Die Eliten „haben jede Glaubwürdigkeit verloren“. Ein Interview mit dem Journalisten Chris Hedges

Am 2. Oktober führte der Vorsitzende der internationalen Redaktion der WSWS, David North, ein Interview mit Chris Hedges, Träger des Pulitzer-Preises, Autor, Dozent und ehemaliger Korrespondent der New York Times. Zu Hedges besonders bekannten Büchern zählen „War is a Force That Gives Us Meaning“, „Death of the Liberal Class“, „Empire of Illusion: the End of Literacy and the Triumph of Spectacle“ und (gemeinsam mit dem Cartoonisten Joe Sacco) „Days of Destruction, Days of Revolt“ sowie „Wages of Rebellion: the Moral Imperative of Revolt“.

In einem Artikel unter der Überschrift „So werden abweichende Stimmen zum Schweigen gebracht“, der am 17. September auf dem Nachrichtenportal Truthdig erschien, warnte Hedges unter Berufung auf Berichte der WSWS über die Google-Zensur gegen linke Websites vor „schwarzen Listen, Zensur und der Verleumdung von Dissidenten als ausländische Agenten im Dienste Russlands und als Verbreiter von ‚Fake News‘.“

Hedges schrieb, „dass das Justizministerium den Sender RT America und seine ,Verbündeten‘ – damit sind Leute wie ich gemeint – aufgefordert hat, sich unter dem Foreign Agent Registration Act registrieren zu lassen. [1] Unter diesem Gesetz aus dem Jahr 1938 muss jede politische Tätigkeit für ausländische Rechtspersonen registriert werden. Da der Staat zweifellos weiß, dass sich die meisten von uns nicht als ausländische Agenten registrieren lassen werden, bedeutet dies, dass unsere Sendungen offair genommen werden. Diese Absicht steckt wohl dahinter.“

North eröffnete das Interview mit einer Frage zur Bedeutung der antirussischen Kampagne in den Medien.

David North: Wie beurteilen Sie die Fixierung auf Russland und die Auslegung der Wahlen allein unter dem Aspekt der Manipulation durch Putin?

Chris Hedges: Das ist ebenso lächerlich wie Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen. Es ist eine völlig unbewiesene Behauptung, mit der eine schockierende Anschuldigung verbreitet wird: Kritiker des Kapitalismus und Imperialismus seien ausländische Agenten Russlands.

Ich zweifle nicht daran, dass die Russen Zeit, Kraft und Geld investiert haben, um die Ereignisse in den Vereinigten Staaten in ihrem Interesse zu beeinflussen. Das haben wir ja auch getan und tun es heute noch, sowohl in Russland als auch in anderen Ländern überall auf der Welt. Ich sage also nicht, dass es keine Einflussnahme oder versuchte Einflussnahme auf die Ereignisse gab.

Aber die Vorstellung, dass die Russen den Ausschlag für Trumps Wahlsieg gaben, ist absurd. Sie basiert auf der unbewiesenen Behauptung, dass Russland die E-Mails von [Clintons Wahlkampfmanager] Podesta an WikiLeaks weitergab und ihre Veröffentlichung dann Hunderttausende Clinton-Wähler zum Umschwenken auf Trump veranlasste. Das ergibt keinen Sinn. Manchmal wird es auch darauf geschoben, dass RT America, wo ich eine Show habe, alle dazu gebracht hat, für die Grünen zu stimmen. Das meint jedenfalls der Direktor der nationalen Geheimdienste.

