75 Jahre seit der Wannsee-Konferenz

Am 20. Januar jährte sich zum 75. Mal die berüchtigte Wannsee-Konferenz, bei der 15 einflussreiche Vertreter des Nazi-Regimes in einer Villa im Berliner Vorort die Organisierung und Umsetzung der so genannten „Endlösung der Judenfrage“ diskutierten. Das Treffen war von Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) einberufen worden. Unter den Teilnehmern waren Vertreter des Generalgouvernements Polen, des Auswärtigen Amtes, der Reichskanzlei und des Rasse- und Siedlungshauptamts, sowie mehrere SS-Führer.

Die Wannsee-Villa. Heute befinden sich hier eine Gedenkstätte und ein Museum, © A. Savin, Wikimedia Commons

Die Wannsee-Konferenz markierte den Beginn eines gezielten Versuchs des gesamten deutschen Staates, der Armee und der Industrie, die europäischen Juden zu vernichten. Der Hauptzweck der Konferenz bestand darin, die wesentlichen Grundlagen für die Durchsetzung des Plans festzulegen und dabei die Aufgaben der zentralen Agenturen des deutschen Staates in diesem Verbrechen koordinieren. Es ist zwar bis heute kein schriftlicher Befehl Adolf Hitlers zur „Endlösung“ und der Konferenz selbst gefunden worden, dennoch gibt es keinen Zweifel, dass dieser Schritt ebenso wie alle anderen auf dem Weg hin zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden von ihm autorisiert worden war.

Im Juli 1941 hatte Reichsmarschall Hermann Göring Reinhard Heydrich offiziell mit der „Lösung der Judenfrage“ beauftragt. Die Konferenz wurde über mehrere Monate hinweg vorbereitet. Heydrich wurde dabei von Adolf Eichmann assistiert, der frühen Versuchen der Massenvergasungen im Herbst 1941 beiwohnte. Am Ende dauerte die Konferenz, bei der sich die Teilnehmer auf die „Zurückdrängung“ der Juden „aus dem deutschen Lebensraum“ einigten, nur knappe 90 Minuten.

Ein großer Teil des Protokolls ist der Definition dessen gewidmet, wer als Jude zu gelten hatte und daher ermordet werden sollte. Von zentraler Bedeutung war in diesem Zusammenhang die Entscheidung, nicht nur alle osteuropäischen Juden zu ermorden, die die Nazis generell als noch minderwertiger als die westeuropäischen Juden betrachteten, sondern auch alle deutschen Juden und so genannte „Mischlinge“.

Europa sollte, so heißt es im Protokoll, „vom Westen nach Osten durchkämmt“ werden. Alle Juden sollten „nach dem Osten“ evakuiert werden – ein Euphemismus für ihre gezielte Vernichtung. Die so genannten „arbeitsfähigen“ Juden sollten vorerst verschont bleiben, damit sie für die Zwecke der deutschen Kriegsindustrie ausgebeutet werden könnten. Aber auch sie sollten am Ende „entsprechend behandelt werden“ – ein anderer Begriff für „töten“, wie Adolf Eichmann später zugab. Geplant war die Ermordung von insgesamt 11 Millionen Menschen.

Reinhard Heydrich, einer der zentralen Figuren in der Organisation des Holocaust, © Bundesarchiv, Bild 146-1969-054-16

Die Hauptverantwortung für die Organisierung und Planung dieses historisch beispiellosen Massenmordes lag bei Heydrichs Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Das RSHA war 1939 gegründet worden, um die „inneren und äußeren Feinde“ des Reiches zu bekämpfen und bestand aus den Elite-Organisationen der SS, des Sicherheitsdiensts (SD) und der Sicherheitspolizei (SIPO). Ein Großteil der Mitarbeiter des RSHA waren überzeugte Nazi-Akademiker, darunter viele ausgebildete Ärzte und Anwälte.

