Ein Nachtrag zum Thema soziale Ungleichheit und pseudolinke Politik

In einem Artikel über den Zusammenhang zwischen der Vermögensverteilung in den Vereinigten Staaten und der Politik der Pseudolinken zitierte die World Socialist Web Site vor Kurzem aus einer Studie der Universität Berkeley, die im Dezember 2016 veröffentlicht wurde. Darin geht es um die Kluft zwischen den reichsten 10 Prozent und den ärmeren 90 Prozent der US-Bevölkerung. Innerhalb der reichsten 10 Prozent richtete die WSWS ihr Augenmerk insbesondere auf die Stellung der 9 Prozent, die auf das reichste 1 Prozent folgen, also die 21 Millionen Amerikaner einer privilegierten und gut bezahlten Schicht.

Dieser Artikel wurde von zahlreichen Lesern kommentiert, wobei sich eine Minderheit dagegen aussprach, zwischen den Interessen der „nachfolgenden 9 Prozent“ und denen der unteren 90 Prozent zu unterscheiden. In einigen Kommentaren wurde die Sorge zum Ausdruck gebracht, dass die WSWS die „nachfolgenden 9 Prozent“ vom Sozialismus ausgrenzt, wenn sie ihre Interessen denen der Arbeiterklasse gegenüberstellt.

Ein Leser namens George Gonzales schreibt, der Artikel erwecke den Eindruck, „als wären die 9 Prozent samt und sonders aktiv verbündet mit dem obersten 1 Prozent“. Unser Leser ben franklin[pre death] schreibt: „Die ,nachfolgenden 9 Prozent‘ alle in einen Topf zu werfen und der Kapitalistenklasse zuzuordnen, ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Indem ihr die Arbeiter in diesem Einkommenssegment abgrenzt, tragt ihr zu eben der Zersplitterung bei, die die Bourgeoisie und ihre Vertreter im Staat täglich schüren.“

Andere Leser bemängeln, dass die im Artikel verwendeten Statistiken zur Vermögens- und Einkommensungleichheit keine geeignete Grundlage seien, um den Klassencharakter des wohlhabenderen Teils der Gesellschaft zu bestimmen. Human6 behauptet, der Artikel beruhe auf einer „unseriösen, […] empirischen, pragmatischen, kleinbürgerlich-liberalen“ Herangehensweise, denn er verwende „Geldbeträge und Prozentwerte, um die Pseudolinke und die von ihr repräsentierten Schichten zu bestimmen“. Human6 meint, die WSWS übergehe die abhängig Beschäftigten in den nachfolgenden 9 Prozent oder den obersten 5 Prozent, darunter „Chirurgen ([mit einem Jahreseinkommen von] 247.520 Dollar), Psychiater (193.000 Dollar), Zahnärzte (136.400 Dollar), Anästhesisten (160.250 Dollar), Piloten, Co-Piloten und Luftfahrtingenieure (136.400 Dollar)“. Diese, so der Leser, „erlangen ihr Einkommen durch Arbeit, durch die Herstellung von Waren und Dienstleistungen, die zum Kauf angeboten werden“.

Die WSWS begrüßt eine breite Diskussion in ihrer Kommentarspalte. Alle Beiträge, seien sie zustimmend oder kritisch, sind willkommen. Denn sie sprechen Fragen an, die in Bezug auf die Klassenbeziehungen und die Orientierung der revolutionären Bewegung eine wichtige Rolle spielen. Mit dem vorliegenden Artikel sollen die gesellschaftlichen und politischen Fragen, die in der Diskussion aufgeworfen wurden, eingeordnet werden.

Eingangs möchten wir feststellen, dass die Einkommensstatistiken, die Piketty, Saez und Zucman in ihrer Studie anführen, eine sorgsame Betrachtung verdienen. Sie werfen ein Schlaglicht auf die Stellung der nachfolgenden 9 Prozent in Beziehung zu den unteren 90 Prozent wie auch dem obersten 1 Prozent.