Diese Fixierung auf Russland ist eine Taktik, mit der die herrschende Elite und insbesondere die Demokratische Partei einer äußerst unangenehmen Realität ausweicht: dass ihre Unbeliebtheit auf ihre Politik zurückzuführen ist: auf die Deindustrialisierung und die Angriffe auf arbeitende Männer und Frauen und arme Farbige. Sie ist zurückzuführen auf verhängnisvolle Handelsabkommen wie das NAFTA, durch das gute, tariflich entlohnte Arbeitsplätze vernichtet und an Orte wie Mexiko verlagert wurden, wo Arbeiter ohne Sozialleistungen für 3 Dollar die Stunde schuften. Sie ist zurückzuführen auf die allgegenwärtige systematische Masseneinkerkerung, die 1994 von Bill Clinton mit seinem Gesetz zur Verbrechensvorbeugung eingeführt wurde, und auf die Verdrei- und Vervierfachung der Gefängnisurteile. Sie ist zurückzuführen auf die Streichung elementarer sozialer Dienste (einschließlich der von Clinton abgeschafften Sozialhilfe), die Deregulierung, den Zerfall der Infrastruktur mitsamt den öffentlichen Schulen und auf die Steuerverweigerung der Unternehmen. Sie ist zurückzuführen auf die Verwandlung des Landes in eine Oligarchie. Die ausländerfeindliche Revolte auf der Rechten und der gescheiterte Aufstand innerhalb der Demokratischen Partei werden erklärlich, wenn man sich anschaut, was sie aus diesem Land gemacht haben.

Die Polizei ist zu einer Art militärischen Truppe geworden, die Viertel von Randgruppen tyrannisiert, wo die Leute keinerlei Rechte mehr haben und straflos erschossen werden dürfen. Täglich werden mehr als drei Menschen getötet. Der Staat erschießt arme Farbige und sperrt sie ein, um die gesellschaftliche Kontrolle zu behalten. Dieselbe Art der Kontrolle wird ohne weiteres jeden anderen Teil der Bevölkerung treffen, der aufbegehrt.

Die Hexenjagd gegen Russland wird vor allem von der Demokratischen Partei betrieben. Sie vermeidet damit, sich ihre Komplizenschaft bei der Zerstörung unserer bürgerlichen Freiheiten einzugestehen – in dieser Hinsicht war Barack Obama schlimmer als George W. Bush. Sie konfrontiert sich nicht mit ihrer Rolle bei der Zerstörung unserer Wirtschaft und unserer demokratischen Institutionen.

Politiker wie die Clintons, Pelosi und Schumer sind Kreaturen der Wall Street. Deshalb setzen sie alles daran, den Sanders-Flügel der Demokratischen Partei zurückzudrängen. Ohne das Geld der Wall Street hätten sie keine politische Macht. Die Demokratische Partei arbeitet nicht wirklich wie eine politische Partei. Sie ist ein Werkzeug, um die Massen unaufhörlich in Atem zu halten und die Öffentlichkeit mit exaltierten Kampagnen zu überziehen, die von Unternehmensspenden finanziert werden. Die Parteibasis hat im Hinblick auf die Führung oder Politik der Partei kein Mitspracherecht, wie Bernie Sanders und seine Anhänger feststellen mussten. Die Mitglieder sind in diesem sterilen politischen Theater nur Requisiten.

Diese Partei-Eliten, die von Gier, Kurzsichtigkeit und einem tiefem Zynismus zerfressen sind, halten den gesamten politischen Prozess im Würgegriff. Den werden sie nicht lockern, selbst wenn alles in sich zusammenbricht.

DN: Chris, Sie haben für die New York Times gearbeitet. Wann war das genau?

CH: Von 1990 bis 2005.

DN: Da Sie einige Erfahrung mit dieser Institution haben: Welche Veränderungen stellen Sie fest? Wir haben betont, dass die Zeitung eine Basis in der wohlhabenden oberen Mittelschicht aufgebaut hat.

