Für einen Boykott der Wahlen in Frankreich

Diese Erklärung erschien 2002 vor der zweiten Runde der Präsidentenwahl am 5. Mai, in der sich der neofaschistische Kandidat des Front National (FN), Jean-Marie Le Pen, und der amtierende gaullistische Präsident Jacques Chirac gegenüberstanden. Im Gegensatz zur Sozialistischen Partei, der Kommunistischen Partei, den Grünen und anderen Organisationen lehnte es die WSWS ab, den Kandidaten der Rechten, Chiraczu unterstützen. Sie rief stattdessen zu einem aktiven Wahlboykott auf, um so unabhängig vom Wahlausgang die Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den zukünftigen Präsidenten vorzubereiten.

Das Studium der französische Präsidentenwahl 2002 ist von großer Bedeutung für die derzeitige Wahl zwischen dem früheren Banker und Wirtschaftsminister der Sozialistischen Partei (PS), Emmanuel Macron, und der neofaschistischen Kandidatin Marine le Pen. (Siehe Nein zu Macron und Le Pen! Für einen aktiven Boykott der Frankreichwahl!”)

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Das Internationale Komitee der Vierten Internationale ruft alle Arbeiter, Jugendlichen und Intellektuellen in Frankreich dazu auf, die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen zu boykottieren, die zwischen dem Kandidaten des neofaschistischen Front National, Jean-Marie Le Pen, und dem rechts stehenden Präsidenten Frankreichs, Jacques Chirac, ausgetragen wird.

Le Pens Wahlerfolg in der ersten Abstimmung hat die tiefgehende Krise der Fünften Republik ans Tageslicht gebracht. Ein politisches System, das nur noch die Wahl zwischen zwei solchen Kandidaten lässt, hat jede Glaubwürdigkeit verloren. Die Arbeiterklasse muss dieses undemokratische Spektakel von sich weisen und sich darauf vorbereiten, als eigene, unabhängige Kraft gegen jeden dieser beiden Reaktionäre anzugehen, wer immer von beiden die Wahl auch gewinnen mag.

Ein Boykott ist die notwendige und politisch richtige Antwort der französischen Arbeiterklasse auf die Stichwahl am 5. Mai, weil er den Scheinwahlen ihre Legitimität abspricht und die Möglichkeit bietet, die Unzufriedenheit der Massen in wirkungsvolle politische Aktivität umzusetzen.

Die Auswertung der ersten Wahlrunde zeigt, dass die Stichwahlen breite Schichten der französischen Wählerschaft de facto ausgrenzen. Ein Drittel der Stimmberechtigten ist den Wahlen aus Abscheu gegen sämtliche Kandidaten ferngeblieben, während nahezu 40 Prozent derjenigen, die daran teilnahmen, für Parteien stimmten, die sich der Linken zurechnen. Von diesen Wählern wiederum gaben 11 Prozent ihre Stimme Parteien, die mit einer revolutionären sozialistischen Politik identifiziert werden. Und doch bleibt der Wählerschaft am Ende nur noch die Entscheidung zwischen zwei extrem weit rechts stehenden Kandidaten, die zusammen weniger als ein Viertel der Stimmen aller Wahlberechtigten auf sich vereinigen konnten.

Hunderttausende französische Arbeiter und Jugendliche sind auf die Straße gegangen, um ihre Opposition gegen die ausländerfeindliche und arbeiterfeindliche Politik von Le Pens Front National und ihren Hass auf das System zum Ausdruck zu bringen, das mit seiner sozialen Ungleichheit und politischen Korruption diese reaktionäre politische Bewegung hervorgebracht hat.

Weitere Hunderttausende werden am 1. Mai in Paris demonstrieren. Dieser Tag, der weltweit als Symbol für die Einheit der Arbeiterklasse gilt, sollte genutzt werden, um durch einen Aufruf zum Wahlboykott eine echte Klassenopposition gegen die beiden Kandidaten der bürgerlichen Reaktion ins Leben zu rufen. Es geht nicht darum, dass Arbeiter sich einfach enthalten, sondern dass sie beginnen, als unabhängige Kraft gegen diejenigen Elemente – faschistisch und gaullistisch – anzugehen, die versuchen, Einwanderer und die unterdrücktesten Gesellschaftsschichten zum Sündenbock zu stempeln.

Die Kampagne der Sozialistischen Partei, der Kommunistischen Partei, der Grünen und anderer Teile der französischen Linken zur Unterstützung Chiracs in der zweiten Runde verdient nichts als Verachtung. Eine Stimmabgabe für Chirac bringt den Kampf gegen Le Pen keinen Schritt voran, sondern verstärkt nur die politische Desorientierung, die überhaupt erst zum Erfolg der Neofaschisten in der ersten Wahlrunde geführt hat.