Die Studie schlüsselt unter anderem das durchschnittliche Pro-Kopf-Bruttoeinkommen nach Perzentilen auf. Dass hier Pro-Kopf-Einkommen anstelle von Haushaltseinkommen verwendet werden, stellt einen großen Fortschritt in der Erforschung von Ungleichheit dar, denn auf diese Weise kann die soziale Schichtenbildung besser abgebildet werden. Ebenso sind bei dieser Erfassung wichtige Variablen mit Bezug auf den demografischen Wandel, die schrumpfenden Haushaltsgrößen und das nachhaltige Eintreten von Frauen in den Arbeitsmarkt besser zu kontrollieren.

Im Jahr 2014 lag die Schwelle zum 90. Perzentil bei einem Pro-Kopf-Bruttoeinkommen von 122.691 Dollar (d. h. Personen mit diesem Einkommen lagen an der Untergrenze der oberen 10 Prozent). Die Schwelle zum 95. Perzentil lag bei 184.329 Dollar, und die zum 98. Perzentil bei 471.968 Dollar.

Die Schwellenwerte für die niedrigeren Dezile fallen in großen Schritten ab, was einen drastischen Rückgang der Pro-Kopf-Einkommen widerspiegelt. Um die Schwelle zum 80. Perzentil zu überschreiten, ist ein Einkommen von 81.983 Dollar nötig (das entspricht 66,8 Prozent des 90. Perzentils); das 70. Perzentil beginnt bei 61.542 Dollar (50,2 Prozent der Grenze zum 90. Perzentil);das 60. Perzentil bei 47.706 Dollar (38,9 Prozent) und das 50. Perzentil bei 36.492 Dollar (29,7 Prozent). Die Pro-Kopf-Einkommen an der Spitze der 9 Prozent (also den Wohlhabendsten des 98. Perzentils) liegen deutlich oberhalb des 80. Perzentils (etwa um das Sechsfache), des 70. Perzentils (etwa um das Achtfache), des 60. Perzentils (um das Zehnfache) und des 50. Perzentils (um das Dreizehnfache).

Die ärmere Hälfte der Bevölkerung besitzt praktisch nichts. Das Durchschnittsjahreseinkommen der ärmsten 117 Millionen Amerikaner liegt bei 16.200 Dollar. Ein volles Fünftel der Bevölkerung – etwa 45 Millionen Menschen, somit mehr als doppelt so viele wie die nachfolgenden 9 Prozent – hat ein Jahreseinkommen von weniger als 12.000 Dollar vor Steuern.

Die zunehmende soziale Polarisierung tritt noch stärker zutage, wenn man sich die Zahlen im Einzelnen anschaut. In den drei Jahrzehnten von 1980 bis 2010 stieg das Jahreseinkommen, mit dem die Schwelle zum 90. Perzentil überschritten wird, durchschnittlich um 1,5 Prozent. Die Schwelle zum 95. Perzentil erhöhte sich um 1,7 Prozent und die zum 99. Perzentil um 2,2 Prozent. Das ärmste Drittel der Bevölkerung dagegen verlor an Einkommen, und die große Bevölkerungsgruppe zwischen dem untersten Drittel und dem 70. Perzentil verzeichnete Einkommenszuwächse von weniger als 1 Prozent. Der Einkommenszuwachs für das 90. Perzentil war über ein Drittel höher als für das 70. Perzentil, über die Hälfte höher als für das 60. Perzentil, um das Dreifache höher als für das 50. Perzentil und um das Siebenfache höher als für das 40. Perzentil.

Die Studie von Piketty, Saez und Zucman liefert höchst wichtiges Material für eine Kritik des amerikanischen Kapitalismus und das Verständnis seiner politischen Struktur. Doch Human6 erhebt den Einwand, dass es „empirisch“ und „antimarxistisch“ sein, diesen Zahlen bei der Analyse der amerikanischen Gesellschaft große Bedeutung beizumessen. Aus der marxistischen Kritik am philosophischen Empirismus leitet Human6 fälschlich eine Ablehnung von empirischer Forschung ab, die mit einer präzisen Datenerhebung und ‑analyse einhergeht. Doch solche Forschungen bilden die wesentliche Grundlage jeder Wissenschaft und damit auch des Marxismus.