CH: Die New York Times wendet sich bewusst an 30 Millionen Menschen der oberen Mittelklasse, wohlhabende Amerikaner. Es ist eine nationale Zeitung; nur etwa 11 Prozent ihrer Leserschaft ist aus New York. Die Zielgruppe der Times erkennt man sofort, wenn man sich ihre Rubriken zu den Themen Wohnen, Stil, Unternehmen oder Reisen anschaut. In diesen Beiträgen wird zum Beispiel geschildert, wie schwierig es ist, ein Zweithaus in den Hamptons [einem Mekka der Superreichen] zu unterhalten. Sie kann gute investigative Arbeit leisten, tut es aber selten. Sie behandelt außenpolitische Themen. Doch dabei spiegelt sie das Denken der Eliten wider. Ich lese die Times jeden Tag, vielleicht auch, weil Ihre Website das Gegengewicht dazu bildet.

DN: Das hoffentlich stärker ist.

CH: Das allerdings stärker ist. Die Times war seit jeher eine elitäre Publikation. Als sie jedoch in finanziellen Schwierigkeiten steckte, verschrieb sie sich unter Abe Rosenthal als Herausgeber voll und ganz der Ideologie des Neokonservatismus und Neoliberalismus. Rosenthal führte die Rubriken ein, die auf die Elite abgestimmt waren. Und er verhängte eine De-facto-Zensur gegen Kritiker des ungezügelten Kapitalismus und Imperialismus, wie Noam Chomsky oder Howard Zinn. Er ekelte Reporter hinaus, die wie Sydney Schanberg Immobiliengesellschaften in New York herausgefordert oder wie Raymond Bonner über das Massaker von El Mozote in El Salvador berichtet hatten.

Jede Woche traf sich Rosenthal mit seinem Verleger William F. Buckley zum Mittagessen. Weil sie sich solcherart den reaktionärsten Kräften des Kapitalismus und Befürwortern des amerikanischen Imperialismus an den Hals warf, war die Zeitung eine Zeit lang sehr profitabel. Doch die Ausbreitung des Internets und der Verlust von Kleinanzeigen, auf die rund 40 Prozent der Einnahmen aller Zeitungen entfielen, machten der Times am Ende natürlich genauso zu schaffen wie allen anderen Zeitungen. Die gedruckten Zeitungen haben das Monopol darauf verloren, Verkäufer und Käufer zusammenzubringen. Zeitungen sind in einem alten System der Berichterstattung befangen, das darauf abzielt, die Wahrheit im Namen einer formelhaften „Objektivität“ und „Ausgewogenheit“ im Interesse der Mächtigen und Reichen zu vernebeln. Doch auch die Times wird, wie alle byzantinischen Höfe, bis zum bitteren Ende an ihrem Heiligen Gral festhalten.

Dem hohen intellektuellen Anspruch der Zeitung – insbesondere bei den Buchrezensionen und dem Wochenrückblick – machte Bill Keller den Garaus, ein Neokonservativer, der als Kolumnist für den Irakkrieg Stimmung machte. Er holte Leute wie Sam Tanenhaus in die Redaktion. Zu diesem Zeitpunkt stellte sich das Blatt vorbehaltlos hinter die utopische Ideologie des Neoliberalismus und das Primat der Konzernmacht als einziger Form des menschlichen Fortschritts. Zusammen mit Business Schools, wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und den Gurus des Staats verbreitete die Times die absurde Idee, dass es uns allen besser ginge, wenn wir jeden Bereich der Gesellschaft dem Diktat des Markts unterwerfen würden. Um das zu glauben, muss man mit einer besonderen Art von Dummheit geschlagen sein. Studenten an der Harvard Business School arbeiteten sich noch an Fallstudien über Enron und sein geniales Geschäftsmodell ab, da brach Enron schon zusammen und entpuppte sich als ein gigantischer Betrug. Bei all dem ging es in Wirklichkeit nicht um Ideen. Es ging um nackte Gier. Dafür legten sich die angeblich Gebildetsten unter uns ins Zeug, wie Larry Summers – was die Lüge widerlegt, dass unser Niedergang auf mangelnde Bildung zurückzuführen sei. Der wirkliche Grund war eine abgewirtschaftete und amoralische Elite und die kriminellen Finanzinstituten, die für ihre Bereicherung sorgten.

