Landtagswahl in Schleswig-Holstein noch völlig offen

Ein Tag vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein ist noch völlig offen, wer in den Kieler Landtag einziehen wird. Vier von zehn Wählern gaben kurz vor der Wahl an, noch nicht zu wissen, wen sie am 7. Mai wählen wollen. Die Abstimmung gilt als wichtiger Test für die Bundestagswahl im September.

Die letzten Umfragen zeigen ein Kopf-an-Kopf-Rennen von CDU (32 Prozent) und SPD (30 Prozent). Daneben kommen die Grünen auf zwölf und die FDP auf zehn Prozent. Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), der die dänische und friesische Minderheit vertritt, ist von der Fünfprozentklausel ausgenommen.

Der SSW sitzt zurzeit mit der SPD und den Grünen in der Regierung. Die sogenannte „Küstenkoalition“ unter dem Ministerpräsidenten Torsten Albig (SPD) und seinem Stellvertreter Robert Habeck (Grüne) regiert seit fünf Jahren mit einer hauchdünnen Mehrheit von einer Stimme.

Ob die Linkspartei dagegen in den Landtag zurückkehrt, ist fraglich. Sie liegt in den Umfragen knapp unter fünf Prozent. Sie war bei der letzten Landtagswahl regelrecht eingebrochen, hatte zwei Drittel ihrer früheren Unterstützung eingebüßt und nur 2,2 Prozent erreicht. Die Piraten, die vor fünf Jahren erstmals in den Landtag einzogen, haben alle Erwartungen enttäuscht und werden den Einzug nicht mehr schaffen.

Dafür droht die AfD von der Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien zu profitieren. In den Umfragen erreicht sie zurzeit rund sechs Prozent.

Schon vor fünf Jahren, bei der Wahl 2012, hatten sich nur sechzig Prozent an der Wahl beteiligt. Diesmal hat man das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre gesenkt. Es gibt aber keine Partei, die ein fortschrittliches Programm anbietet.

Die große Zahl der Unentschlossenen weist auf die massive Unzufriedenheit und das wachsende Misstrauen in alle bürgerlichen Parteien hin. Ähnlich wie in Frankreich, wo es die etablierten Parteien, die 60 Jahre lang das Land regierten, nicht in die zweite Runde der Präsidentenwahl geschafft haben, sind auch hier die traditionellen Parteien weitgehend diskreditiert. Sie werden als austauschbare Interessenvertreter der Reichen wahrgenommen.

Keine der Parteien, die am Sonntag antreten, hat eine Antwort auf die drängenden Tagesfragen zu bieten. Tatsächlich unterscheiden sich ihre Programme in den Grundzügen kaum: Alle unterstützen eine verheerende Sparpolitik, innere Aufrüstung, Angriffe auf Flüchtlinge und den Kriegskurs ihrer Berliner Parteispitzen.

Das Land zwischen Nord- und Ostsee weist eine ausgeprägte soziale Ungleichheit auf. In dem zweitkleinsten Flächenland Deutschlands leben über fünfhundert Millionäre. Sie haben sich entweder in einem Teil der Metropolregion nördlich von Hamburg oder an der nördlichen Westküste niedergelassen.

Außer den sogenannten „Speckgürteln“ gibt es aber auch ganz andere Gebiete. Die Hälfte aller Haushalte leben von einem Einkommen von höchstens 23.000 Euro im Jahr oder weniger. In den kreisfreien Städten wie Flensburg, Kiel, Lübeck oder Neumünster explodieren die Mieten, und die Armut steigt.

Laut dem neusten Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands ist die Armutsquote in Schleswig-Holstein von 2014 auf 2015 um fast sechs Prozent angestiegen. 2015 mussten hier 420.000 Menschen mit einem Einkommen unter der Armutsgrenze über die Runden kommen, das sind 14,6 Prozent der Bevölkerung.

Zu den Hauptwirtschaftszweigen zählt der Tourismus. Früher gab es im hauptsächlich landwirtschaftlich geprägten Schleswig-Holstein auch Schiffsbau, Fischerei und ein wenig Industrie, doch diese Bereiche sind seit Jahrzehnten im Niedergang begriffen. Ein Beispiel dafür war die Großdruckerei Prinovis in Ithehoe im Besitz des steinreichen Bertelsmann-Konzerns. Durch ihre Schließung im Sommer 2014 wurden 1200 Beschäftigte auf einen Schlag arbeitslos.

Diese Entwicklung macht den Grund für die Enttäuschung über die SPD deutlich. Ministerpräsident Torsten Albig hatte wiederholt versprochen, aus Schleswig-Holstein eine „soziale, ökonomische, ökologische Modellregion“ zu machen. Aber selbst in ihren traditionellen Hochburgen in den Städten kann sich die SPD heute nicht mehr darauf verlassen, noch die stärkste Partei zu bleiben.

Wie alle Parteien richtet sie ihren Wahlkampf auf die privilegierten Schichten im „Speckgürtel“ aus und stellt Umwelt- und Lifestyle-Fragen in den Mittelpunkt, ohne ein Wort über die Kriegsgefahr, die Krise der EU oder die außenpolitische Wende in Berlin zu verlieren. Für die Bevölkerungsmehrheit hat sie nichts anderes als einen immer strikteren Sparkurs und Polizeiaufrüstung zu bieten.

Die Sparmaßnahmen hat in den letzten Jahren jede Regierung befürwortet, ob rot-grün oder schwarz-gelb. Im Mai 2010 beschlossen die damaligen Regierungsparteien CDU und FDP und die Oppositionsparteien SPD, Grüne und SSW, in der Landesverfassung eine Schuldenbremse zu verankern.

