Merkel triff Erdogan vor EU-Gipfel in Malta

Vor dem heute beginnenden EU-Gipfel in Malta traf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Ankara mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zusammen. Es war Merkels fünfte Türkeireise in den vergangenen eineinhalb Jahren und ihr erster Besuch seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei am 15. und 16. Juli 2016.

Das Treffen fand in einer extrem angespannten außenpolitischen Situation nach dem Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten Donald Trump statt. Am Mittwoch hatten der nationale Sicherheitsberater der USA, General Michael Flynn, dem Iran, der derzeit im Syrienkonflikt eng mit der Türkei zusammenarbeitet, offen mit Krieg gedroht. Zuvor waren bereits Mexiko und China, aber auch Deutschland und die EU, ins Fadenkreuz von Trumps nationalistischer und militaristischer Außenpolitik geraten.

Brüssel und Berlin reagieren auf diese Entwicklungen mit ihrer eigenen außenpolitischen Offensive. Seit Trumps Amtsübernahme haben zahlreiche Medien, außenpolitische Thinktanks und führende Wirtschaftsvertreter und Politiker die neue US-Administration scharf kritisiert und für eine eigenständigere europäische Außenpolitik plädiert, um die eigenen wirtschaftlichen und geopolitischen Ziele – notfalls auch gegen die Vereinigten Staaten – durchzusetzen.

Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel, der gegenwärtig in Washington weilt, hatte bereits unmittelbar nach Trumps Antrittsrede am vergangenen Wochenende gefordert, nun „beinhart“ die eigenen Interessen zu definieren. In einem Interview mit dem Handelsblatt erklärte er unter anderem: „Wenn Trump einen Handelskrieg mit Asien und Südamerika beginnt, eröffnen sich damit auch Chancen für uns.“ Europa müsse „jetzt schnell an einer neuen Asienstrategie arbeiten“ und „die Räume, die Amerika frei macht, … nutzen.“

Während die Medien vor allem Merkels angebliche Verweise auf die Einhaltung der Demokratie und der Menschenrechte in der Türkei ins Zentrum der Berichterstattung stellten, ging es in dem zweieinhalbstündigen Gespräch zwischen Merkel und Erdogan offenkundig vor allem um die größeren außenpolitischen und wirtschaftlichen Fragen.

Gleich zu Beginn der gemeinsamen Pressekonferenz unterstrich Erdogan: „Nach unserem gemeinsamen Gespräch gab es noch Delegationsgespräche. Sowohl bilateral als auch gemeinsam haben wir zur Verteidigung, zur Wirtschaft, zum Handel, zu unterschiedlichen Bereichen – dazu gehörte natürlich auch der Terror –, und zwar national wie international, verschiedene Themen gemeinsam bewerten können.“

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland seien „wichtige Beziehungen“. Außerdem sei es um die Frage gegangen, „was wir im Bereich der Verteidigungsindustrie gemeinsam machen können“. Auch die „politischen Beziehungen sowohl im Rahmen der EU, des EU-Prozesses, als auch im Rahmen der Nato“ seien „wichtige Themen gewesen“.

Trotz scharfer außenpolitischer Konflikte mit Ankara in den vergangenen Monaten – für Streit sorgte zuletzt, dass etwa 40 türkische Offiziere, die nach dem Putschversuch von Nato-Stützpunkten zurückbeordert worden waren, in Deutschland Asyl beantragten – ist die Türkei als zentrales Brückenland zwischen Europa und den rohstoffreichen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens aus mehreren Gründen ein Schlüsselland für den deutschen Imperialismus.

Eine wichtiges Ziel Merkels und der Bundesregierung insgesamt ist die brutale Abschottung Europas gegen Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Erdogan pries Merkel explizit den schmutzigen Flüchtlingsdeal zwischen der EU und Ankara und erklärte, dass „die Türkei hier jeden Tag Außergewöhnliches leistet“. Man werde „alles daran setzen, dass die Mittel, die die Europäische Union zugesagt hat, natürlich auch schnellstmöglich ausgegeben werden können“.

Ein weiteres Feld sind die engen wirtschaftlichen Beziehungen. Wie viele andere Länder ist die Türkei für die exporthungrige deutsche Wirtschaft vor allem als Absatzmarkt von Bedeutung. 2015 lieferte Deutschland Waren im Wert von rund 22,4 Milliarden Euro in die Türkei, die damit auf Platz 14 der deutschen Exportliste vorrückte. Umgekehrt importierte Deutschland Waren im Wert von fast 14,5 Milliarden Euro aus der Türkei (Platz 17). In Ankara versicherte Merkel: „Die wirtschaftlichen Beziehungen sind gut, aber sie können noch intensiviert werden; daran werden wir auch arbeiten.“

Außerdem ist die Türkei für Deutschland ein wichtiger Verbündeter für das militärische Eingreifen der Bundeswehr im Nahen und Mittleren Osten. Auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt in Incirlik sind seit Ende 2015 deutsche Tornados und maximal 1200 Soldaten für den Einsatz im Irak und Syrien stationiert, dessen Ausweitung und Fortsetzung um mindestens ein Jahr im vergangenen November beschlossen wurde.

Gegenwärtig strebt das Verteidigungsministerium eine Genehmigung für den Ausbau von Incirlik an, um gegebenenfalls auch unabhängiger vom US-Militär agieren zu können. Spiegel Online schrieb bereits im vergangenen September, dass der Ausbau der Basis „aus Sicht der Militärs [...] dringend notwendig“ sei, da die Luftwaffe seit dem Beginn des deutschen Kriegseinsatzes „ihre Jets auf Stellflächen der US-Amerikaner parken, in provisorischen Unterkünften schlafen und sich bei ihren Aufklärungsflügen auf technische Unterstützung der Verbündeten verlassen“ musste.

Merkels Besuch in der Türkei entlarvt die Menschenrechtsphrasen der deutschen Außenpolitik. Die Erdogan-Regierung nutzt den gescheiterten Putschversuch als Vorwand, um jede Opposition im Innern zu unterdrücken und ein autoritäres Regime zu errichten. Seit Juli wurden mehr als 120.000 Staatsangestellte entlassen und über 40.000 Menschen inhaftiert. Im April strebt Erdogan ein Referendum über eine höchst kontroverse Verfassungsänderung an, mit der er seine Macht als de facto Diktator zementieren will.

Hinter der „Menschenrechtskritik“ an Merkel – vor allem von Teilen der SPD, der Grünen, der Linkspartei, aber auch innerhalb der Union selbst – steht nicht die Sorge um die demokratischen Rechte der türkischen Arbeiter, sondern Differenzen darüber, wie der deutsche Imperialismus seine Interessen am effektivsten im gesamten Nahen und Mittleren Osten durchsetzt.

So kritisierte der CSU-Verteidigungspolitiker Florian Hahn, das türkische Verhalten passe nicht zu einem NATO-Partner, und erwog, die deutschen Truppen möglicherweise in einem anderen Land zu stationieren. „Man muss sicherlich richtig abwägen. Aber am Ende des Tages kann es natürlich kein langfristiger Zustand sein, dass wir jedes halbe Jahr wegen eines anderen sachlichen Themas von der Türkei unter Druck gesetzt werden. Ich glaube zum Beispiel, dass hier wirklich Jordanien ein wesentlich verlässlicherer Partner wäre. Wenngleich das mit einem entsprechenden Aufwand finanzieller und zeitlicher Art zu tun hat.“

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