Das kritische Denken, das auf der Kommentarseite, im Wochenrückblick oder in den Buchbesprechungen – wenn auch nie allzu ausgeprägt – zu finden gewesen war, löste sich unter Keller in Luft auf. Die Globalisierung durfte nicht hinterfragt werden. Da die Times wie alle Institutionen der Elite hermetisch gegen Stimmen von außen abgeschirmt ist, merkten die Beteiligten gar nicht, wie bedeutungslos sie wurden und welch lächerliches Bild sie abgaben. Thomas Friedman und David Brooks könnten genauso gut für die [Satirezeitschrift] Onion schreiben.

Ich habe im Ausland gearbeitet. Deshalb war ich nicht häufig in der Redaktion, weiß aber, dass dort ein Klima der Angst herrscht. Die Regeln sind nicht an die Wände geschrieben, aber jeder kennt das inoffizielle Motto der Zeitung, auch wenn es keiner ausspricht: Tritt niemals denjenigen zu nahe, die uns Geld und Zugang zu Informationen verschaffen! Von Zeit zu Zeit darf man ihnen ein bisschen auf die Füße treten. Aber wenn Sie ein ernsthafter Reporter sind, wie Charlie Leduff oder Sydney Schanberg, der denen eine Stimme geben will, die keine Stimme haben, und zu Fragen der Hautfarbe, Klasse, kapitalistischen Ausbeutung oder imperialer Verbrechen schreiben möchten, dann werden Sie für das Management sehr schnell zum Problem und werden geschasst. Diejenigen, die im Unternehmen aufsteigen und Machtpositionen besetzen, sind vollendete Karrieristen. Da es ihnen ausschließlich um die eigene Karriere und das Ansehen und die Rentabilität der Institution geht, sind die Führungspositionen der Zeitung mit lauter Mittelmäßigen besetzt. Der Karrierismus ist die größte Achillesferse des Blatts. Es mangelt ihm nicht an Talenten. Doch was ihm fehlt, sind geistige Unabhängigkeit und Zivilcourage. Es erinnert mich an Harvard.

DN: Lassen Sie uns noch einmal auf diese Story über russische Hackerangriffe zurückkommen. Sie sprachen darüber, dass eine Story, die außer Behauptungen diverser Geheimdienste keinerlei faktische Grundlage hat, als Nachricht präsentiert wird, die über jeden Zweifel erhaben ist. Wie schätzen Sie das ein?

CH: Die kommerziellen Sender, einschließlich CNN und MSNBC, betreiben keinen Journalismus. Den gibt es bei ihnen kaum. Die prominenten Korrespondenten sind Hofschranzen der Elite. Sie treten den Klatsch bei Hofe breit und trompeten ihn in die Welt: die ganzen Anschuldigungen gegen Russland. Sie plappern auf Befehl nach, was ihnen gesagt wird. Echten Journalismus und die Wahrheit opfern sie zugunsten von Quoten und Gewinn. Diese Nachrichtenshows sind eine von vielen Einnahmequellen einer Konzernstruktur. Als solche konkurrieren sie mit anderen Einnahmequellen. Der Chef von CNN, Jeff Zucker, der daran beteiligt war, für „Celebrity Apprentice“ die fiktive Gestalt des Donald Trump zu entwerfen, hat die Politik auf CNN zu einer 24-Stunden-Reality-Show gemacht. Jede Art von Nuancierung, Vieldeutigkeit, Sinn und Tiefe musste mitsamt den nachweisbaren Fakten anzüglicher Unterhaltung weichen. Lügen, Rassismus, Bigotterie und Verschwörungstheorien werden ausgebreitet und als berichtenswert erachtet, und das oftmals von Leuten, die sich durch nichts als geistige Verwirrung auszeichnen. Nachrichten als Burleske.