Die in unserem Artikel zitierten Zahlen von Piketty, Saez und Zucman spiegeln eine schockierende Vermögens- und Einkommenskonzentration an der Spitze der Gesellschaft wider, sowohl beim obersten 1 Prozent wie auch, etwas allgemeiner, unter den wohlhabendsten 10 Prozent. Aus dieser Einkommens- und Vermögensverteilung zog die WSWS wesentliche Rückschlüsse auf die ökonomischen Verhältnisse, die den Hintergrund des politischen Lebens in den Vereinigten Staaten bilden.

Insgesamt zeigen die Daten, dass die herrschende Klasse in den vergangenen vierzig Jahren eine gewaltige Umverteilung der Vermögen und Einkommen von den unteren 90 Prozent zu den obersten 10 Prozent durchgeführt hat. Durch diese Plünderung der Gesellschaft hat sich eine beispiellose Kluft zwischen dem Leben der Wohlhabenden und Reichen auf der einen und der großen Masse der arbeitenden Bevölkerung auf der anderen Seite aufgetan.

Die WSWS wählt diese Trennlinie nicht willkürlich, wie in einigen Kommentaren unterstellt wird. Natürlich sind soziologische Kategorien stets ungenau und begrenzt, doch die Spaltung zwischen den obersten 10 und den unteren 90 Prozent ergibt sich aus den Daten selbst, d. h. aus der derzeitigen Ausprägung der sozialen Ungleichheit und dem gegebenen Stand der Klassenbeziehungen.

Es stimmt, dass das Einkommensniveau nicht als alleiniges Kriterium einer Klassenanalyse taugt, aber welcher Anteil des Gesamtvermögens auf welche Schichten der Gesellschaft entfällt, spielt durchaus eine Rolle. Sozialisten stochern nicht so tief im Nebel der Abstraktion, dass sie der Frage „Wer kriegt was?“ keine Bedeutung beimessen. Immerhin hat das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Aneignung des Mehrwerts der Arbeit Auswirkungen auf die Verteilung des Nationaleinkommens – direkte und indirekte.

Das Einkommen der obersten 10 Prozent ist in den vergangenen vierzig Jahren auf Kosten des Einkommens der unteren 90 Prozent gewachsen. Die obersten 10 Prozent beziehen ihr Einkommen und Vermögen in immer stärkerem Maße aus der Finanzspekulation, während die untersten 90 Prozent so gut wie keine Wertpapiere besitzen. Die unteren 50 Prozent der Bevölkerung wurden ausgeplündert und besitzen nichts mehr. Vom 50. bis zum 90. Perzentil stagnierte das Einkommen, der Anteil dieser Gruppen am Einkommen und Vermögen sank, und sie sind im Vergleich zu den oberen 10 Prozent eindeutig abgestiegen, wenn auch langsamer als die ärmste Hälfte der Bevölkerung.

Die nachfolgenden 9 Prozent verfügen heute über einen größeren Anteil am Nationaleinkommen als jemals seit 1940. Die soziale Stellung dieser Schicht hat sich auf Kosten der untersten 90 Prozent deutlich verbessert. Zwar ist der Anteil der nachfolgenden 9 Prozent am Haushaltsvermögen im Verhältnis zum oberen 1 Prozent gesunken. Dennoch verfügt sie über mehr Vermögen als die ärmeren 90 Prozent der Gesellschaft zusammengenommen.

Diese Statistiken spiegeln das reale Leben wider. Sie schlagen sich in allen Aspekten des persönlichen, politischen und kulturellen Lebens nieder. Wir bestreiten nicht, dass große Teile derjenigen, die zu den nachfolgenden 9 Prozent zählen, wirtschaftlich unter echtem Druck stehen. Aber das Wesen und die Intensität dieses Drucks sind völlig anders beschaffen als das, was die unteren 90 Prozent oder gar die unteren 70 oder 50 Prozent umtreibt.

