Amazon: Körperliche Schwerstarbeit und digitale Überwachung

Ein Besuch im Amazon-Streiklokal in Rheinberg

Unglaubliche Arbeitsbedingungen, die an schwerste Sklavenarbeit erinnern, und gleichzeitig ständige digitale Überwachung, das ist Arbeitsalltag bei Amazon im niederrheinischen Rheinberg.

Amazon-Lager in Rheinberg

Über 1900 Arbeiter sorgen in dem 2011 eröffneten Logistikzentrum dafür, dass Kunden im Ruhrgebiet, in Köln, Bonn, Düsseldorf und bis nach Aachen, Münster und sogar Bremen noch am selben Tag beliefert werden. Welche kaum vorstellbaren Arbeitsbedingungen damit verbunden sind, berichteten uns letzten Samstag mehrere Amazon-Arbeiter beim Besuch im Streiklokal in Rheinberg.

Die rund 500 in der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi organisierten Arbeiter hatten drei Tage, von Donnerstag bis Samstag, gestreikt. Am Freitag nahmen sie an einer Gewerkschaftsdemonstration in der rund 40 Kilometer entfernten Landeshauptstadt Düsseldorf teil. Derzeit befindet sich Verdi in einer Tarifauseinandersetzung im Einzelhandel.

Diana arbeitet seit 2013 bei Amazon, derzeit in der Warenannahme (Receive). Sie steht acht Stunden am Tag auf den Beinen, was schon hart sei. „Aber die Picker sind natürlich schlimmer dran“, sagt sie.

Picker ist Senol aus Duisburg. Er ist seit vier Jahren fest bei Amazon eingestellt (alle Namen von Arbeitern sind der Redaktion bekannt, wurden aber auf deren Wunsch geändert). Zuvor war er dreimal mit Zeitverträgen dort beschäftigt. Als Picker, also Kommissionierer, sammelt er die einzelnen Waren und stellt sie zu Paketen zusammen. Dass die Amazon-Picker jeden Tag 20 bis 25 oder noch mehr Kilometer laufen ist inzwischen bekannt. Senol kommissioniert am Tag 1300 bis 1400 Artikel.

„Stress gibt es bei Eilpaketen“, sagt er, die er den ganzen Tag immer wieder auf Listen hereinbekommt. Das sind Artikel, bei denen Amazon verspricht, sie noch am selben Tag auszuliefern. Senol bekommt dann eine Liste mit „Cut-off“-Artikeln und genauer Uhrzeit, bis zu der diese für die Packer zusammengestellt werden müssen. „Dann muss es schnell gehen, damit der Kunde seine Ware pünktlich bekommt.“

Das schaffe er nicht immer. „Wenn du jeweils einzelne Artikel zusammenstellen musst, die an allen Ecken des Lagers stehen, kommt das schon mal vor.“ Schließlich hat das 11.000 m² große Lager vier Ebenen, die alle nur mit Treppen verbunden sind. Die Aufzüge sind den Paletten vorbehalten, die dürfen die Picker nicht benutzen. Wird er nicht rechtzeitig fertig, kommt ein Vorgesetzter (die hier alle Manager heißen) und ermahnt ihn. „Aber was sollen wir machen, mehr als arbeiten können wir nicht“, sagt Senol.

Ermahnungsgespräche habe er auch, wenn er einmal eine kurze Verschnaufpause einlege. „Man wird ständig überwacht und beobachtet“, klagt er. „Über den Scanner am Handgelenk verfolgen sie per GPS jeden Schritt von dir.“ Das sei das Schlimmste. „Und sie wollen immer mehr. Ich erreiche gewöhnlich 200 Prozent des als Minimum verlangten Arbeitspensums, also das Doppelte. Als ich einmal 185 Prozent hatte, rief mich der Manager zu sich und fragte, was mit mir los sei. Meine Leistung ließe nach. Hallo? Ich bin bei 185 Prozent! Aber so ist das hier.“

Sein Kollege Thomas berichtet von noch haarsträubenderen Arbeitsbedingungen. Thomas ist ein kräftiger, bulliger Arbeiter. Er ist bei Amazon „Cart-Runner“. Das heißt, er stellt die Körbe (genannt „Tools“) für die Picker an dafür vorgesehenen „Bahnhöfen“ bereit. Dazu ist er mit einem Doppelhubwagen unterwegs, auf dem er zwei Paletten mit jeweils 48 Körben durch das Lager fährt und sie für die Picker abstellt.

Thomas hat zwar einen Gabelstaplerschein, aber einen Elektro-Hubwagen darf er nicht nutzen. „Das ist von Amazon nicht gewollt.“ So zieht er acht Stunden am Tag mit Muskelkraft den Handhubwagen mit zwei Paletten und 96 Körben. „Wir haben das mal gewogen“, sagt er. „Das alles zusammen wiegt 360 Kilogramm.“ Die Bilder von Sklaven, die die Steine für den Pyramidenbau im alten Ägypten schleppen, entstehen unweigerlich im Kopf.

