Vortrag zum einhundertsten Jahrestag der Russischen Revolution

Spontaneität und Bewusstsein in der Februarrevolution

Wir veröffentlichen an dieser Stelle den Online-Vortrag von Joseph Kishore, dem nationalen Sekretär der Socialist Equality Party (US), vom 22. April 2017. Es ist der vierte von fünf Vorträgen, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale aus Anlass des einhundertsten Jahrestags der Russischen Revolution von 1917 präsentiert.

Die historische Ausgangslage: Die kombinierte und ungleichmäßige Entwicklung Russlands und die Theorie der permanenten Revolution

Die Ereignisse vom Februar 1917 in Russland waren der Auftakt zu revolutionären Erschütterungen, die den Lauf der Geschichte ändern sollten. Am 22. Februar, dem Vorabend der Revolution, war Nikolaus II noch Zar und Herrscher über ganz Russland. Eine Woche später war die scheinbar unbesiegbare Romanow-Dynastie, die mehr als 300 Jahre lang geherrscht hatte, gestürzt worden. An ihre Stelle war eine instabile „Doppelmacht“ getreten: auf der einen Seite die bürgerliche Provisorische Regierung, auf der anderen der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten. In diesem Rahmen entfalteten sich die politischen Kämpfe der nächsten acht Monate, die schließlich in der Machteroberung der Arbeiterklasse unter der Führung der Bolschewistischen Partei gipfelten.

Zu Beginn unserer Betrachtung der Revolution von 1917 müssen wir noch einmal rekapitulieren, wie die „russische Frage“ von der revolutionären Bewegung verstanden und analysiert wurde. Denn nur vor diesem Hintergrund kann man die politischen und gesellschaftlichen Konflikte jener bewegten Monate richtig einschätzen.

Grundsätzlich geht der Marxismus davon aus, dass eine soziale Revolution – die Ablösung einer herrschenden Klasse durch eine andere – dann eintritt, wenn sich die Produktivkräfte im Rahmen der bestehenden Produktionsverhältnisse nicht mehr weiterentwickeln können. Der wissenschaftliche Sozialismus beruht nicht auf frei erfundenen Utopien, sondern auf den objektiven Widersprüchen des Kapitalismus und den damit verbundenen gesellschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse. Wenn man die heutige Weltlage betrachtet, ist offenkundig, dass das kapitalistische Nationalstaatensystem zu einem enormen Hindernis für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte und die Zukunft der Menschheit selbst geworden ist.

Doch als der Marxismus in Russland Einzug hielt, waren die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine sozialistische Bewegung – insbesondere das Vorherrschen kapitalistischer Eigentumsverhältnisse und eine große Arbeiterklasse – dort erst in Ansätzen vorhanden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte die Bauernschaft, die zumeist in Unwissenheit und Armut lebte und bis aufs Blut geschunden wurde, noch 85 Prozent der Bevölkerung aus. Trotz der formalen Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 befand sich das Land vorwiegend im Besitz von Großgrundbesitzern. Die alten Feudalbeziehungen, die in Westeuropa in den großen bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts abgeschafft worden waren, bestanden fort. Die politische Macht lag in den Händen des zaristischen Adels, und es gab keine echten demokratischen und parlamentarischen Herrschaftsformen wie in Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Die unmittelbaren Aufgaben der revolutionären Bewegung in Russland waren also bürgerlich-demokratischer Art.

Georgi Plechanow

Als Erster erkannte Georgi Plechanow, der „Vater des russischen Marxismus“, dass die Arbeiterklasse Russlands trotz ihrer im Vergleich zur Bauernschaft geringen Größe die entscheidende revolutionäre Kraft in der demokratischen Revolution sein werde. „Die russische Revolution wird nur als Arbeiterrevolution siegen, einen anderen Ausweg gibt es nicht und kann es nicht geben“, erklärte er auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationale 1889. Er ging von einer Revolution in zwei Stufen aus, bei der die Arbeiterklasse in der demokratischen Revolution zwar die führende Rolle spielen, die Macht aber notwendigerweise in die Hände der Bourgeoisie legen würde, um eine mehr oder weniger ausgedehnte Periode kapitalistischer Entwicklung zu ermöglichen, in der die Arbeiterklasse erstarken werde, bis sie selbst die Macht übernehmen könne.

In ihrem bedeutenden Essay zu Plechanow, der vergangenes Jahr erschien, stellen die Genossen North und Wolkow fest: „Plechanows herausragende Bedeutung als politischer Denker besteht darin, dass er die entscheidende Rolle der Arbeiterklasse vorhersah, als sich der Kapitalismus in Russland erst im Anfangsstadium befand, und lange bevor sie als massenhafte gesellschaftliche Gruppe auftrat, die im ökonomischen und politischen Leben einen spezifischen Platz einnahm.“ [1] Diese grundlegende und weitsichtige Konzeption bildete den Ausgangspunkt für die Entwicklung der marxistischen Bewegung in Russland.

Spontaneität und Bewusstsein in der Februarrevolution

Doch mit der weiteren Entfaltung des russischen Kapitalismus stellten sich programmatische Fragen, die die Schwächen und Implikationen der Zweistufenkonzeption Plechanows sichtbar werden ließen. Wie im Vortrag von Genossen Fred Williams aufgezeigt wurde, bewies die Revolution von 1905 nicht nur die gewaltige gesellschaftliche Stärke der Arbeiterklasse, sondern auch die konterrevolutionäre Rolle der Bourgeoisie. Gestützt auf die Konzeption Plechanows, der mittlerweile der menschewistischen Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) angehörte, schrieb Lenin damals, der bürgerliche Charakter der Revolution bedeute, dass die demokratischen Umgestaltungen „keine Untergrabung des Kapitalismus“ bedeuten, sondern „dass sie umgekehrt zum erstenmal gründlich den Boden für eine breite und rasche, europäische und nicht asiatische Entwicklung des Kapitalismus säubern, dass sie zum ersten Mal die Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse ermöglichen werden“. [2]

Aber wie würde es möglich sein, die Macht an eine Klasse zu übertragen, die sie gar nicht wollte und die vor allem die Klasse fürchtete, von der die Haupttriebkraft der Revolution ausging – die Arbeiterklasse? Für die Arbeiterklasse ergab sich aus dieser Perspektive, dass sie ihre eigenen Interessen zurückstellen musste, um die Bourgeoisie nicht zu verschrecken und in die Arme der Reaktion zu treiben. Wie wir sehen werden, war genau dies das Programm, das die Menschewiki und die Partei der Sozialrevolutionäre nach der Februarrevolution vorbrachten.

Lenin, der Führer der Bolschewiki, vertrat eine ganz andere Perspektive: Russland stand eine bürgerlich-demokratische Revolution bevor, doch die grundlegenden Aufgaben dieser Revolution konnten nicht von der Bourgeoisie oder im Bündnis mit ihr gelöst werden. Die wichtigste dieser Aufgaben war die Abschaffung der Feudalbeziehungen auf dem Lande. Doch dazu war die Bourgeoisie Russlands weder willens noch fähig. Auf Plechanows Äußerung von 1905, dass man die nicht-proletarischen Parteien nicht durch „taktlose Ausfälle“ abstoßen dürfe, antwortete Lenin, „dass die Grundeigentümer, die Liberale sind, Ihnen Millionen von Handlungen verzeihen werden, die des Taktes ermangeln, aber dass sie Ihnen den Aufruf zur Beschlagnahme des Bodens nicht verzeihen werden“. [3]

Lenins Programm sah im Gegensatz zu jenem Plechanows den Sturz der zaristischen Selbstherrschaft durch eine „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ vor, wobei der Begriff „Diktatur“ hier im marxistischen Sinne der Staatsmacht gebraucht wird. Die Arbeiterklasse werde im Bündnis mit der Bauernschaft die Macht erobern und weitreichende demokratische Reformen durchführen. Diese Revolution könne und werde jedoch nicht über den Rahmen kapitalistischer Eigentumsverhältnisse hinausgehen. Die Sozialdemokratie, schrieb Lenin 1905, habe „stets den bürgerlichen Charakter der Russland bevorstehenden Revolution“ betont und gerade deshalb „die strenge Trennung des demokratischen Minimalprogramms vom sozialistischen Maximalprogramm“ gefordert. „Objektiv“, fuhr er fort, „hat jetzt der historische Gang der Dinge das russische Proletariat gerade vor die Aufgabe des demokratischen bürgerlichen Umsturzes gestellt …; vor derselben Aufgabe steht das ganze Volk, d. h. die ganze Masse des Kleinbürgertums und der Bauernschaft; ohne diesen Umsturz ist eine halbwegs großzügige Entwicklung einer selbständigen Klassenorganisation für den sozialistischen Umsturz undenkbar.“ [4]

Trotzki wies mit seiner Theorie der permanenten Revolution sowohl die Zweistufentheorie Plechanows als auch die von Lenin vorgeschlagene „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ zurück.