Der Alltag großer Teile der unteren 90 Prozent ist mehr oder weniger geprägt von einem ständigem Kampf um Zugang zu medizinischer Versorgung, gesundem Essen, Obdach, sauberem Trinkwasser, Bildung, Verkehrsmitteln für den Arbeitsweg, Kinderbetreuung, Pflege und anderen Grundbedürfnissen. Für den größten Teil der Bevölkerung kann ein Versagen in diesem Kampf schreckliche Folgen haben: Tod, Verarmung, Drogen- und Alkoholsucht, Gefängnis, Entzug des Sorgerechts für die Kinder und Obdachlosigkeit.

Die nachfolgenden 9 Prozent haben ganz andere Sorgen. Auch wenn der soziale Druck, der auf ihnen lastet, nicht das unmittelbare Überleben im Alltag betrifft, leugnen wir als Sozialisten weder, dass diese Schicht unter Druck steht, noch behaupten wir, dass er keine Rolle spiele.

Diejenigen mit einem Bruttoeinkommen von 122.000 Dollar (90. Perzentil) lebt unter echtem materiellen Druck, der enormen psychologischen Stress und persönliche Krisen auslösen kann. Sie leben überwiegend in wohlhabenden Vierteln und Vorstädten, wo sie räumlich von der Arbeiterklasse getrennt sind. Sie kaufen in anderen Läden ein, essen in anderen Restaurants und schicken ihre Kinder auf andere Schulen. Ihr gesellschaftliches Bewusstsein ist mehr oder weniger von der Angst geprägt, dass sie durch eine plötzliche schlimme Wendung in die Reihen der Arbeiterklasse hinabgeworfen werden könnten.

Das Wissen um die Grenzen der eigenen finanziellen Sicherheit – insbesondere im Vergleich zu den obersten 5 Prozent – ruft Neid und Verbitterung hervor. Die wohlhabende obere Mittelklasse muss sich keine Sorgen darum machen, woher sie das Geld für die nächste Mahlzeit nimmt. Aber im Hinblick auf den Lebensstil kennt sie sehr wohl den Unterschied zwischen einem Jahresgehalt von 125.000 und von 1 Million Dollar.

Die kollektive soziale Unzufriedenheit mit der „ungerechten“ Verteilung innerhalb der oberen 10 Prozent – d. h. die extreme Konzentration bei dem obersten 1 bzw. sogar dem obersten 0,1 Prozent – findet in ihren Niederschlag in einer höchst geräuschvollen Form kleinbürgerlicher Politik, die sich um Hautfarbe, Genderfragen und sexuelle Orientierung dreht. Sie zielt nicht auf die Enteignung der Kapitalistenklasse und die Schaffung von sozialer Gleichheit auf Massenbasis ab. Vielmehr geht es darum, das auf Privilegien basierende System so zu gestalten, dass es 1) einigen glücklichen Individuen den Aufstieg in die obersten 10 Prozent ermöglicht und 2) eine ausgewogenere Verteilung des Reichtums innerhalb dieser Schicht erzeugt.

Die Zugangsbestimmungen an den Universitäten und die Absolventenförderung, die Vergabe von Professuren, der Zugang zu höheren Positionen im öffentlichen Dienst, z. B. Richter- und Staatsanwaltsstellen, werden in zunehmenden Maße von der Identitätspolitik bestimmt. Auf diese Weise greifen Einkommen, politische Macht und berufliches Prestige ineinander und verstärken die Bedeutung der Identitätspolitik in der sozialen Psychologie und Politik der wohlhabenden nachfolgenden 9 Prozent.

Natürlich ist diese Einkommensgruppe heterogen. Es gibt unter den nachfolgenden 9 Prozent – und selbst im obersten 1 Prozent – sicherlich Einzelne, die den Kampf der Arbeiterklasse unterstützen. Diese besten Elemente aus den Reihen der Künstler und Wissenschaftler werden sich der Arbeiterklasse anschließen, wenn diese eine entschlossene Führung hat.

Wer jedoch leugnet, dass die Vermögens- und Einkommensverteilung ein höchst bedeutender Faktor in der Herausbildung gesellschaftlicher Anschauungen und der politischen Orientierung ist, spielt die Bedeutung der enormen Ungleichheit herunter, die die amerikanische Gesellschaft kennzeichnet. Außerdem werden auf diese Weise die Interessen der breiten Masse der Arbeiterklasse denen der wohlhabendsten Teile der Mittelklasse untergeordnet.