Die Wannsee-Konferenz fand statt inmitten einer extremen Krise des Nazi-Regimes. Nur wenige Wochen zuvor hatte Nazi-Deutschland den USA, dem wichtigsten imperialistischen Rivalen Deutschlands, den Krieg erklärt. Die Nazi-Führung war sich dabei durchaus bewusst, dass die USA über eine technologisch überlegene Wirtschaft und Armee verfügten. Die ursprüngliche für den 9. Dezember 1941 angesetzte Konferenz musste wegen des Kriegseintritts der USA um mehrere Wochen verschoben werden.

Gleichzeitig steckte die Wehrmacht in der Sowjetunion vor Moskau und Leningrad fest und war mit zunehmendem Widerstand seitens der Roten Armee und der Sowjetbevölkerung konfrontiert. Während die Wirtschafts- und Ernährungskrise in Deutschland selbst immer tiefer wurde, befand sich das Regime nun inmitten eines gefürchteten Zwei-Fronten-Krieges. Wachsende Teile des Militärs rechneten damit, dass Nazi-Deutschland den Krieg verlieren könnte.

Unter diesen Bedingungen sah es die Nazi-Führung nicht nur als notwendig an, die europäischen Juden zu vernichten – ein Ergebnis des Krieges, das Adolf Hitler bereits Anfang 1939 in einer berüchtigten Rede angekündigt hatte -, sondern fürchtete auch, dass es vielleicht nicht mehr lange möglich sein würde.

Die Wannsee-Konferenz war nicht der Beginn des Holocaust. Deutschen Juden sahen sich seit der Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933 einer wachsenden politischen Verfolgung und der Verwehrung grundlegender Bürgerrechte ausgesetzt. Im Oktober 1938 fand dann die erste Massendeportation von Juden aus dem Deutschen Reich statt. Über 17,000 Männer, Frauen und Kinder mit polnischer Staatsbürgerschaft wurden ausgewiesen. Nach dem Nazi-Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurden Ghettos im besetzten Osteuropa gebaut, in denen rund drei Millionen polnische Juden unter fürchterlichen Bedingungen lebten. Die Einsatzgruppe Woyrsch und Einheiten der Wehrmacht verübten schon im Herbst und Winter 1939 Massaker an tausenden polnischen Juden. Eine systematische Hungerpolitik der Nazi-Besatzer kostete hunderttausenden polnischen Juden das Leben.

Mit dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 nahm die anti-jüdische Politik der Nazis genozidale Ausmaße an. In den folgenden Monaten wurde ein bedeutender Teil der sowjetischen Juden, die in den Gebieten lebten, die heute die Ukraine, Weißrussland und das Baltikum umfassen, in Massenerschießungen ermordet. Ganze Landstriche wurden zu Massengräbern. Zu den schlimmsten Verbrechen dieser Periode gehören das Massaker von Kamenez-Podolsk am 27.-28. August mit rund 24.000 Toten und das Massaker von Babi Jar in Kiew, bei dem am 29.-30. September etwa 33.000 Juden erschossen wurden.

Doch die systematische Vergasung von Millionen von europäischen Juden in den Vernichtungslagern begann erst nach der Wannsee-Konferenz. Über die Hälfte der sechs Millionen ermordeten Juden wurden zwischen März 1942 und März 1943 umgebracht. Fast zwei von insgesamt drei Millionen polnischen Juden wurden im Jahr 1942 getötet, die meisten von ihnen in den Gaskammern von Auschwitz, Treblinka, Chełmno, Sobibór und Bełżec. Hunderttausende Juden aus Griechenland, Frankreich, Deutschland, der Slowakei und Böhmen wurden ermordet. Als eine der letzten Gemeinden wurden im Sommer 1944 400.000 Juden aus Ungarn innerhalb weniger Wochen in Auschwitz vergast.