Trotzki erkannte an, dass die grundlegenden Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution noch nicht gelöst waren. Die relative Rückständigkeit der russischen Wirtschaft und Gesellschaft war ein Ergebnis der „Ungleichmäßigkeit“ der kapitalistischen Entwicklung. Doch über die Verflechtung der russischen Wirtschaft mit der Weltwirtschaft waren weit fortgeschrittene Klassengegensätze in diese Rückständigkeit eingedrungen. Es kam nicht zu einem organischen Wachstum des Kapitalismus mit einer breiten Schicht von Kleinhändlern und Handwerkern, sondern das Kapital drang, wie es Trotzki 1906 beschrieb, „mit der direkten Unterstützung des Absolutismus von Westen her ein und verwandelte in kurzer Zeit eine Reihe alter archaischer Städte in Zentren von Industrie und Handel, ja es schuf solche Handels- und Industriestädte an Stellen, die vorher gänzlich unbewohnt waren“. [5]

Später erklärte Trotzki, dass man dieses Phänomen das „Gesetz der kombinierten Entwicklung nennen kann, im Sinne der Annäherung verschiedener Wegetappen, Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitiger Formen“. [6]

Leo Trotzki

Diese „kombinierte und ungleiche“ Entwicklung Russlands prägte die soziale Physiognomie und politische Orientierung der Gesellschaftsklassen. Das Tempo und die Konzentration der Industrialisierung verliehen dem Klassenkampf einen ausgesprochen explosiven Charakter.

Die Bourgeoisie war stark abhängig von ausländischem Kapital und damit vom europäischen Imperialismus. Aufgrund der Schärfe der Klassengegensätze lebte die russische liberale Bourgeoisie in ständiger Angst, dass eine revolutionäre Bewegung gegen den Zaren zum Ausgangspunkt für eine Bewegung der Arbeiterklasse gegen das Privateigentum werden könnte. Daher floh sie bei jeder Gelegenheit in die Arme des Zaren und suchte ein Bündnis mit der landbesitzenden Aristokratie.

Dieses Phänomen war bereits während der Revolution von 1848 in Europa zu beobachten gewesen, wenn auch in etwas anderer Form. Auch die revolutionären Bewegungen in Ungarn, Deutschland und Österreich Mitte des 19. Jahrhunderts waren von intensiven Kämpfen der Arbeiterklasse geprägt, sodass sich die Bourgeoisie aus Angst vor dieser Revolution mit der Reaktion verbündete. Ferdinand Lassalle schrieb 1849 an Karl Marx, „dass kein Kampf mehr in Europa glücken kann, der nicht von vornherein ein prononziert rein sozialistischer ist; dass kein Kampf mehr glücken wird, der die sozialen Fragen bloß als dunkles Element, als an sich seienden Hintergrund in sich trägt und äußerlich in der Form einer nationalen Erhebung oder des Bourgeoisrepublikanismus auftritt“. [7] In der Ansprache der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten verwendeten Marx und Engels zum ersten Mal den Ausdruck „Revolution in Permanenz“, um die Arbeiterklasse vor den „heuchlerischen Phrasen der demokratischen Kleinbürger“ zu warnen, die Phrasen von „Einigung und Versöhnung“ predigen, … hinter welchen ihre besonderen Interessen sich verstecken und in der die bestimmten Forderungen des Proletariats um des lieben Friedens willen nicht vorgebracht werden dürfen“. [8]

In Russland hatte der Klassenkonflikt ein halbes Jahrhundert später ein weitaus höheres Niveau erreicht, und der revolutionäre Schwung der Bourgeoisie war weitaus geringer als 1848 in Europa, ganz zu schweigen von der großen französischen Revolution 1789. Der Sturz des Zaren und die Lösung der „demokratischen Aufgaben“ fielen der russischen Arbeiterklasse zu, die, wie Trotzki betonte, in der Revolution die Führungsrolle spielen und die Bauernmassen anführen musste.

Im Gegensatz zu Lenin vertrat Trotzki die Auffassung, dass sich die Arbeiterklasse nach der Eroberung der politischen Macht nicht auf rein „bürgerliche“ Aufgaben beschränken könne, sondern gezwungen sein werde, in die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse einzugreifen und erste Schritte in Richtung Sozialismus zu machen. Welches Programm würde die Arbeiterklasse nach der Eroberung der Staatsmacht durchführen? Selbst wenn sie im Bündnis mit der Bauernschaft einen neuen Staat errichten würde, wie würde sie mit Arbeitslosigkeit und Lebensmittelmangel, wie mit Streiks der Arbeiter oder Aussperrungen der Unternehmer umgehen? Im Jahr 1909 warf Trotzki Lenin vor, er gehe davon aus, dass der Widerspruch zwischen den Klasseninteressen des Proletariats und den objektiven Bedingungen [d. h. der Rückständigkeit Russlands] gelöst werde, indem sich das Proletariat politische Schranken auferlege und sich als Klasse in „Selbstbeschränkung“ übe.

Wenn die Menschewiki, von der Abstraktion ausgehend: „unsere Revolution ist bürgerlich“, zu dem Gedanken der Anpassung der ganzen Taktik des Proletariats an die Führung der liberalen Bourgeoisie kommen, bis diese die Staatsmacht erobert hat; so kommen die Bolschewiki von derselben nackten Abstraktion ausgehend: „demokratische und nicht-sozialistische Diktatur“, zu dem Gedanken der bürgerlich-demokratischen Selbstbeschränkung des Proletariats, in dessen Händen sich die Staatsmacht befindet. Der Unterschied zwischen ihnen in dieser Frage ist allerdings sehr bedeutend: Während sich die anti-revolutionären Seiten des Menschewismus mit aller Kraft schon jetzt zeigen, droht den anti-revolutionären Zügen des Bolschewismus eine große Gefahr erst im Falle eines revolutionären Sieges.“ [9]

Die Revolution in Russland konnte nur unter der Führung der Arbeiterklasse stattfinden, und die Arbeiterklasse würde nach der Machteroberung gezwungen sein, sozialistische Maßnahmen zu ergreifen. Dies ist eine Seite der „Permanenz“ der Revolution.

Doch wie sollte dies in einem rückständigen Land wie Russland möglich sein? Wie konnten die fortgeschrittensten gesellschaftlichen Beziehungen in einem derart unterentwickelten Land eingeführt werden, dessen Bevölkerung vorwiegend aus Bauern bestand? Der Schlüssel zur Lösung dieses Dilemmas lag darin, Russland und die russische Revolution nicht als isoliertes nationales Ereignis, sondern als Bestandteil der internationalen Revolution zu begreifen.

