickt werden. Dazu dient das Tarifeinheitsgesetz, das jegliche Opposition in den Betrieben verbieten soll.“

Bei ihrer Verteidigung des Gesetzes wies Nahles gestern ausdrücklich auf dessen „Befriedungsfunktion“ hin.

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