Eine Analyse der sozialen Ungleichheit und gesellschaftlichen Schichtenbildung war immer schon der Grundstock marxistischer Analyse.

Eine solche Analyse bildete einen zentralen Bestandteil von Lenins Werk Der Imperialismus und aller seiner Schriften zum Zusammenbruch der Zweiten Internationale. Lenin stellte anhand detaillierter Statistiken und Fakten fest, dass die Entstehung des Imperialismus und die Aneignung von Extraprofiten durch die kapitalistischen Großmächte weitreichende Auswirkungen auf die Struktur der Gesellschaft hatten.

Die Aufhäufung von Extraprofiten machte es möglich, „die Arbeiterführer und die Oberschicht der [Arbeiter-]Aristokratie [zu] bestechen“. [...] „Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ,Arbeiteraristokratie‘, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie“, schrieb er. (Lenin, Der Imperialismus, Berlin 1979, S. 15f.)

Lenin richtete sein Augenmerk nicht nur auf die Gewerkschaften, sondern auch auf eine Schicht von Arbeitern, die „nach ihrem Einkommen“ und ihrer Weltanschauung die wichtigste soziale Basis der Zweiten Internationale bildete, der Hauptstütze der Bourgeoisie. Diese Schicht bestand aus Arbeitern, die ihre Arbeitskraft gegen Lohn verkauften, aber eine andere gesellschaftliche Stellung innehatten als der Rest der Arbeiterklasse – und diese Stellung war nicht zuletzt durch ihr Einkommen bestimmt.

Diese Analyse war von größter Bedeutung für den Aufbau der Dritten Internationale als Antwort auf den Zusammenbruch und Verrat der Zweiten Internationale. Wie Lenin feststellte:

„Ohne die ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der praktischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen.“ (Ebenda, S. 16)

Als Lenin die Richtung für diesen Kampf absteckte, traf er eine weitere Feststellung, die nichts an Relevanz eingebüßt hat. Karl Kautsky, der theoretische Kopf der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, rechtfertigte seine Orientierung an der Arbeiterbürokratie und ‑aristokratie mit der Behauptung, nahe bei den organisierten Massen zu bleiben. Lenin strich in Opposition zu Kautsky heraus, dass Friedrich Engels schon im 19. Jahrhundert zwischen der „bürgerlichen Arbeiterpartei der alten Trade-Unions“ – einer privilegierten Minderheit – und den „untersten Massen“, der wahren Mehrheit unterschieden hatte.

Lenin gelangt zu folgendem Schluss: „Und es ist daher unsere Pflicht, wenn wir Sozialsten bleiben wollen, tiefer, zu den untersten Massen zu gehen: darin liegt die ganze Bedeutung des Kampfes gegen Opportunismus, der ganze Inhalt dieses Kampfes.“ (Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, Werke Bd. 23, Berlin 1957, S. 118)

Die Frage der Ungleichheit und Einkommensverteilung ist auch ein zentraler Bestandteil von Trotzkis Analyse der Sowjetunion. Ein bedeutender Teil seines Werks Die Verratene Revolution ist der Untersuchung der Ungleichheit in der UdSSR und ihrer Beziehung zum Aufstieg einer brutalen totalitären Diktatur gewidmet. Trotzki bezeichnet die Sowjetbürokratie als Polizisten der Ungleichheit. Er studierte mit größter Sorgfalt die Einkommensunterschiede und soziale Differenzierung innerhalb der sowjetischen Arbeiterklasse und stellte fest, dass das stalinistische Regime bestrebt war, wesentliche Fakten zu unterschlagen. Den Apologeten des Stalinismus, die eine Untersuchung der Einkommensverhältnisse als Abweichung vom marxistischen Primat des Produktionsprozesses bezeichneten, hielt Trotzki entgegen:

„Oberflächliche ,Theoretiker‘ können sich natürlich damit trösten, dass die Verteilung der Güter gegenüber ihrer Herstellung ein Faktor zweiter Ordnung ist. Die Dialektik der Wechselwirkung bleibt jedoch auch hier voll in Kraft. Je nachdem, nach welcher Seite hin sich die Unterschiede in den persönlichen Existenzbedingungen entwickeln werden, wird schließlich auch die Frage nach dem endgültigen Schicksal der verstaatlichten Produktionsmittel gelöst werden. Wenn ein Dampfer zum Kollektiveigentum erklärt wird, die Passagiere aber nach wie vor in erste, zweite und dritte Klasse eingeteilt werden, dann ist klar, dass für die Passagiere der dritten Klasse der Unterschied in den Existenzbedingungen von weit größerer Bedeutung sein wird als der juristische Eigentumswechsel. Umgekehrt werden die Passagiere der ersten Klasse bei Kaffee und Zigarren dem Gedanken huldigen, das Kollektivgut sei alles, die bequeme Kajüte dagegen nichts. Die hieraus erwachsenden Gegensätze können das gebrechliche Kollektiv sprengen.“ (Trotzki, Die Verratene Revolution, Essen 1997, S. 265)

Übernehmen wir Trotzkis brillante Metapher, um den Wesenskern des kleinbürgerlich-pseudolinken Rufes nach einer „Partei der 99 Prozent“ zu verdeutlichen. Auf dem Kreuzfahrtschiff Amerika logieren 1 Prozent der Passagiere in Prunkgemächern mit Meerblick. Sie dinieren mit Kapitän Trump in einem exklusiven Fünf-Sterne-Restaurant, wo sie ihre opulenten Mahlzeiten mit Wein zu 10.000 Dollar die Flasche hinunterspülen. Die „nachfolgenden 9 Prozent“ der Passagiere bewohnen Kabinen, deren Qualität nach ihrem Einkommen gestaffelt ist. Die billigsten Unterkünfte in der Top-Zehn-Prozent-Kategorie haben keinen Meerblick, abgewetzte Teppiche und unbequeme Matratzen. Und wenn sie keinen ordentlichen Aufpreis zahlen können oder wollen, haben die Reisenden dieser Kategorie keinen Zutritt zum Pool und den Wellness-Bereichen, die den reichsten Passagieren vorbehalten sind.

Die Passagiere, die die unteren 9 Prozent der wohlhabendsten 10 Prozent ausmachen, sind unzufrieden mit der Verteilung von Unterkünften und Privilegien. Die ausgefuchsten Politiker unter ihnen schlagen vor, die Ungerechtigkeit zu korrigieren, indem ein Teil der besten Kabinen auf der Grundlage der Hautfarbe, der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts und der sexuelle Präferenzen vergeben wird. Natürlich braucht es eine gewisse Massenunterstützung, um die gewünschte Neuverteilung zu erreichen. Daher werben sie mit vagen demokratischen Phrasen um die Unterstützung der unteren 90 Prozent der Passagiere, die in der Holzklasse reisen. So wird die Partei der 99 Prozent auf dem Dampfer Amerika organisiert! Nach der revolutionären Kabinenneuverteilung müssen sich die unteren 90 Prozent der Passagiere allerdings leider weiterhin mit der Holzklasse begnügen.

Die zentrale strategische Frage für die sozialistische Bewegung ist die Frage der Klassenorientierung. Welche gesellschaftliche Kraft bildet die Grundlage für den Sturz des kapitalistischen Systems und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft? Soll sich die sozialistische Bewegung auf die breite Masse der Arbeiterklasse stützen? Oder soll sie ihr Programm auf die unzufriedenen Elemente unter den wohlhabendsten 10 Prozent der Bevölkerung ausrichten und an diese anpassen?

Die unteren 90 Prozent der amerikanischen Bevölkerung umfassen ungefähr 300 Millionen Menschen. Das ist fraglos eine beachtliche Basis für den Aufbau einer revolutionären sozialistischen Bewegung. Aus dieser großen Schicht – die zwangsläufig die Unterstützung der sozialsten und humansten Elemente aus den „nachfolgenden 9 Prozent“ gewinnen wird – muss die revolutionäre marxistische Bewegung eine Kraft aufbauen, die abrechnet mit der herrschenden Klasse Amerikas und der weltweiten kapitalistisch-imperialistischen Unterdrückung, die sie betreibt.

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