Im Vorfeld des Irak-Krieges war ich Mitglied des investigativen Teams bei der New York Times. Ich berichtete von Paris aus über Al-Qaida in Europa und im Nahen Osten. Lewis Scooter Libby, Dick Cheney, Richard Perle und gelegentlich ein Geheimdienstangehöriger segneten damals die Story ab, die die Regierung in Umlauf bringen wollte. In den journalistischen Regeln der Times heißt es, dass keine Story gebracht werden darf, die auf nur eine Quelle zurückgeht. Wenn aber drei oder vier angeblich unabhängige Quellen das gleiche Narrativ bestätigen, dann können Sie die Story bringen, und so wurde es auch gemacht. Die Zeitung hat keine der Regeln gebrochen, die an der Columbia Journalism School gelehrt werden, und hat doch nichts als Lügen verbreitet.

Das Ganze war eine Farce. Das Weiße Haus versorgte Judy Miller oder Michael Gordon mit irgendeiner Lügengeschichte und erklärte dann in Talkshows: „Wie die Times berichtet …“ Das verlieh diesen Lügen den Anschein von Unabhängigkeit und seriösem Journalismus. Das war ein institutionelles Versagen auf der ganzen Linie, dem sich die Zeitung nie gestellt hat.

DN: Die CIA setzt die Story in die Welt, und die Times lässt sie anschließend von denjenigen bestätigen, die sie ihr untergejubelt haben.

CH: Nicht alles wird der Zeitung untergejubelt. Und nicht viel davon kam von der CIA. Die Hysterie wegen der „Massenvernichtungswaffen“ wurde von der CIA nicht geteilt.

DN: Das läuft auch in die umgekehrte Richtung?

CH: Natürlich. Wenn Sie einen Termin bei einem hohen Regierungsbeamten bekommen möchten, müssen Sie beständig Anfragen einreichen, und der Beamte entscheidet dann, wann er Sie empfängt. Und wenn er Sie sehen möchte, dann in der Regel deshalb, weil er Ihnen etwas andrehen will.

DN: Das antirussische Narrativ der Medien ist von großen Teilen derjenigen, die sich als „Linke“ bezeichnen, übernommen worden.

CH: Bleiben Sie mir bloß weg mit der amerikanischen Linken. Erstens gibt es keine amerikanische Linke – keine irgendwie ernstzunehmende Linke, die etwas von politischen oder revolutionären Theorien versteht, sich in ökonomische Studien vertieft hat oder weiß, wie Machtsysteme funktionieren, insbesondere bei Konzernen und Großmächten. Die Linke hat sich in der gleichen Art von Personenkult festgefahren wie der Rest der Gesellschaft. Sie konzentriert sich auf Trump, als ob er das zentrale Problem wäre. Doch Trump ist nicht die eigentliche Krankheit, sondern ein Produkt, ein Symptom eines gescheiterten Systems und einer dysfunktionalen Demokratie.

Wenn man versucht, mit Leuten von der angeblichen Linken zu diskutieren, dann reduzieren sie die Diskussion meistens auf diese holzschnittartige Sicht der Politik.

Die ernsthafte Linke in diesem Land wurde dezimiert. Das begann mit der Unterdrückung der radikalen Bewegungen unter Woodrow Wilson, gefolgt von der Kommunistenhatz in den 1920er Jahren, mit der unsere Arbeiterbewegung und unsere radikale Presse fast völlig zerstört wurden, und dann kamen die ganzen Säuberungen der 1950er Jahre. Der Gründlichkeit halber schickten sie die liberale Klasse gleich mit in die Wüste – man denke nur an Henry Wallace. Was sich dann im Kalten Krieg als „liberal“ bezeichnete, setzte den Kapitalismus mit Demokratie und den Imperialismus mit Freiheit gleich. Ich habe in der Schweiz und in Frankreich gelebt. In Europa findet man noch Reste einer radikalen Linken, sodass die Europäer etwas haben, auf dem sie aufbauen können. Aber wir hier müssen praktisch noch einmal bei Null anfangen.