Während der Revolution von 1905 hatte Trotzki geschrieben:

Indem der Kapitalismus allen Ländern seine Wirtschafts- und Verkehrsweise aufdrängt, hat er die ganze Welt in einen einzigen ökonomischen und politischen Organismus verwandelt. … Das verleiht den sich entwickelnden Ereignissen von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet eine große Perspektive: die politische Emanzipation, geleitet von der Arbeiterklasse Russlands, hebt diese ihre Führerin auf eine in der Geschichte bisher unbekannte Höhe, legt kolossale Kräfte und Mittel in ihre Hand, lässt sie die weltweite Vernichtung des Kapitalismus beginnen, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat. [10]

In den zwölf Jahren von 1905 bis zum Ausbruch der Februarrevolution hatte sich Trotzkis Analyse bestätigt. Auf den Schlachtfeldern Europas verschmolz das Schicksal der Arbeiter aller Länder in eins. Der große Krieg, der kolossale Zusammenbruch des Nationalstaatensystems, bedeutete auch das Ende aller nationalen Programme. Damit stand die sozialistische Reorganisation der Weltwirtschaft auf der Tagesordnung. Dies war eine weitere Seite der „Permanenz“ der Revolution. Während der weltweiten Massenschlächterei erklärte Trotzki:

Eine nationale bürgerliche Revolution in Russland ist unmöglich, weil es dort keine wirklich revolutionäre bürgerliche Demokratie gibt. Die Zeit der nationalen Revolutionen ist – zumindest in Europa – vorbei, ebenso wie die Zeit nationaler Kriege hinter uns liegt. Zwischen dem einen und dem anderen besteht ein tiefer innerer Zusammenhang. Wir leben in der Epoche des Imperialismus, der nicht nur durch ein System kolonialer Eroberungen, sondern auch durch ein bestimmtes inneres Regime gekennzeichnet ist. Er stellt nicht die bürgerliche Nation der alten Ordnung gegenüber, sondern das Proletariat der bürgerlichen Nation. [11]

Diese Perspektive bildete die wesentliche Grundlage für die Strategie der Bolschewiki in den Monaten April bis Oktober 1917. Dem ging allerdings eine interne Auseinandersetzung voraus, die von Lenin geführt wurde. Darauf komme ich noch zurück.

Fünf Tage

Nach dieser etwas ausführlicheren Einleitung kommen wir zu den Ereignissen vom Februar 1917 und zur russischen Revolution insgesamt. Die Entwicklung Russlands in diesem Jahr und auch die spätere nationalistische und stalinistische Degeneration der Sowjetunion bestätigten in verschiedenen Formen die Richtigkeit von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution.

Ungeachtet der zusätzlichen Informationen, die in den vergangenen 80 Jahren von Historikern zusammengetragen wurden, und obwohl eine Reihe guter Bücher zur Februarrevolution erschienen sind, ist die Darstellung in Trotzkis Geschichte der russischen Revolution nach wie vor unübertroffen. Wenn dieser Vortrag dazu führen würde, dass sie weitere Leser findet, dann wäre allein dies schon ein Erfolg.

Das Auffallendste an der Februarrevolution ist, dass sie, wie bereits die Revolution von 1905, in erster Linie von der Arbeiterklasse, insbesondere der Arbeiterklasse von Petrograd getragen wurde.

Bereits vor dem 23. Februar 1917 hatte sich der Klassenkampf aufgrund des Kriegs und der verzweifelten wirtschaftlichen Lage zugespitzt. War die Zahl der an Streiks beteiligten Arbeiter von 1,3 Millionen im Januar-Juli 1914, also unmittelbar vor Kriegsausbruch, in den Monaten August-Dezember 1914 auf weniger als 10.000 gesunken, so stieg sie 1915 auf 500.000 und erreichte 1916 nahezu 1 Million. In den Wochen vor der Februarrevolution schnellte die Zahl der Streiks nach oben. An einer Arbeitsniederlegung zum Gedenken an das Massaker vom Blutsonntag 1905 beteiligten sich 186.000 Arbeiter, und am 22. Februar wurden 25.000 Arbeiter der Putilow-Werke, der größten Fabrik Petrograds ausgesperrt. Die Arbeitskämpfe nahmen einen zunehmend politischen Charakter an. Gefordert wurde das Ende der Monarchie und des Kriegs.

Versammlung in den Putilow-Werken während der Februarrevolution

Die eigentliche Revolution begann mit Protesten und Arbeitsniederlegungen von Arbeitern im Petrograder Stadtbezirk Wyborg, einer Hochburg der Bolschewiki.

Am Morgen des 23. Februar, dem internationalen Frauentag (8. März nach dem westlichen Kalender) legten die Textilarbeiterinnen in Wyborg die Arbeit nieder. Sie hatten genug von überlangen Arbeitstagen, dem fortdauernden Krieg, dem Mangel an Lebensmitteln und dem Anstehen um Brot. Sie forderten die Belegschaften der benachbarten Fabriken, darunter große Metallverarbeitungsbetriebe, dazu auf, sich ihnen anzuschließen. [12]

Ein Arbeiter der Wyborger Metallwarenfabrik Lessner, die damals zu den größten Fabriken Petrograds zählte, beschreibt, was dann geschah: „Überall in der Straße, auf die die Fenster unserer Abteilung hinausgingen, hörten wir die Stimmen der Frauen: ,Nieder mit dem Krieg! Nieder mit den hohen Preisen! Nieder mit dem Hunger! Brot für die Arbeiter!‘ ... Trauben militanter Arbeiterinnen füllten die Straße. Wenn sie uns sahen, schwenkten sie die Arme und riefen: ‚Kommt heraus! Legt die Arbeit nieder!‘ Schneebälle flogen an die Fensterscheiben. Wir beschlossen, uns der Demonstration anzuschließen.“ [13]

Obwohl die zentrale Führung der Bolschewistischen Partei zu jener Zeit nicht zu Streiks aufrief, beschloss das Wyborger Komitee der Bolschewiki, den Streik zu unterstützen. Ähnliche Entscheidungen fielen in anderen Fabriken, an denen neben Bolschewiki auch Arbeiter beteiligt waren, die sich den Menschewiki und den Sozialrevolutionären verbunden fühlten. Am Abend befanden sich mehr als 100.000 Arbeiter, etwa ein Drittel der Industriearbeiterschaft, im Ausstand.

Am nächsten Tag, dem 24. Februar – einem Freitag – weitete sich der Streik auf 200.000 und damit die Hälfte aller Industriearbeiter und über Wyborg hinaus aus. Die riesigen Fabriken, die Zentren der Industrieproduktion (einschließlich der Kriegsproduktion) wurden zu Zentren der revolutionären Aktivität und Agitation. Es gab erste Zusammenstöße mit der Polizei. Das Militär hatte jedoch noch nicht den Befehl erhalten, auf die Protestierenden zu schießen, und es kam zu ersten Verbrüderungen zwischen Arbeitern und Soldaten.

Am dritten Tag – Samstag, dem 25. Februar – wuchs sich der Streik praktisch zu einem Generalstreik aus. Nahezu 250.000 Arbeiter beteiligten sich daran. Die Polizei prügelte Streikende und Demonstrierende nieder. Die Soldaten der Stadt und die Polizei waren uneins. Es kam zu einem Zwischenfall, bei dem sich der Armee angehörende Kosaken nicht nur weigerten, der Polizei beim Auseinandertreiben einer Demonstration zu helfen, sondern sie sogar angriffen und ihren Befehlshaber töteten.

Zar Nikolaus II befahl General Chabalow, dem Stadtkommandanten von Petrograd, härtere Maßnahmen zu ergreifen, um den Aufstand niederzuschlagen, da er die Kriegsführung gefährde. „Ich befehle Ihnen, sämtliche Unruhen in der Hauptstadt bis morgen zu beenden. Sie können in diesen schwierigen Zeiten des Kriegs mit Deutschland und Österreich nicht geduldet werden.“ Daraufhin verbot Chabalow alle Versammlungen auf den Straßen. Am Abend kam es zu Verhaftungen. Da fünf Mitglieder des Petrograder Komitees der Bolschewiki festgenommen wurden, fiel die unmittelbare Führung der Bolschewiki dem Wyborger Komitee zu.