Gedenkstätte im Vernichtungslager Treblinka, nordöstlich von Warschau. An dieser Stelle wurden vom Sommer 1942 bis zum Sommer 1943 fast eine Millionen Juden vergast

Nur wenige Beteiligte der Wannsee-Konferenz wurden je für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen und wenn ja, dann häufig für Verbrechen, die nicht unmittelbar mit dem Holocaust zu tun hatten. Reinhard Heydrich kam bereits im Jahr 1942 bei einem Attentat ums Leben; ein anderer starb im Krieg; zwei begingen nach Kriegsende Suizid und zwei weitere Teilnehmer starben kurz nach Kriegsende. Die SS-Führer Eberhard Schöngarth und Josef Bühler wurden beide für andere Verbrechen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Adolf Eichmann stand erst nach mehreren Jahren ungestörten Exils in Argentinien in den Jahren 1961-62 in Israel vor Gericht, wo er zum Tode verurteilt wurde.

Otto Hofmann, der Vertreter des Rasse- und Siedlungshauptsamts bei der Wannsee-Konferenz, wurde zwar in Nürnberg angeklagt und zu 25 Jahren Haft verurteilt, kam jedoch schon im Jahr 1954 wieder frei. Der SS-Führer Wilhelm Stuckart, der auch einer der Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze gewesen war, wurde in einem Nachkriegsprozess zu weniger als vier Jahren Haft verurteilt. Auch diese musste er jedoch nie absitzen. Die deutschen Behörden stuften ihn bald als bloßen „Mitläufer“ ein und er konnte als reueloser Rechter eine erfolgreiche politische Karriere in der BRD aufnehmen, die erst mit seinem Tod endete. Mehrere andere Konferenzteilnehmer kamen wie so viele hochrangige Nazi-Verbrecher niemals ins Gefängnis.

Obwohl Jahrzehnte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen sind und buchstäblich tausende Bände über verschiedene Aspekte des Holocaust und Nazi-Deutschlands veröffentlicht wurden, werfen die Schrecken des Faschismus heute mehr Fragen auf als je zuvor. Für Millionen Arbeiter und Jugendliche ist die Frage – wie war dies alles möglich? – niemals beantwortet worden. Nun stellt sich jedoch eine noch beunruhigendere Frage: warum können nach all dem Geschehenen genau jene Kräfte, die historisch für diese Verbrechen verantwortlich sind, wieder in ganz Europa und weltweit ihr Haupt erheben?

Im Baltikum werden die lettische und estländische Waffen-SS, die einen wesentlichen Beitrag zur Ermordung von 90 Prozent der dortigen Juden geleistet haben, von der herrschenden Klasse als Helden gefeiert. In Litauen sind Straßen und Denkmäler nach Nazi-Kollaborateuren benannt. In der Ukraine sind ultra-rechte Kräfte wie die Partei Swoboda, die in der Tradition ukrainischer Nazi-Kollaborateure stehen, nach dem vom Westen unterstützten Putsch im Februar 2014 in das offizielle politische Leben integriert worden. Symbole, die an Kommunismus und den Kampf der Roten Armee gegen den Faschismus erinnern, wurden hingegen kriminalisiert.

In Polen, das unter der Nazi-Besatzung zum zentralen Schauplatz der Judenvernichtung wurde, ermutigt die rechte Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gezielt antisemitische Tendenzen und historischen Revisionismus, während sie ultra-rechte paramilitärische Kräfte in den Staatsapparat integriert.

Am beunruhigendsten ist jedoch, dass in Deutschland selbst Akademiker an führenden Universitäten des Landes gezielt versuchen, die Geschichte zu fälschen und die fürchterlichen Verbrechen des deutschen Imperialismus im 20. Jahrhundert reinzuwaschen. Gleichzeitig versucht die deutsche Bourgeoisie sich wieder als Weltmacht zu behaupten. Politiker aller bürgerlichen Parteien, eingeschlossen der so genannten Linkspartei, unterstützen die massive Aufrüstung des Militärs, den Aufbau eines Polizeistaates und ultra-rechte politische Maßnahmen gegen Migranten.