Ich muss mich ständig mit der Antifa und dem Schwarzen Block herumschlagen. In meinen Augen sind sie Paradebeispiele für eine unfassbare politische Unreife. Widerstand ist schließlich keine persönliche Katharsis. Wir bekämpfen nicht den Aufstieg des Faschismus in den 1930er Jahren. Unsere Konzerneliten sind bereits an der Macht. Und wenn wir keine breite Widerstandsbewegung der Bevölkerung aufbauen, was viel geduldige Organisation unter arbeitenden Männer und Frauen erfordert, dann werden wir nach und nach aufgerieben.

Trump ist nicht das eigentliche Problem. Aber allein dieser Satz wäre für die meisten Leute, die sich der Linken zurechnen, das Ende der Diskussion.

Der kapitalistische Staat macht es einem sehr schwer, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wenn man an dieser radikalen Kritik festhält. Da bekommt man niemals eine feste Stelle. Man wird wahrscheinlich auf keinen akademischen Posten berufen. Man gewinnt keine Preise. Man bekommt kein Stipendium. Wenn die New York Times Ihr Buch rezensiert, dann beauftragt sie einen willfährigen Handlanger wie George Packer, der es pflichtschuldigst zerreißt – wie er es mit meinem letzten Buch getan hat. Die Elitehochschulen replizieren die Strukturen und Ziele der Konzerne. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich habe als Gastprofessor an einigen von ihnen gelehrt, beispielsweise in Princeton und Columbia. Wenn Sie etwas durch einen Promotionsausschuss bekommen möchten, von einem Einstellungsausschuss ganz zu schweigen, dann müssen Sie ganz und gar auf Nummer Sicher gehen. Sie dürfen der wirtschaftsfreundlichen Haltung nicht widersprechen, da sie die ganze Institution durchdringt und durch Spenden der Unternehmen und die Diktate reicher Alumni erzwungen wird. Bei den meisten dieser Stiftungsräte gehört die Hälfte der Mitglieder ins Gefängnis!

Im Großbritannien des 17. Jahrhunderts galt Spekulation als Verbrechen. Spekulanten wurden gehängt. Heute stehen sie an der Spitze der Wirtschaft und des Staats. Sie haben die Aneignung von Reichtum zum Mittel gemacht, das geistige, kulturelle und künstlerische Leben im Land zu zerstören und unsere Demokratie zu ersticken. Es gibt ein Wort für diese Leute: Verräter.

DN: Wie beurteilen Sie die Folgen der Identitätspolitik in Amerika?

CH: Die Identitätspolitik ist ein Maß für die Unreife der Linken. Der Staat hat sich die Identitätspolitik zu eigen gemacht. Barack Obama hat uns gezeigt, was wir von der Identitätspolitik haben: rein gar nichts. Obama war, wie Cornel West sagte, ein schwarzes Maskottchen der Wall Street, und jetzt reist er überall herum, um seinen Lohn für den Ausverkauf an uns einzuheimsen.

Meine Lieblingsanekdote über Identitätspolitik: Cornel West und ich führten zusammen mit anderen einen Marsch Obdachloser vor den Nationalen Parteitag der Demokraten in Philadelphia an. Dort fand am selben Abend eine Veranstaltung statt. Hunderte Teilnehmer hatten sich eingefunden, in ihrer Mehrheit wütende Anhänger von Bernie Sanders. Ich wurde eingeladen dort zu sprechen. Im Hinterzimmer saß eine Gruppe jüngerer Aktivisten, und einer von ihnen sagte: „Diesen Weißen lassen wir nicht als Ersten sprechen.“ Dann stand er auf und hielt eine Rede, in der er erklärte, dass jetzt alle für Hillary Clinton stimmen müssten. Da sieht man, wohin die Identitätspolitik führt. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Leuten wie Corey Booker und Van Jones, die den Kapitalismus hochleben lassen, und wahren Radikalen wie Glen Ford und Ajamu Baraka. Der Staat pickt sich ganz bewusst Frauen oder Menschen mit dunkler Hautfarbe heraus, um sie zu fördern und so seine Grausamkeit und Ausbeutung zu verschleiern.