Da der vierte Tag, der 26. Februar, ein Sonntag war, blieben die Fabriken geschlossen. Doch die Demonstration hielten an, und Chabalow befolgte den Befehl des Zaren durch die Anwendung blutiger Gewalt. Er holte zuverlässigere Truppen heran, die z. T. aus den Regimentsschulen für Unteroffiziere stammten, und befahl ihnen, auf die Menge zu schießen. Hunderte starben, Tausende wurden verwundet.

Am Abend des 26. Februar kam es zu einem einschneidenden Ereignis, das die Entwicklungen des nächsten Tages vorwegnahm. Aus Wut darüber, dass ihr eigenes Lehrkommando auf Arbeiter geschossen hatte, meuterte das Pawlowski-Regiment der Reichsgarde.

Am Morgen des 27. Februar begann der Aufstand der Soldaten mit einer Meuterei des Wolynski-Regiments. Die Soldaten erschossen ihren Kommandeur, der ihnen am Vortag befohlen hatte, auf Arbeiter zu schießen. Die Meuterer suchten benachbarte Regimenter auf und riefen sie zum Aufstand. Eine Kaserne nach der anderen schloss sich an. Die Oberbefehlshaber des Zaren konnten keine loyalen Truppen mehr finden. Der Aufstand der Arbeiter breitete sich aus. Regierungsgebäude wurden besetzt und politische Gefangene befreit.

Wer hat die Februarrevolution geführt? Es gab keine zentralisierte Partei an der Spitze. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre hatten eine Revolution der Arbeiterklasse weder vorhergesehen noch gewollt. Während der Februarereignisse flehten führende Mitglieder dieser Organisationen in der Duma die bürgerlichen Parteien an, etwas zu unternehmen, damit die Lage nicht außer Kontrolle gerate.

Die Gruppe der Meschrajonzi (Interdistrikt-Gruppe) – die Gruppe Trotzkis, der sich in New York im Exil befand – gab am zweiten Tag der Revolution eine Flugschrift heraus, in der sie eine demokratische Republik, Sozialismus, ein Ende des Kriegs und die Bildung einer provisorischen revolutionären Regierung forderte. Sie verfügte jedoch über keine Massenbasis, die mit jener der Bolschewiki, insbesondere in Wyborg, vergleichbar gewesen wäre.

Die lokalen Organisationen der Bolschewistischen Partei spielten eine bedeutende Rolle, insbesondere das Wyborger Bezirkskomitee. Die zentrale Führung der Partei hinkte den Ereignissen jedoch ständig hinterher, und auch die Führung der Stadt stand unter dem ständigen Druck ihrer Arbeiteraktivisten, kämpferischer vorzugehen, Flugblätter herauszugeben und zum Generalstreik und zum Aufstand aufzurufen. Der größte Teil der bolschewistischen Führung befand sich während der Februarereignisse im Exil. Das gilt auch für Lenin, der erst im April aus der Schweiz zurückkehrte.

Lenin

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Revolution rein „elementar“ war und damit einen fast „mystischen Charakter“ erhielt, wie Trotzki erklärte. Eine solche Auffassung komme „nicht nur jenen Herrschaften sehr gelegen, die gestern noch in aller Ruhe administriert, gerichtet, angeklagt, verteidigt, gehandelt oder kommandiert hatten, heute aber Eile zeigten, sich der Revolution anzubiedern, sondern auch vielen Berufspolitikern und gewesenen Revolutionären, die, nachdem sie die Revolution verschlafen hatten, nun glauben wollten, sie unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht von allen anderen“. [14]

Es gab Arbeiter, die die Revolution führten. Es waren die Arbeiter, die in den Jahren der sozialistischen Propaganda ausgebildet worden waren und die bitteren Erfahrungen von 1905 durchlebt hatten. Sie waren durch die Streikwelle von 1912-1914 gegangen, die vor Ausbruch des Kriegs eine Revolution ankündigte. Sie waren Zeuge der Rückgratlosigkeit der Liberalen gewesen. Einige waren bei Kriegsausbruch von der Welle des Nationalismus mitgerissen worden oder davor zurückgewichen, hatten dann jedoch erlebt, was der Krieg bedeutete.

Viele dieser Arbeiter waren stark von der Bolschewistischen Partei geprägt, deren Einfluss vor Kriegsausbruch zugenommen hatte. Die Führung der Revolution hatten, wie Trotzki schrieb, „die aufgeklärten und gestählten Arbeiter, die hauptsächlich von der Partei Lenins erzogen worden waren“. Und „diese Leitung genügte, um dem Aufstande den Sieg zu sichern, doch reichte sie nicht aus, um die Führung der Revolution von Anfang an in die Hände der proletarischen Avantgarde zu legen“. [15]

Doppelherrschaft

Die Arbeiterklasse und die Soldaten von Petrograd hatten die Revolution vollbracht, aber sie waren nicht in der Lage die politische Macht zu übernehmen. Stattdessen entstand eine komplexe und instabile „Doppelherrschaft“, die bis zur Oktoberrevolution fortdauern sollte.

Am 27. Februar, der Zar war noch an der Macht, traten die Duma-Abgeordneten zusammen, um zu beraten, wie die Lage unter Kontrolle gebracht und die Revolution eingedämmt werden könnte. Sie bildeten einen provisorischen Ausschuss der Duma-Abgeordneten, der eine Erklärung herausgab, wonach er sich gezwungen sehe, „die Wiederherstellung des Staats und der öffentlichen Ordnung in die eigenen Hände zu nehmen“.

Im Gegensatz zur späteren Mythenbildung spielte die liberale Bourgeoisie, die von den wichtigsten Duma-Parteien vertreten wurde, keine revolutionäre Rolle. Sie hatte panische Angst vor den Massen und suchte nach einer Möglichkeit, die autokratische Herrschaft zu erhalten, sei es mit oder ohne Nikolaus II. Paul Miljukow, der Führer der Konstitutionellen Demokraten (Kadetten), räumte später ein: „Wir wollten diese Revolution nicht. Wir wollten insbesondere nicht, dass sie während des Kriegs ausbrechen würde. Wir versuchten mit allen Mitteln, dies zu verhindern.“ [16]

Als es ihnen jedoch nicht gelang, den Zaren zur Bildung einer neuen Regierung zu bewegen, und als sich abzeichnete, dass die Massen dies auch nicht hinnehmen würden, baten die Vertreter der Bourgeoisie das militärische Oberkommando, die Abdankung des Zaren zu erzwingen. Bereits vor der Revolution hatte es zwischen den Führern der Armee und der bürgerlichen Parteien Gespräche über die Bildung einer neuen Regierung gegeben. Selbst die Absetzung von Nikolaus II war erwogen worden, um bessere Voraussetzungen für die Kriegsführung zu schaffen. Auch die alliierten imperialistischen Mächte hatten Unterstützung für ein solches Vorgehen signalisiert.

Als der Zar die Unterstützung der Armee verloren hatte, dankte er am 2. März 1917 zugunsten seines Bruders, des Großherzogs Michail Alexandrowitsch ab. Am selben Tag wurde die Provisorische Regierung unter der Führung des Prinzen Lwow gebildet, die, so war es geplant, unter dem neuen Zaren regieren sollte. Doch Michail verzichtete auf den Thron, da er um sein Leben fürchtete. Obwohl die bürgerlichen Führer der neuen Regierung alles versucht hatten, war die Romanow-Dynastie am Ende.

Am selben Tag und am selben Ort, an dem der Duma-Ausschuss gebildet wurde, nämlich am 27. Februar im Taurischen Palais, kam es auch zur Gründung eines anderen Organs der Staatsmacht, das von den Arbeiter- und Soldatenmassen unterstützt wurde: der Sowjet der Arbeiterdeputierten, der sich später Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten nannte. An seiner ersten Sitzung nahmen ungefähr 250 Arbeiter, Soldaten und sozialistische Intellektuelle teil. Anfangs dominierten in der Führung des Sowjets die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, eine kleinbürgerliche Partei, die sich auf die Bauernschaft stützte.