Die Folge davon ist die wachsende Zerstörung der gesellschaftlichen Infrastruktur. Auch die Lehrer, die Sozialarbeiter und das Pflegepersonal in den Krankenhäusern leiden darunter. Dies hat eine Umfrage des Marburger Bundes Anfang des Jahres drastisch enthüllt. Demnach klagen die Krankenhausärzte in Schleswig-Holstein über Arbeitsüberlastung und miserable Arbeitsbedingungen. Die Gründe dafür seien zu wenig Personal, viel zu lange Arbeitszeiten, schlechte Organisation und zu viel Bürokratie.

Jede künftige Regierung wird den Sparkurs noch verschärfen. Dazu trägt nicht zuletzt das Desaster um die marode HSH-Nordbank bei. Ein Teil der Bank ist mit faulen Schiffskrediten in der Höhe von 13,6 Milliarden Euro belastet. Da die Länder Hamburg und Schleswig-Holstein sich verpflichtet haben, die Bank trotz spekulativer Abenteuer über Wasser zu halten, werden die Steuerzahler für die Verluste aufkommen müssen: Sie werden voraussichtlich sechzehn Milliarden Euro insgesamt für Hamburg und Schleswig-Holstein betragen, also für jedes Land acht Milliarden.

Das ist der Hintergrund, vor dem die CDU und die FDP – zurzeit in der Opposition – im Wahlkampf einen strikteren Sparkurs fordern, während die regierenden SPD und Grünen kontern, niemand habe die Schuldenbremse so konsequent wie sie eingehalten. Außer symbolischen Almosen wie dem Blindengeld haben sie keine sozialen Leistungen vorzuweisen und bereits angekündigt, in der nächsten Periode die Sparschrauben weiter anzuziehen.

Auch in der Frage der innerstaatlichen Aufrüstung versuchen sich die Parteien gegenseitig zu überbieten. Die CDU fordert mehr öffentliche Videoüberwachung und die Aufstockung der Polizei. Sie will jährlich 400 Polizisten einstellen und eine zweite Einsatzhundertschaft aufstellen. Die FDP unterstützt diese Forderung, fordert außerdem mehr Personal für den Verfassungsschutz und propagiert eine „echte nationale Küstenwache“.

Die SPD versucht all dies zu toppen, indem sie verspricht, in den nächsten Jahren mindestens 500 Polizeibeamte zusätzlich zu den bisher etwa 8000 Polizisten einzustellen. Damit möchte sie auch Vorschlägen von rechts für den Aufbau von Bürgerwehren den Wind aus den Segeln nehmen. Auch die Grünen haben sich für eine „personell und materiell gut ausgestattete Polizei“ und für die Einstellung von mehr Polizeianwärtern ausgesprochen.

Schleswig-Holstein hat in diesem Frühjahr zusammen mit fünf weiteren Bundesländern an Bürgerkriegsvorbereitungen teilgenommen, bei denen die Polizei gemeinsam mit der Bundeswehr Inlandseinsätze probte.

Ende April organisierte das SPD-geführte Innenministerium die bisher größte Antiterror-Übung der Polizei mit 1500 Polizisten, darunter Spezialeinheiten aus acht Bundesländern, Bundespolizisten, Rettungskräften und Opfer-Darstellern. Auch für den G20-Gipfel, der im benachbarten Hamburg stattfindet, soll die Grenzüberwachung in Schleswig-Holstein verstärkt werden. Man will durch den Einsatz der Bundespolizei „Schleuserkriminalität bekämpfen“ und „gewaltbereite“ Gegner des G20-Gipfels an der Anreise hindern.

Dieser ganze martialische Rahmen macht schon deutlich, dass Schleswig-Holstein auch im Bereich der Flüchtlingspolitik keine Ausnahme darstellt. Das Land hat zwar die Abschiebung nach Afghanistan für drei Monate ausgesetzt – doch diese Periode endet wenige Tage nach der Wahl. So wichtig sie für einzelne betroffene Menschen auch sein mag, entpuppt sie sich doch als zynisches Manöver, ohne weitergehende prinzipielle Grundlage. Die Abschiebungen in andere Länder gehen weiter, und die Bedingungen für Flüchtlinge sind in Schleswig-Holstein nicht weniger brutal als in allen andern Bundesländern.

Wie sehr die SPD hier auf Linie ist, machte der stellvertretende SPD-Parteivorsitzende Ralf Stegner im Dezember deutlich, als er inmitten der Hysterie um die Terrorgefahr nach dem Anschlag in Berlin die Forderung aufstellte, sogenannte Gefährder seien dauerhaft in Abschiebehaft zu stecken. „Wenn deren Asylanträge bereits rechtskräftig abgelehnt sind, dann müssen sie in Haft“, betonte Stegner.

Jede kommende Regierung – ob ein schwarz-gelbes Bündnis, die Fortsetzung der „Dänen-Ampel“ mit der SSW, eine Jamaika- oder sonstige Koalition – wird unter den Bedingungen der weltweiten Entwicklung zu Handelskrieg und Krieg den sozialen Kahlschlag und die innere Aufrüstung noch verschärfen.

Was den Hype um Martin Schulz betrifft, so ist er definitiv abgeklungen. Das hat sich schon in der Saarland-Wahl im März gezeigt. Die groß inszenierte „Erneuerung der SPD“ mit Schulz als SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten hat sich als Luftnummer erwiesen. Sie sollte der rechten SPD-Politik im Bund ein neues Gesicht zu verpassen. Die SPD wird wieder mehr als die HartzIV- und Kriegspartei wahrgenommen, die sie ist.

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