Es ist natürlich sehr wichtig, dass diese Stimmen gehört werden, aber doch nicht jene, die sich an die Machtelite verkauft haben. Ein Paradebeispiel ist die feministische Bewegung. Dem alten Feminismus, vor dem ich große Hochachtung habe, dem Feminismus einer Andrea Dworkin, ging es um die Emanzipation unterdrückter Frauen. Diese Form des Feminismus hat nicht versucht, Prostitution als Sexarbeit zu rechtfertigen. Damals wusste man, dass es ebenso falsch ist, Frauen in der Sexindustrie zu missbrauchen, wie in einem Sweatshop. Doch die neue Form des Feminismus ist vom Gift des Neoliberalismus durchtränkt. Nun geht es darum, eine Frau zum CEO oder Präsidenten zu machen, damit sie, wie Hillary Clinton, diesen Posten im Dienst des Unterdrückungssystems ausübt. Der neue Feminismus erklärt die Prostitution zur Frage des freien Willens. Welche Frau, die ein festes Einkommen und Sicherheit genießt, würde sich freiwillig dafür entscheiden, für ihren Lebensunterhalt vergewaltigt zu werden? Identitätspolitik ist Anti-Politik.

DN: Soweit ich weiß, sprachen Sie auf der Socialist-Convergence-Konferenz und wurden niedergeschrien, als Sie Obama und Sanders kritisierten.

CH: Ja, daran erinnere ich mich schon gar nicht mehr. Wegen meiner Kritik an Obama bin ich an vielen Orten niedergeschrien worden, unter anderem in Berkeley. Auch als Unterstützer und Redenschreiber für Ralph Nader musste ich das lange Zeit ertragen. Die Leute wehren sich dagegen, dass ihre Illusionen über diese von Werbeagenturen geformten Politiker, ihre vermeintlichen Retter, zerschlagen werden, Sie scheuen die Anstrengung, wirklich darüber nachzudenken, wie Herrschaft funktioniert, und sich für ihren Sturz zu organisieren.

DN: Sie haben erwähnt, dass Sie bereits seit geraumer Zeit die World Socialist Web Site lesen. Dann wissen Sie, dass wir uns völlig außerhalb dieses Rahmens bewegen.

CH: Ich bin kein Marxist. Ich bin kein Trotzkist. Aber die Site gefällt mir. Sie berichten seriös über wichtige Themen, und das auf eine Weise, die man selten findet. Sie engagieren sich in Fragen, die mir wichtig sind – Masseneinkerkerung, die Rechte und Kämpfe der Arbeiterklasse und imperiale Verbrechen. Ich lese die Site schon seit langem.

DN: Viele, die sich als links ausgeben – die Pseudolinken – bringen die Interessen der wohlhabenden Mittelschicht zum Ausdruck.

CH: Genau. Als in den führenden Institutionen alle nach mehr Multikulturalismus riefen, ging es in Wirklichkeit darum, einige handverlesene farbige Menschen oder Frauen in Fakultäten oder Redaktionen unterzubringen, während gleichzeitig ein brutaler wirtschaftlicher Angriff auf die arbeitenden Armen, insbesondere die armen Farbigen in den deindustrialisierten Regionen der USA geführt wurden. Das haben die meisten dieser Multikulturalisten überhaupt nicht mitbekommen. Ich bin durchaus für Diversität, aber nicht, wenn sie auf Kosten der wirtschaftlichen Gerechtigkeit geht. Cornel West ist einer der großen Vorreiter nicht nur der schwarzen Predigertradition, der wichtigsten geistigen Tradition unserer Geschichte, sondern auch der Forderung nach Gerechtigkeit in allen ihren Formen. Ohne wirtschaftliche Gerechtigkeit kann es keine Rassengerechtigkeit geben. Und während die Institutionen der Elite aus Alibigründen ein paar neue Gesichter in ihre Hierarchie eingesprenkelt haben, sind sie zugleich wie die Berserker über die Arbeiterklasse und die Armen, insbesondere die farbigen Armen hergefallen.