Das Phänomen der „Doppelherrschaft“ war nicht nur in der russischen Revolution zu beobachten. Auch in früheren Revolutionen hatten während des Übergangs der Macht an eine andere Klasse zwei Organe der Staatsmacht nebeneinander bestanden. Eine solche Situation kann nur durch einen Bürgerkrieg aufgelöst werden. Die Besonderheit der Doppelherrschaft, die sich nach der Februarrevolution herausbildete, bestand allerdings darin, dass die Führer des Sowjets, die von den Arbeitern und Soldaten – der treibenden Kraft der Revolution – unterstützt wurden, gezielt und bewusst darauf hinarbeiteten, die Macht an die bürgerliche Provisorische Regierung auszuhändigen. Der grundlegende Klassenkonflikt zwischen den beiden Organen trat erst mehrere Monate später zutage, als die Bolschewiki die Führung des Sowjets eroberten.

Die Massen der Arbeiter und Soldaten, die an der Spitze der Revolution standen, orientierten sich nicht an der Duma, sondern am Sowjet. Doch die Parteien in der Führung des Sowjets wollten die Macht nicht und waren nicht bereit, Maßnahmen zu ergreifen, um die Forderungen der Arbeiter und Soldaten zu erfüllen. Deren demokratische und soziale Bestrebungen standen im Gegensatz zu den Interessen der Bourgeoisie, und doch hielten die Vertreter der Arbeiter und Soldaten im Sowjet den Herrschaftsanspruch der Bourgeoisie aufrecht.

Dieses Paradox äußerte sich in verschiedenen Formen. Als Erstes stellte sich die Frage der Staatsmacht und der Anerkennung der Provisorischen Regierung. Unmittelbar nach der Abdankung von Zar Nikolaus II trafen sich die Führer des Exekutivkomitees des Sowjets mit den Vertretern der Duma, um auszuhandeln, unter welchen Bedingungen der Sowjet die neue Regierung unterstützen würde. Zu diesen Bedingungen zählte keine einzige wesentliche Forderung der Arbeiter und Soldaten – das Ende des Kriegs, die Gründung einer Republik, Land für die Bauern und der Achtstundentag. Die Führer des Sowjets stellten nur eine Forderung: Freiheit der Agitation. Sie waren bereit und geradezu begierig darauf, der Bourgeoisie die Macht auszuhändigen, wenn diese sich nur bereit erklären würde, sie nicht zu verhaften.

Zweitens und in engem Zusammenhang mit der Frage der Staatsmacht stellte sich die Frage der Bewaffnung – bzw. Entwaffnung – der Arbeiter und der Arbeitermiliz. Während der Revolution hatten die militantesten Arbeiter, wiederum im Wyborg-Bezirk, die Initiative zur Bildung von Milizen ergriffen. Der Sowjet erkannte dies als vollendete Tatsache an und versuchte, die Milizen unter seinen Befehl zu bringen. Der Duma-Ausschuss bildete eigene Milizen. Damit entstanden die Voraussetzungen für einen bewaffneten Kampf, d. h. einen Bürgerkrieg.

Ein Historiker stellt dazu fest: „Bereits am 28. Februar bekundete das Exekutivkomitee des Sowjets seine Bereitschaft, diesen Konflikt im Einvernehmen mit dem Duma-Ausschuss beizulegen, indem es auf die Unabhängigkeit der Arbeitermilizen verzichtete.“ [17] Das Exekutivkomitee strebte einen Zusammenschluss der beiden Milizen an, d. h. es wollte die Arbeiter entwaffnen und ihre Miliz der Regierungsgewalt der Bourgeoisie unterordnen, die es in Beschlüssen vom 1. und 7. März offiziell anerkannt hatte.

Das dritte Problem war die Rückkehr der Arbeiter in die Betriebe. Das Exekutivkomitee hatte ursprünglich den 5. März für die Wiederaufnahme der Arbeit vorgesehen, ohne dass sich die Arbeitsbedingungen geändert hätten. Es lehnte die Forderung der Arbeiter nach dem Achtstundentag mit der Begründung ab, dass dies die Bourgeoisie verschrecken würde.

Die Arbeiter nahmen jedoch die Dinge selbst in die Hand und verließen in den großen Industriebetrieben in Massen nach acht Stunden den Arbeitsplatz. Der Industriellenverband fügte sich am Ende notgedrungen in den Achtstundentag, was ein bürgerlicher Publizist mit den Worten erklärte: „Zum Unglück der Menschewiki haben die Bolschewiki die Vereinigung der Fabrikanten durch Terror bereits gezwungen, sich mit der sofortigen Einführung des Achtstundentages einverstanden zu erklären.“ [18]

Viertens stellte sich die Frage nach den Verhältnissen in der Armee. Die Duma-Vertreter versuchten die Kontrolle über die Armee zurückzugewinnen. Sie wiesen die Soldaten an, ihren Offizieren zu gehorchen und die Waffen niederzulegen, was von den Sowjetführern gebilligt wurde. Die Soldaten weigerten sich jedoch und setzten den Petrograder Sowjet unter Druck, am 1. März den Befehl Nr. 1 herauszugeben. Darin wurden die Soldaten angewiesen, keine Befehle des Duma-Ausschusses zu befolgen, die im Widerspruch zu Befehlen des Sowjets standen. Außerdem hieß es darin, die Soldaten sollten sich der Waffen bemächtigen und in jedem Regiment ein Komitee wählen.

Der Befehl Nr. 1 wurde verabschiedet, als die obersten Führer der Menschewiki und Sozialrevolutionäre gerade abwesend waren. Später versuchten, sie, ihn durch den Befehl Nr. 2 auf Petrograd zu beschränken. Doch die Bemühungen um die Wiederherstellung der alten Verhältnisse in der Armee scheiterten, und die Revolution befeuerte den sich anbahnenden Bürgerkrieg zwischen den Soldaten und ihren Offizieren.

Das letzte und wichtigste Problem war der Krieg. Die Bourgeoisie entfaltete das Banner des „Kriegs bis zum siegreichen Ende“. Nachdem das Exekutivkomitee des Sowjets die Kriegsfrage zwei Wochen lang ignoriert hatte, verabschiedete es am 14. März einen Aufruf an die Völker der Welt, der neben zahlreichen pazifistischen Phrasen auch die Zusage enthielt: „Wir werden unsere Freiheit gegen alle reaktionären Angriffe von innen und außen verteidigen. Die russische Revolution wird vor den Bajonetten der Eroberer nicht zurückweichen und sich nicht von ausländischer Militärgewalt zerschlagen lassen.“

Mit anderen Worten, der Krieg würde weitergehen. Diese Entschließung wurde vom britischen Imperialismus und den bürgerlichen Parteien in Russland gefeiert.