Weil diejenigen Parteien, die in der Vergangenheit ihre Wählerstimmen aus der Arbeiterklasse bezogen, überhaupt keine unabhängige Alternative mehr boten, konnte der Front National eine rechtsgerichtete, populistische Kampagne führen, die an den „kleinen Mann“ appellierte, sich gegen das monolithische politische „Establishment“ zu wehren.

Infolgedessen bezog Le Pen seine Unterstützung nicht nur aus seinen traditionellen Hochburgen in Südfrankreich, sondern auch aus Arbeitergebieten im Norden, in denen sich früher eher die Unterstützerbasis der stalinistischen KP befand. Deren Stimmenzahl ist von 2,6 Millionen im Jahr 1995 auf nur noch 960.000 eingebrochen.

Die Gefahren, die mit der wachsenden Unterstützung für eine neofaschistische Partei in Frankreich einhergehen, dürfen nicht unterschätzt werden. Die Bedeutung der Stimmen für Le Pen besteht aber darin, dass das Wahlergebnis eine Vertrauenskrise gegenüber dem gesamten bürgerlichen Politikbetrieb zum Ausdruck bringt. Das muss man sich klar machen.

„Vierzig Prozent derjenigen, die gewählt haben, erteilten den Regierungsparteien eine Abfuhr, das sind doppelt so viele wie in den Jahren 1988 und 1995“, stellte Le Monde fest. „Wenn man die Enthaltungen hinzu rechnet, dann haben drei von fünf Wahlberechtigten die Kandidaten abgelehnt, die heute eine Regierung führen können. Allein diese Zahl besagt, dass über das Scheitern der Linken, den Erfolg der extremen Rechten und die Schwäche der Rechten hinaus eine tiefgreifende, Besorgnis erregende Ablehnungshaltung zum Ausdruck gebracht wird.“

Die politischen Parteien und Personen des öffentlichen Lebens, die im Namen eines „Referendums gegen Le Pen“ oder einer „Volksabstimmung für die Demokratie“ zur Stimmabgabe für Chirac aufrufen, versuchen das Vertrauen der Bevölkerung in ein politisches System wiederherzustellen, das von breiten Schichten der Franzosen abgelehnt wird. Le Pen seinerseits begrüßt den Schulterschluss zwischen Sozialisten und Gaullisten als Bestätigung seiner reaktionären Demagogie.

Chirac wiederum hüllt sich in die Trikolore und erklärt, sein Sieg sei notwendig zur „Ehrenrettung Frankreichs“. Es ist durchaus passend, dass ein solch dubioses Ziel mit der Wahl eines Mannes gleichgesetzt wird, dessen Name für Korruption und Mauscheleien steht.

Der amtierende Präsident weigert sich, in einer Fernsehdebatte gegen Le Pen anzutreten. „Im Angesicht von Intoleranz und Hass kann man nicht debattieren“, erklärte er auf seiner ersten Kundgebung nach der Wahl vom 21. April. „Genau wie ich mich früher nie zu einem Bündnis mit dem Front National bereit erklärt habe... werde ich in Zukunft keine Debatte mit ihrem Vorsitzenden führen.“

Es fällt Le Pen nicht schwer, diese Heuchelei zu entlarven. Er hat aufgedeckt, dass Chirac im Jahr 1988 ausdrücklich um ein solches Bündnis gebeten hatte, und zwar kurz nach Le Pens berüchtigter Bemerkung, die Gaskammern der Nazis seien ein „Detail der Geschichte“. In diesem Zusammenhang hatte der Vorsitzende des Front National seine Anhänger aufgefordert, in der zweiten Runde für die gaullistische RPR zu stimmen.

Chirac hat noch andere Gründe, einer Debatte mit Le Pen aus dem Weg zu gehen. Wie alle Politiker der französischen Rechten denkt er bereits an die Parlamentswahlen im Juni. Sein Hauptanliegen ist nicht der Sieg über Le Pen, sondern die Vereinigung der Parteien auf der Rechten im Interesse einer parlamentarischen Mehrheit. Zu diesem Zweck hat er eine neue politische Frontorganisation geschaffen, die Union für eine Präsidentschaftsmehrheit (UMP), die das rechte Spektrum zusammenschließen soll.

Chirac hat keine grundsätzlichen politischen Meinungsverschiedenheiten mit Le Pen. Er achtet sorgfältig darauf, das Tor zu einer künftigen Zusammenarbeit mit den Neofaschisten nicht zuzuschlagen.

Das ganze Wahlverfahren ist zu einem politischen Knebel für die Massen geworden. Es lässt der arbeitenden Bevölkerung keine Möglichkeit mehr, ihrer sozialen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Die sogenannten linken Parteien – Sozialisten und Kommunisten – tragen die Hauptverantwortung für diesen Zustand. Sie gaben sich als die besten Sachwalter des kapitalistischen Staates und der kapitalistischen Wirtschaft aus, und unter ihrer Regie erfolgten die Zerstörung sozialer Dienste, die Privatisierung der Industrie und die Angriffe auf demokratische Rechte.