Ein Großteil der Linken fiel auf den Trick mit der Identitätspolitik herein. Es war eine Art Schickimicki-Aktivismus. Er tastete das Konzernsystem, das wir doch zerstören müssen, nicht an. Er schminkte ihm ein freundliches Gesicht.

DN: Die World Socialist Web Site hat die Frage der Ungleichheit ins Zentrum ihrer Berichterstattung gestellt.

CH: Das ist der Grund, warum ich sie lese und mag.

DN: Um noch einmal auf die Russlandfrage zurückzukommen: Wie wird das Ihrer Meinung nach weitergehen? Wie ernst nehmen Sie diesen Angriff auf demokratische Rechte? Wir sprechen von einer neuen Hexenjagd im Stile McCarthys. Halten Sie diese Analogie für gerechtfertigt?

CH: Ja, natürlich handelt es sich um eine Neuauflage von McCarthy. Doch wir sollten uns eingestehen, dass unsere Stimmen praktisch bedeutungslos sind.

DN: Da bin ich anderer Meinung.

CH: Bedeutungslos in dem Sinne, dass wir innerhalb des Mainstreams nicht wahrgenommen werden. Wenn ich in Kanada bin, werde ich zur besten Sendezeit von CBC eingeladen. So ist es auch in Frankreich. Bei uns kommt das nicht vor. PBS und NPR werden so etwas niemals tun. Sie werden auch keinen anderen ernsthaften Kritiker des Kapitalismus oder Imperialismus einladen.

Wenn es beispielsweise eine Debatte über einen Angriff auf Syrien gibt, dann geht es nur darum, ob man Syrien lediglich bombardiert oder zusätzlich zu den Bomben auch Bodentruppen einsetzt, als ob es nur diese beiden Optionen gäbe. Beim Thema Gesundheitswesen ist es dasselbe. Wollen wir Obamacare, ein Modell der Heritage Foundation und der Pharma- und Versicherungsbranche, oder überhaupt keine Krankenversicherung? Über eine allgemeine Gesundheitsversorgung für alle wird gar nicht erst diskutiert. Wir sind Randfiguren. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht gefährlich sind. Neoliberalismus und Globalisierung sind Zombie-Ideologien. Sie haben jede Glaubwürdigkeit verloren. Der Betrug ist ruchbar geworden. Die globalen Oligarchen werden gehasst und verachtet. Die Elite hat kein Gegenargument zu unserer Kritik. Daher können sie uns nicht dulden. Wenn die Angst der Machtelite zunimmt, wird sie zu härteren Formen der Kontrolle greifen, einschließlich Zensur und Gewalt, doch diese Instrumente sind stumpf.

DN: Ich halte es für einen großen Fehler, sich auf das Gefühl der Isolation oder Ausgrenzung zu fixieren. Ich möchte Ihnen etwas prophezeien: Sie werden, eher früher als später, mehr Interviewanfragen und Fernsehauftritte bekommen. Wir befinden uns in einer Zeit eines kolossalen politischen Zusammenbruchs. Wir werden erleben, dass die Arbeiterklasse mehr und mehr als starke politische Kraft hervortritt.

CH: Deshalb haben sie es ja auf uns abgesehen. Der Bankrott der herrschenden Ideologie und der Bankrott der amerikanischen Liberalen und Linken bedeutet, dass diejenigen zum Schweigen gebracht werden müssen, die an theoretischer Gründlichkeit und einer Analyse der Machtsysteme einschließlich Wirtschaft, Kultur und Politik festhalten.

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