Suchanow, Mitglied des Exekutivkomitees und Teilnehmer an der Zimmerwalder Antkriegskonferenz von 1915, bekannte später in seinen Memoiren:

Es war offenkundig, dass die Bourgeoisie nichts mit einer Bewegung gemeinsam haben konnte, die den Gedanken an den „Krieg bis zum siegreichen Ende“ unterhöhlte. Eine solche Bewegung galt ihr, zumindest in Worten, ausschließlich als Ergebnis einer deutschen Provokation … Daher war von vornherein klar, dass man nur dann auf eine bürgerliche Regierung und die Treue der Bourgeoisie zur Revolution zählen konnte, wenn man die Parolen gegen den Krieg vorübergehend zurückstellte und das Banner von Zimmerwald, das zum Banner des russischen und insbesondere des Petersburger Proletariats geworden war, eine Zeitlang einrollte. [19]

Neue Geschichtsfälschungen von Lars Lih

Die Ereignisse vom Februar und Anfang März kennzeichneten das erste Stadium der Revolution. Die Vorbereitung des nächsten Stadiums bedurfte einer Klärung der politischen Aufgaben, die durch die neue Lage gestellt wurden. Lenin und Trotzki analysierten die neueste Entwicklung von der Schweiz und von New York aus mit unglaublicher Präzision. In einem Artikel, der am 6. März (alter Stil) in Novy Mir erschien, schrieb Trotzki, dass „ein offener Zusammenstoß zwischen den Kräften der Revolution, angeführt vom städtischen Proletariat, und der sich vorübergehend an der Macht befindenden anti-revolutionären liberalen Bourgeoisie absolut unvermeidlich ist.“ [20]

Lenin telegraphierte am 6. März Anweisungen nach Russland: „Unsere Taktik vollständiges Misstrauen, keine Unterstützung der neuen Regierung; Kerenski besonders verdächtig; Bewaffnung des Proletariats die einzige Garantie.“ In seinem ersten „Brief aus der Ferne“ schrieb Lenin am 7. März: „Wer sagt, dass die Arbeiter die neue Regierung im Interesse des Kampfes gegen die zaristische Reaktion unterstützen sollen …, der ist ein Verräter der Arbeiter, ein Verräter an der Sache des Proletariats, an der Sache des Friedens und der Freiheit. Denn in Wirklichkeit ist gerade diese neue Regierung bereits an Händen und Füßen durch das imperialistische Kapital, durch die imperialistische Kriegs- und Raubpolitik gebunden …“ [21]

In seinen folgenden „Briefen aus der Ferne“ arbeitete Lenin diese Perspektive weiter aus. Er entwickelte darin ein Programm, in dem er für den Übergang der Macht auf die Sowjets, das sofortige Ende des Kriegs, die Beschlagnahme des Großgrundbesitzes durch die Bauernschaft, Arbeiterkontrolle über die Produktion und den Beginn des Übergangs zum Sozialismus eintrat.

Lenins Haltung löste im März und April 1917 eine große politische Auseinandersetzung aus, in der er für die politische Linie eintrat, die zuvor Trotzki zugeschrieben worden war. Dabei kämpfte Lenin gegen Teile der Bolschewistischen Partei, insbesondere eine rechte Fraktion um Kamenew, Stalin und Muranow, die Mitte März nach Petrograd zurückgekehrt war und vermittels ihres Einflusses in der Prawda-Redaktion versuchte, die Partei auf eine Unterstützung für die Provisorische Regierung und den Krieg zu orientieren.

In diesem Kampf fand Lenin innerhalb der Bolschewistischen Partei starke Verbündete, insbesondere unter ihrer Basis in der Arbeiterklasse. Wie der Historiker Alexander Rabinowitch feststellt, hatte das Wyborger Komitee der Bolschewiki bereits am 1. März „eine Resolution verabschiedet, in der die sofortige Machtergreifung der Arbeiter und die Auflösung des Provisorischen Duma-Ausschusses gefordert wurde“.

Das von Schljapnikow geleitete Büro des Zentralkomitees verabschiedete eine Resolution, in der es hieß, die Provisorische Regierung sei „eine Vertretung der Großbourgeoisie und der Großgrundbesitzer“, und es sei notwendig, den Kampf für die Bildung einer provisorischen Revolutionsregierung aufzunehmen. Diese Resolution wurde jedoch vom Petrograder Komitee der Partei abgelehnt und stattdessen eine andere Resolution verabschiedet, in der es hieß, dass sich die Bolschewistische Partei „der Provisorischen Regierung nicht widersetzt, solange ihre Politik den Interessen … des Volkes entspricht“ – eine Formel, die der Position der Menschewiki gleichkam. [22]

Dieser Hergang war Gegenstand unzähliger Fälschungen, mit denen die Stalinisten versuchten, Trotzki und die Bedeutung der Theorie der permanenten Revolution aus der Geschichte zu streichen und ihre eigene nationalistische und opportunistische Politik zu rechtfertigen. Für ernsthafte Historiker ist die grundlegende politische Dynamik der russischen Revolution klar – der widersprüchliche Charakter der Doppelherrschaft, die Beziehung zwischen den Sowjets und der Provisorischen Regierung, die Bedeutung der Zerwürfnisse innerhalb der Bolschewistischen Partei und die Auswirkungen von Lenins Rückkehr im April.

Doch auch heute werden wir wieder Zeuge von Geschichtsfälschungen, die im Wesentlichen neostalinistischen Charakter tragen. Ein bekannter Vertreter dieser Richtung ist der Historiker Lars Lih, der von der International Socialist Organisation (ISO) und ihrem Verlag Haymarket stark beworben wird. Gerade heute Nachmittag nahm Lih gemeinsam mit dem ISO-Mitglied Todd Chretien auf einer Konferenz zum historischen Materialismus in New York an einer Podiumsdiskussion teil, in der es um die Spaltungen innerhalb der Bolschewistischen Partei im März 1917 ging.

In einer Reihe von Artikeln jüngeren Datums vertritt Lih den Standpunkt, dass es in den Monaten nach der Februarrevolution in der Bolschewistischen Partei keine grundlegenden Differenzen gegeben habe, dass die Entwicklung von der Februar- zur Oktoberrevolution bruchlos verlaufen sei, dass der Begriff „Doppelherrschaft“ für das Verständnis der Zeit zwischen den Revolutionen nicht geeignet sei und, man glaubt es kaum, dass die russische Revolution nichts mit Sozialismus zu tun gehabt habe.

In einem Essay mit dem Titel „Fully Armed: Kamenew and Prawda in March 1917“ („Vollständig gewappnet: Kamenew und die Prawda im März 1917“) argumentierte Lih 2014, dass die Politik, die Stalin und Kamenew im März vertraten, die Bolschewiki „vollauf“ auf die Machteroberung im Oktober vorbereitet hätte. [23] Zur Untermauerung seines „Narrativs“ zitiert Lih nur aus einem einzigen der Leitartikel, die in der Prawda erschienen, nachdem Kamenew, Muranow und Stalin am 15. März aus dem Exil zurückgekehrt waren. Dieser Leitartikel ist namentlich nicht gezeichnet, wird aber Kamenew zugeschrieben. Darin heißt es: „Genauso energisch, wie wir [die neue Provisorische Regierung] mit aller Kraft bei der endgültigen Abschaffung des alten Regimes und der Monarchie, bei der Einführung von Freiheitsrechten usw. unterstützen, werden wir jedes Versagen der Provisorischen Regierung, ihren erklärten Absichten gemäß zu handeln, ebenso geißeln wie jede Abweichung von einem entschlossenen Kampf und jeden Versuch, dem Volk die Hände zu binden oder die Flamme der Revolution zu ersticken.“

Dieser Leitartikel steht im direkten Widerspruch zu Lenins Brief aus der Ferne, in dem jeder, der zur Unterstützung der neuen Regierung im Kampf gegen das alte Regime aufruft, als „Verräter an der Sache des Proletariats“ bezeichnet wird. Als die Prawda diesen Brief – den einzigen, der je veröffentlicht wurde – später abdruckte, strichen die Herausgeber mehrere Absätze, darunter den oben zitierten Ausdruck. Sie wussten genau, was Lenins Worte bedeuteten.

Lih führt die unmissverständliche Auslegung von Kamenews Artikel kurzerhand auf „unaufmerksame Leser“ zurück, die ihn schlicht nicht ganz gelesen hätten. Weiter hinten heiße es in dem Brief, so Lihs Paraphrasierung, dass „sich die Wege der demokratischen Kräfte und der Provisorischen Regierung trennen werden – dass die Bourgeoisie, wenn sie sich besinnt, unweigerlich versuchen wird, die revolutionäre Bewegung aufzuhalten, und diese nicht so weit gehen zu lassen, dass die wesentlichen Bedürfnisse des Proletariats und der Bauernschaft erfüllt werden. ... Die vollständige Erfüllung ihrer Forderungen ist nur möglich, wenn die ganze Macht vollständig in ihren eigenen Händen liegt.“

Dies ist eine rein menschewistische Argumentation: Aktuell handelt die Provisorische Regierung – also die Bourgeoisie – revolutionär. Dabei gebührt ihr Unterstützung. In typisch opportunistischer Manier werden die revolutionären Aufgaben auf ungewisse Zeit verschoben. Dies ist eine klare Rechtfertigung für die Unterstützung der Provisorischen Regierung.