Das abstoßende Schauspiel politischer Feigheit, das der Premierminister und Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei Lionel Jospin bot, als er wenige Stunden nach dem Wahldebakel seiner Partei seinen Rücktritt ankündigte, zeigte den ganzen Bankrott der offiziellen „Linken“. Mit seiner Selbstdemütigung vor Le Pen erwies sich Jospin als politischer Erbe von Edouard Daladier, dem Führer der Radikalen Partei, der nach faschistischen Unruhen im Februar 1934 zurücktrat und später der faschistischen Machtübernahme im Mai/ Juni 1940 den Weg ebnete.

Ein Boykott ist ein notwendiger erster Schritt, um in der Arbeiterklasse für politische Klarheit zu sorgen und der Fehlorientierung entgegenzutreten, die durch den Verrat von Sozialistischer und Kommunistischer Partei entstanden ist. All die Arbeiter, Studenten und Intellektuellen, die das Wahlergebnis in helle Wut versetzt, dürfen nicht in der Isolation gelassen oder, schlimmer noch, zur Wahl einer Regierung herangezogen werden, die weitere Angriffe auf die Arbeiterklasse plant. Notwendig ist eine aktive Politik mit Versammlungen, in denen für einen Boykott geworben wird, mit Demonstrationen und politischen Streiks.

Diejenigen, die so tun, als sei die Stimmabgabe für Chirac der einzige Weg zum Sieg über den Front National, stellen nur ihre eigene Ohnmacht und ihren Pessimismus unter Beweis. Ein politisches Establishment, das eine solche Figur zum Helden der Demokratie hochstilisiert, zeigt damit nur seine eigene Hinfälligkeit.

Das Ergebnis, das die einflussreichsten Teile der französischen Bourgeoisie am liebsten sehen würden, ist eindeutig eine Präsidentschaft Chiracs mit einer rechts stehenden Mehrheit im Parlament. Eine solche Regierung würde einen großen Teil der vom Front National vertretenen Politik umsetzen. Dessen Parolen gegen Ausländer und für einen starken Staat wurden während der Wahlkampagne ohnehin von den Gaullisten weitgehend aufgegriffen.

Ein erheblicher Teil der Wählerschaft, rund 11 Prozent, stimmte für Organisationen, die sich selbst als Trotzkisten bezeichnen und den Anspruch erheben eine revolutionäre Politik zu vertreten. Diese Parteien und ihre Kandidaten – Arlette Laguiller von Lutte Ouvrière, Olivier Besancenot von der Ligue Communiste Révolutionnaire und Daniel Gluckstein von der Parti des Travailleurs – stehen jetzt in der Verantwortung, die Forderung nach einem Boykott aufzugreifen und sich aktiv dafür einzusetzen.

Die erste Reaktion Laguillers war allerdings rein passiv. In ihrer jüngsten Erklärung sagte sie, sie werde „in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl nicht zur Enthaltung aufrufen“. Sie werde, fügte sie hinzu, Arbeiter dringend auffordern, nicht für Le Pen zu stimmen, und sich gleichzeitig nicht dem Bündnis anschließen, das zur Stimmabgabe für Chirac aufruft.

Das ist ein Ausweichmanöver, und keine Politik zum Kampf gegen die Rechten. Es lässt die Arbeiter im Unklaren, was sie als nächstes tun sollen. Laguillers Formulierung überlässt die Entscheidung dem einzelnen Wähler und begünstigt auf diese Weise implizit eine Stimmabgabe für Chirac.

Eine aktive Politik in Form eines organisierten Boykotts ist notwendig, um die Arbeiterklasse zu vereinen und um einen neuen Weg des Kampfes zu eröffnen, der zum Aufbau einer wirklich unabhängigen, sozialistischen Massenbewegung beitragen wird.

Die französische Arbeiterklasse kann keinen Ausweg aus der politischen Krise finden, wenn sie sich auf ein nationales Programm im Rahmen Frankreichs beschränkt. Die Alternative der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei – ein bürokratischer Sozialstaat ohne Sozialleistungen – ist in Wirklichkeit überhaupt keine Alternative.

Dem Nationalchauvinismus, der Fremdenfeindlichkeit und dem Protektionismus, der von Le Pen vertreten und von großen Teilen der sogenannten Linken geteilt wird, muss die Arbeiterklasse ihr eigenes, internationalistisches Programm entgegenstellen, um die Kämpfe der Arbeiterklasse zur Verteidigung des Lebensstandards und der demokratischen Rechte in ganz Europa zusammenzuschließen. Die Alternative der Arbeiter zum Europäischen Binnenmarkt für die transnationalen Konzerne sind die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

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