Die Frage, wie die Verbrechen des Nationalsozialismus möglich waren, ist letztlich eng mit derjenigen nach dem heutigen Erstarken der Rechten verbunden. Der Aufstieg der faschistischen Regime der Zwischenkriegszeit kann nur im Rahmen der Reaktion der Bourgeoisie auf die existenzielle Krise des Kapitalismus und die Gefahr verstanden werden, mit der sich die herrschende Klasse in Form des ersten Arbeiterstaats der Weltgeschichte konfrontiert sah, der 1917 in Russland geschaffen wurde.

Es ist eine historische Tatsache, dass die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte von einem Regime begangen wurden, dessen Hauptziel in der Zerstörung des Marxismus als politischer Kraft bestand. Niemand formulierte dieses Ziel so deutlich wie Hitler selbst. In einer Rede vor dem elitären Hamburger Nationalklub im Jahr 1926 erklärte Hitler die Zerstörung des Marxismus, allen voran in Deutschland selbst, zur „Schicksalsfrage“ Deutschlands und zur Grundbedingung für die „deutsche Wiedererhebung“. Wörtlich sagte er: „Aus dieser Erkenntnis heraus wurde einst die Bewegung gegründet, die ich mich bemühe, großzumachen und emporzubringen. Ihre Aufgabe ist sehr eng umschrieben: die Zertrümmerung und Vernichtung der marxistischen Weltanschauung.“

Die rassistische und antisemitische Ideologie der Nazis war letztlich ein besonders scharfer Ausdruck der ideologischen Reaktion gegen den Aufstieg der sozialistischen Arbeiterbewegung. Historisch gesehen war das Aufkommen des modernen politischen Antisemitismus eng verknüpft mit der Reaktion erst gegen die Französische Revolution und dann vor allem die Russischen Revolution von 1905 und 1917. Im Bürgerkrieg von 1917-1922 verübten die russischen Weißen, aber auch polnische und insbesondere ukrainische Nationalisten, die gegen den Arbeiterstaat kämpften, die schlimmsten anti-jüdischen Pogrome die bis dato je stattgefunden hatten.

Als die Nazis im Jahr 1941 ihren Krieg gegen die Sowjetunion begannen und anti-jüdische Massaker in Osteuropa verübten, konnten sie sich auf dieselben nationalistischen Kräfte in der Region stützen, die nur 20 Jahre zuvor gegen das bolschewistische Russland gekämpft hatten. Auch dieses Mal bildete das Feindbild des „jüdischen Bolschewiken“ die ideologische Grundlage für die Mobilisierung dieser Kräfte.

Es ist daher kein Zufall, dass jemand wie Jörg Baberowski von der Berliner Humboldt-Universität, der Verbrechen des Nazi-Regimes verharmlost, seine akademische Karriere mit historischen Fälschungen und Verleumdungen der Oktoberrevolution begann. Innerhalb weniger Jahre ging Baberowski von Angriffen auf die Bolschewiki als ein im Wesentlichen verbrecherisches Regime dazu über, die Verbrechen der Wehrmacht gegen die Sowjetunion als bloße Reaktion auf die Gewalt der Roten Armee zu relativieren. Anfang 2014 erklärte er dann sogar in einem Artikel, Hitler sei „nicht grausam“ gewesen. Der revisionistische Historiker Ernst Nolte, der in demselben Artikel den Juden eine Mitschuld am Holocaust zuschrieb, habe, so Baberowski, „historisch recht“ gehabt.

Wenn der Aufstieg der extremen Rechten in Europa nach dem Ersten Weltkrieg vor allem eine Antwort auf die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse auf dem gesamten Kontinent und ihre Machtergreifung in Russland war, so haben die bewusste Stärkung ultra-rechter Kräfte durch die Bourgeoisie heute und die damit einhergehenden Fälschungen der Geschichte sehr stark einen präventiven Charakter. Angesichts der tiefsten Krise des Weltkapitalismus seit den 1930er Jahren und eines historisch nie dagewesenen Ausmaßes der sozialen Ungleichheit, erwartet die Bourgeoisie enorme revolutionäre Kämpfe der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt und versucht sich darauf vorzubereiten, indem sie auf Krieg, Faschismus und Diktatur zurückgreift.

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