Lih ergänzt Kamenews Position durch seine eigene Erläuterung:

Die große Masse der Soldaten und Arbeiter, gerade erst zu politischem Leben erwacht, setzte noch Vertrauen in die Provisorische Regierung und ihren scheinbar makellosen Ruf als Gegnerin des Zaren. Dieses Vertrauen basierte nicht nur auf einer Woge revolutionären Wohlwollens (wie wir die Lage mit einer gehörigen Portion Herablassung für gewöhnlich beschreiben). Tatsache ist, dass die Provisorische Regierung in diesem Zeitabschnitt tatsächlich revolutionäre Maßnahmen durchführte: die Auflösung des zaristischen Polizeiapparats, die Freilassung politischer Gefangener, die Garantie grundlegender politischer Freiheiten, die Schaffung der Voraussetzungen für nationale Wahlen usw.

Der Zusammenstoß würde kommen, und erst dann würde es notwendig sein, sich gegen die Provisorische Regierung zu stellen, was einige Monate später der Fall gewesen sei. Kamenews Linie, so Lih, „führte die Bolschewiki bis hin zum Oktober“.

Diese Analyse ist von A bis Z falsch. Die neue Regierung hatte keinen „scheinbar makellosen Ruf als Gegnerin des Zaren“. Sie versuchte mit allen Mitteln die Autokratie zu erhalten. Revolutionäre Maßnahmen erwarteten sich die Massen der Arbeiter und Soldaten nicht von der Provisorischen Regierung, sondern vom Sowjet, an dessen Spitze jedoch Parteien standen, die zur Unterstützung der Provisorischen Regierung aufriefen. Lenin und Trotzki sahen ihre Aufgabe darin, die politische Differenzierung voranzutreiben, absolutes Misstrauen in die Regierung und in Gestalten wie Kerenski zu fördern und vor der Illusion zu warnen, dass diese Regierung demokratische Reformen verwirklichen und den Krieg beenden werde.

Lih setzt sich in seiner Darstellung einfach über die grundlegende Frage hinweg, um die sich der Konflikt innerhalb der Bolschewistischen Partei drehte: die Frage des Kriegs. Er ignoriert die zahlreichen Leitartikel und Beiträge, in denen Kamenew und Stalin im März den Krieg zur Verteidigung des Vaterlands befürworteten, wie es ihrer Unterstützung für die Provisorische Regierung entsprach.

Ein von Kamenew verfasster Leitartikel vom 15. März unter der Überschrift „Ohne Geheimdiplomatie!“ ist ein rein menschewistisches Dokument. „Der Krieg geht weiter, die große russische Revolution hat ihn nicht aufgehalten“, heißt es eingangs. „Und niemand hegt die Hoffnung, dass er morgen oder übermorgen vorbei sein wird. Die Soldaten, Bauern und Arbeiter Russlands, die auf Geheiß des gestürzten Zaren in den Krieg zogen und unter seinen Bannern ihr Blut vergossen, haben sich befreit, und die zaristischen Banner wurden durch die roten Banner der Revolution ersetzt.“

Das heißt, der Krieg war zu einem revolutionären Befreiungskrieg unter der Führung der Provisorischen Regierung geworden – genau die Linie, die von den Menschewiki und Sozialrevolutionären vertreten wurde. Weiter schrieb Kamenew: „Wenn Armeen einander gegenüberstehen, wäre es die größte politische Blindheit, eine von ihnen aufzufordern, die Waffen niederzulegen und nach Hause zu gehen. Eine solche Politik wäre keine Friedenspolitik, sondern eine Politik der Versklavung, die ein freies Volk mit Verachtung von sich weisen würde. Nein, es würde unerschütterlich auf seinem Posten bleiben und Kugel mit Kugel und Granate mit Granate beantworten. So muss es sein.“

In abgrundtiefer Kriecherei vor den imperialistischen Alliierten fuhr er fort:

Russland ist an Bündnisse mit England, Frankreich und anderen Ländern gebunden. Es kann in Fragen des Friedens nicht unabhängig von ihnen handeln. Doch das heißt nur, dass das revolutionäre Russland, welches das zaristische Joch abgeschüttelt hat, seinen Verbündeten direkt und offen den Vorschlag unterbreiten muss, die Eröffnung von Friedensverhandlungen zu prüfen ...

Unsere Parole ist nicht die Desorganisation der revolutionären Armee und der Armee, die sich zunehmend revolutioniert, und auch nicht die hohle Parole: ,Nieder mit dem Krieg.‘ Unsere Parole lautet: Druck auf die Provisorische Regierung, um sie zu zwingen, vor der gesamten weltweiten Demokratie offen und unmittelbar zu versuchen, alle kriegführenden Länder zur sofortigen Aufnahme von Gesprächen über Möglichkeiten zur Beendigung des Weltkriegs zu bewegen. Bis dahin sollte jeder auf seinem Posten bleiben. [24]

Er schließt mit „brüderlichen Grüßen“ an den von Suchanow verfassten Aufruf des Sowjets, den ich vorhin erwähnt habe.

Ungeachtet der späteren Fälschungen der stalinistischen Bürokratie wurde Kamenews Unterstützung des Kriegs von Stalin geteilt. In einem Artikel, der am 16. März unter der Überschrift „Über den Krieg“ erschien, spricht sich Stalin gegen die Parole „Nieder mit dem Krieg!“ aus. Stattdessen erklärt er: „Die Arbeiter, Soldaten und Bauern müssen Kundgebungen und Demonstrationen veranstalten, sie müssen von der Provisorischen Regierung fordern, dass sie offen und vor aller Welt den Versuch macht, alle kriegführenden Mächte zur unverzüglichen Aufnahme von Friedensverhandlungen auf der Grundlage der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu bewegen.“ [25]

Druckausüben auf die Provisorische Regierung, um diese bürgerliche Regierung zu zwingen, den Krieg zu beenden – eine Regierung, die aus Organisationen und Personen bestand, die den Krieg während seiner gesamten Dauer glühend unterstützt hatten.

Ein Vergleich dieser Aussagen mit den Schriften Lenins zeigt sofort, welcher politische Abgrund zwischen beiden Lagern klaffte. „Aber es ist absolut unzulässig“, schrieb Lenin am 9. März, „sich und das Volk darüber täuschen zu wollen, dass diese Regierung den imperialistischen Krieg fortsetzen will, dass sie ein Agent des englischen Kapitals ist, dass sie die Monarchie wiederherstellen und die Herrschaft der Gutsbesitzer und Kapitalisten konsolidieren will.“ Und am 12. März erklärte Lenin: „Deshalb ist eine an die Regierung Gutschkow-Miljukow gerichtete Aufforderung, sie möge baldigst einen ehrlichen, demokratischen, gutnachbarlichen Frieden schließen, von demselben Wert wie etwa die Aufforderung eines gutherzigen Dorfpfaffen an die Gutsbesitzer und Kaufleute, sie mögen ein ,gottgefälliges‘ Leben führen, ihren Nächsten lieben und die rechte Backe zum Streich darbieten, wenn man sie auf die linke geschlagen hat.“ [26]

Lihs Verteidigung von Kamenew – und damit implizit von Stalin – wird durch eine weitere Position ergänzt, die er vor einem Monat an der University of Michigan darlegte. Demnach ist es unzulässig, die Revolution im Februar als „bürgerlich-demokratisch“ und die im Oktober als „sozialistisch“ zu bezeichnen. Dies sei ein Mythos, der u. a. von Trotzki und seinen Anhängern verbreitet werde, die so täten, als hätten Stalin und Kamenew vor Lenins Rückkehr nach Russland nicht über eine bürgerlich-demokratische Revolution hinausgehen wollen, während Lenin in seinen Aprilthesen zur sozialistischen Revolution aufgerufen habe.