Da er zwischendurch immer wieder zusätzliche andere Arbeiten übernehmen muss, hat er keine Auszeit. „Bei Schichtende trage ich mein drittes T-Shirt, das dann auch wie die zwei zuvor nassgeschwitzt ist.“

Um zu verdeutlichen, wie er die Belastung seines Jobs einschätzt, sagt er: „Wenn ich mal als Picker aushelfe, gehe ich anschließend noch zwei Stunden Fußball spielen. Als Cart-Runner ist daran nicht zu denken. Letztens bin ich nachmittags von der Schicht gekommen, todmüde ins Bett gefallen und habe bis zum anderen Morgen durchgeschlafen.“

Wie Diana und Senol regen auch Thomas die ständige Überwachung und die ausgefeilten Bonussysteme auf. „Die ständige Überwachung ist brutal.“

Der sogenannte PAP-Bonus werde durch die Anzahl der gepackten Pakete und die Qualität der Arbeit ermittelt, erzählt uns Diana. „Vom Computer per Zufall bestimmte Fächer werden überprüft. Je weniger Fehler dort festgestellt werden, also z. B. falsche Artikel dort eingelagert sind, desto höher der Bonus.“

Aber Fehler seien unvermeidlich bei der Arbeitsbelastung, fügt Thomas an. „Insbesondere im Sommer, wenn die Temperatur in der obersten vierten Ebene schon mal auf über 40° Celsius steigt, lässt die Konzentration nach.“

In Rheinberg haben sie Weihnachten auch den „Health Bonus“ eingeführt. Dieser an der Krankenstandsquote einer gesamten Abteilung orientierte Bonus trägt dazu bei, dass Arbeiter für Krankheitstage ihrer Kollegen mit in Haft genommen werden. „Der Bonus sinkt ohnehin individuell, wenn du selbst krank wirst“, sagt Diana. „Nun sinkt er aber auch, wenn ein Kollege krank wird.“

Worauf sich Amazon bei dieser Ausbeutung stützen kann, das zeigt exemplarisch die Vita von Senol. Er ist gelernter Maschinenschlosser und war bis 2008 bei den Mannesmann-Werken in Mülheim als Kranfahrer tätig.

„Das war gutes Geld, was ich dort verdient habe“, berichtet er. „Doch 2008 mit der Wirtschaftskrise bin ich wie 1500 andere Kollegen auch entlassen worden.“ Seitdem hat er im Ruhrgebiet, wo die Arbeitslosenquoten zweistellig sind, keinen vernünftigen Job mehr bekommen. „Und das obwohl ich drei Ausbildungen habe, zusätzlich bin ich Rohrleitungsleger und Einzelhandelskaufmann.“

Aber seine 400 Bewerbungen waren alle erfolglos, so dass er immer wieder bei Amazon angeheuert hat. „Ich bin froh, dass ich überhaupt einen Job habe“, sagt er. Er hat eine Frau und zwei kleine Kinder im Alter von drei und sechs Jahren.

Senol verdient nun wie alle Amazon-Arbeiter je nach Bonus um die 1600 Euro netto im Monat. „Das Geld geht eigentlich für meine Festkosten drauf“, berichtet er. „Ohne Wohn- und Kindergeld, hätten wir nichts. Ich bleibe auch schon mal zuhause, wenn meine Familie in den Urlaub zu Verwandten in die Türkei fliegt“, berichtet er. „Ich kann mir das einfach nicht leisten, auch noch mitzukommen.“

Er unterstützt daher die Forderung nach einem besseren Tarifvertrag. Aber ob Verdi dies gelingt, bezweifelt er. „Die haben ja selbst noch nicht einmal einen Tarifvertrag.“ Auch die vereinzelten Streiks seien nicht der richtige Weg. „Wenn wir hier streiken, müssen die Kollegen in anderen Zentren wie Bad Hersfeld für uns mitarbeiten.“ Wenn in Bad Hersfeld gestreikt werde, müssten sie mehr arbeiten.

Alisa Cusic

Die Sprecherin der Verdi-Vertrauensleute Alisa Cusic hält eine internationale Zusammenarbeit für notwendig. „Auf jeden Fall. Wenn wir hier in Deutschland streiken, verschieben sie die Arbeit nach Polen.“ Die Amazon-Arbeiter hätten sich mit einem der größten Weltkonzerne angelegt. „Da brauchen wir einen langen Atem. Heute genau vor drei Jahren hatten wir hier in Rheinberg den ersten Streik. So wie es aussieht, wird der aktuelle auch nicht der letzte sein.“

Aber an einer internationalen Zusammenarbeit hat die Verdi-Führung kein Interesse. Während die Amazon-Arbeiter in Rheinberg streikten, traf sich Verdi-Chef Frank Bsirske vom 1. bis 4. Juni auf der Bilderberg-Konferenz in Chantilly in den USA mit der Elite aus Unternehmen, Politik und Finanzwelt. Bsirske wolle die Gelegenheit nutzen, mit den 140 Teilnehmern „Gedanken auszutauschen“. Die Themen der Konferenz seien „von großer Bedeutung für die Interessensvertretungspolitik der zweitgrößten Gewerkschaft der Welt“, sagte Verdi-Sprecherin Daniela Milutin der Tageszeitung (taz).

Um die internationale Kooperation der Amazon-Arbeiter voranzutreiben, hat die Sozialistische Gleichheitspartei den Newsletter International Amazon Workers Voice ins Leben gerufen. Er wird eine Oppositionsplattform für die weltweit 300.000 Amazon-Arbeiter sein, über deren Arbeitsbedingungen berichten und ihre Kämpfe vereinen. Wir rufen alle Amazon-Arbeiter auf, den Newsletter hier zu abonnieren, unsere Seite auf Facebook mit „Gefällt mir“ zu markieren und ihn mit Kollegen zu teilen.

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