Richtig wäre laut Lih hingegen, 1917 insgesamt als „antibürgerliche demokratische Revolution“ aufzufassen. Er behauptet, die Bolschewiki hätten während des gesamten Jahres 1917 nicht das Ziel einer sozialistischen Revolution aufgestellt. [27]

Lih geht bei all seinen Ausführungen von der Unwissenheit seiner Leser aus. Die Behauptung, die Bolschewiki hätten kein sozialistisches Programm vertreten, wird durch die Dokumente der Partei widerlegt, beispielsweise durch die Unterlagen des Parteitags, der im April nach Lenins Rückkehr abgehalten wurde. Die Herausgeber der Prawda waren sich über die Bedeutung der Forderungen Lenins völlig im Klaren. Am 8. April, nach der Veröffentlichung von Lenins Aprilthesen, schrieben sie: „Was das allgemeine Schema des Genossen Lenin betrifft, so erscheint es uns unannehmbar, dass es von der Einschätzung der bürgerlich-demokratischen Revolution als einer abgeschlossenen ausgeht und mit der sofortigen Umwandlung dieser Revolution in eine sozialistische Revolution rechnet.“ [28]

In „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ argumentiert Lenin unter der Zwischenüberschrift „Kann man vorwärtsschreiten, wenn man Angst hat, zum Sozialismus zu schreiten“ gegen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die behaupteten, die Revolution sei rein bürgerlich-demokratischer Natur und könne keine sozialistischen Maßnahmen verwirklichen.

Lenin schrieb:

Stehenbleiben kann man nicht – weder in der Geschichte überhaupt noch besonders in Kriegszeiten. Man muss entweder vorwärtsschreiten oder zurückgehen. Vorwärtsschreiten im Russland des 20. Jahrhunderts, das die Republik und den Demokratismus auf revolutionärem Wege erobert hat, ist unmöglich, ohne zum Sozialismus zu schreiten, ohne Schritte zum Sozialismus zu machen (Schritte, die bedingt sind und bestimmt werden durch den Stand der Technik und der Kultur: Man kann den maschinellen Großbetrieb in die bäuerliche Landwirtschaft nicht ,einführen‘, in der Zuckerfabrikation kann man ihn nicht abschaffen) …

Die Dialektik der Geschichte ist gerade die, dass der Krieg, der die Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus ungeheuer beschleunigte, dadurch die Menschheit dem Sozialismus außerordentlich nahe gebracht hat. [29]

Zwar kann ich diese Frage im Rahmen dieses Vortrags nicht erschöpfend behandeln, doch dieses letzte Zitat zeigt, auf welchen Grundlagen Lenin und Trotzki theoretisch und programmatisch zusammenkamen. Der imperialistische Krieg hatte die Widersprüche des Kapitalismus als Weltsystem bloßgelegt und gezeigt, dass das Schicksal der Arbeiterklasse als internationaler Klasse weltweit miteinander verwoben war. Es ging nicht um eine bürgerlich-demokratische Revolution, sondern darum, wie Genosse Nick zum Ende seines Vortrags sagte, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker zu verwandeln, um den Sozialismus herbeizuführen.

Die Fälschungen Lihs bestätigen erneut, dass die Geschichte der russischen Revolution von enormer aktueller Bedeutung ist. Immer wieder sind in der Geschichte des 20. Jahrhunderts revolutionäre Aufstände der Arbeiterklasse der Bourgeoisie untergeordnet worden, insbesondere durch den Verrat des Stalinismus. Das gilt für China 1927, Spanien in den 1930er Jahren, Indien und Indochina in den 1940ern, ganz Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Indonesien in den 1960ern, Chile und Lateinamerika in den 1970ern, den Iran 1979 bis hin zu Ägypten 2011.

Heute, zu Beginn einer neuen Periode von Krieg und Revolution, bemühen sich die Parteien der oberen Mittelklasse nach Kräften, die Entwicklung einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse für den Sozialismus zu verhindern.

Das Einmalige an der Russischen Revolution war das Bestehen einer revolutionären Führung, mit Lenin und Trotzki an der Spitze, die den revolutionären Aufstand der Arbeiterklasse bis zu ihrem notwendigen Abschluss, der Eroberung der Staatsmacht brachte. Das nächste Stadium dieses Kampfs, Lenins Rückkehr nach Russland und die Aprilthesen, ist Thema des nächsten Vortrags.

Anmerkungen:

[1] David North und Wladimir Wolkow, „Georgi Walentinowitsch Plechanow (1856-1918): Seine Stellung in der Geschichte des Marxismus“, World Socialist Web Site, https://www.wsws.org/de/articles/2017/01/11/plec-j11.html, 11. Januar 2017

[2] Lenin, „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“, in: Werke Bd. 9, Berlin 1957,S. 35

[3] Trotzki, „Drei Konzeptionen der russischen Revolution“, in: Stalin. Eine Biografie, Köln, S. 545

[4] Lenin, „Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft”, in: Werke Bd. 7

[5] Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven, Kapitel 2: Stadt und Kapital, 1906

[6] Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Mehring Verlag, Essen 2010, S. 9

[7] Ferdinand Lassalle, nachgelassene Briefe und Schriften, Band 3 Seite 14, http://www.historische-kommission-muenchen-editionen.de/lassalle/anzeige/seite.php?id=L-003-0057

[8] Marx/Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund, Werke Bd. 7, Berlin 1950

[9] Trotzki, Die permanente Revolution. Ergebnisse und Perspektiven, Mehring Verlag, Essen 2016, S. 223

[10] Trotzki, Vorwort zu F. Lassalles Reden vor dem Geschworenengericht, zitiert in: ebd., Kapitel 9, „Europa und die Revolution“

[11] Ebd., Anhang: „Der Kampf um die Macht“

[12] Alle Datumsangaben zur Februarrevolution und der Zeit danach werden nach dem alten julianischen Kalender gemacht.

[13] Zitiert in: The Russian Revolution, 1917, Rex. A. Wade, Cambridge University Press, 2017, S. 29.

[14] Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, Mehring Verlag, Essen 2010, S. 125

[15] Ebd., S. 133

[16] Zitiert in: Tsuyoshi Hasegawa, The February Revolution: Petrograd, 1917, University of Washington Press, 1989, S. 227

[17] Tsuyoshi Hasegawa, „The Formation of the Militia in the February Revolution: An Aspect of the Origins of Dual Power“, in: Slavic Review, Vol 32, No 2, June 1973, S. 303ff

[18] Zitiert in Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, ebd. S. 206

[19] N. N. Sukhanov, The Russian Revolution 1917: A Personal Record, Princeton University Press, 1984, S. 12.

[20] Trotzki, „The Growing Conflict“ (nach der englischen Übersetzung von Fred Williams)

[21] Lenin, Werke Bd. 23, Berlin 1957, S. 306 und S. 319

[22] Alexander Rabinowitch, Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising, Indiana University Press, 1991, S. 34-35

[23] Lars T. Lih, „Fully Armed: Kamenev and Pravda in March 1917“, in: The NEP Era: Soviet Russia 1921-1928, 8 (2014), S. 55-68

[24] Prawda, 15. [28.] März 1917 (nach der englischen Übersetzung von Fred Williams)

[25] Prawda, 16. [29] März 1914, veröffentlicht in Stalin, Werke Bd. 3, März-Oktober 1917, Berlin 1952, S. 10

[26] Aus Lenins zweitem und viertem „Brief aus der Ferne“, Werke Bd. 23,ebd.. S. 329f und S. 351

[27] Entsprechende Ausführungen machte Lih in einem Vortrag, den er im Rahmen der Konferenz Revolutionary Longings im März 2017 an der University of Michigan in Ann Arbor hielt.

[28] Zitiert in: Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, ebd., S. 264

[29] Lenin, Werke Bd. 25, ebd. S. 369f

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