Perspektive

Giftanschlag auf Skripal: Was steckt hinter den britischen und amerikanischen Ultimaten gegen Russland?

Nur zehn Tage nach der mysteriösen Vergiftung des ehemaligen russischen Geheimagenten und britischen Spions Sergei Skripal und seiner Tochter Julia im britischen Salisbury hat die herrschende Klasse in Großbritannien eine antirussische Kampagne losgetreten und Moskau für den Anschlag verantwortlich gemacht. Mit Unterstützung führender Kreise in den USA und Europa versucht die britische Regierung den Fall auszunutzen, um eine Anklage gegen Russland zu konstruieren.

Am Montag setzte Premierministerin Theresa May Russland ein Ultimatum, das in der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch auslief, ohne dass Moskau den Forderungen Großbritanniens nachkam. Daraufhin kündigte May gestern Sanktionen an. Sie werde 23 russische Diplomaten ausweisen und Teile des russischen Staatsvermögens einfrieren lassen. Auch sollen einige Regierungsvertreter und Mitglieder des Königshauses nicht zur Fußballweltmeisterschaft reisen, die im Sommer in Russland stattfinden wird.

May hatte vor dem Ultimatum erklärt, wenn Moskau keine „glaubwürdige Antwort“ liefert, müsse sie daraus schließen, dass der „russische Staat rechtswidrig Gewalt gegen Großbritannien angewandt hat“. Während der Debatte im Parlament wurde May gedrängt, Artikel 4 des Nato-Vertrags anzuwenden. In diesem Falle wäre das Bündnis zu einer Krisensitzung gezwungen, um festzustellen, ob die „Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit“ eines Nato-Mitgliedstaats bedroht ist.

Bei diesen Fragen geht es um Krieg oder Frieden. Führende Nato-Vertreter versuchen offensichtlich, einen Vorwand für einen Krieg gegen Russland, eine der beiden größten Atommächte, zu konstruieren. Medienberichten zufolge wurde in herrschenden Kreisen in London auch über die Anwendung von Artikel 5 des Nato-Vertrags diskutiert. Der Bündnisfall verpflichtet alle Nato-Parteien, „im Falle eines bewaffneten Angriffs“ gegen ein Mitglied, „Beistand“ zu leisten, „indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“.

Diese drastischen Drohungen verschärfen die Gefahr eines Atomkriegs. Vor diesem Hintergrund muss man die Frage stellen, worauf die Vorwürfe, Moskau habe Skripal und seine Tochter vergiftet, basieren.

Die World Socialist Web Site hegt keine Sympathien für die kleptokratische Wirtschaftsoligarchie, die in Russland nach der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie 1991 entstanden ist. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Fraktion des russischen Geheimdienstes mit oder ohne Wissen von Präsident Wladimir Putin Skripal vergiftet hat.

Doch London und die Nato haben weder objektive Beweise für die Beteiligung des Kremls vorgebracht, noch ein entsprechendes Motiv für die Tat präsentiert. Die britische Regierung behauptet, der Kreml wolle Skripals Tod, weil er in den 1990er Jahren und frühen 2000er Jahre für Großbritannien spioniert hatte. Sie erklärt jedoch nicht, warum Russland Skripal nach seinem Schuldspruch wegen Spionage im Jahr 2006 nicht einfach hingerichtet, sondern ihn vier Jahre später im Austausch gegen in London gefangene Spione nach Großbritannien schickte.

Stattdessen hat sich ein einfaches Narrativ etabliert, um Moskau anzuklagen: Immer wenn ein Verbrechen gegen Länder oder Personen verübt wird, die der russischen Regierung feindlich gegenüber stehen, kommen die Nato-Regierungen und die Medien innerhalb weniger Stunden zu dem Schluss, dass dafür der Kreml verantwortlich sein muss.

In der internationalen Politik kann eine einfache und offensichtliche Antwort nie das komplexe Netz politischer und wirtschaftlicher Interessen enthüllen, das hinter einem Ereignis oder einer politischen Entscheidung steht. Wäre der Anschlag auf Skripal ein Spionageroman von John Le Carré, würden die bisherigen Vorwürfe gerade einmal die ersten zehn Seiten des Buches füllen, während sich die wirkliche Geschichte über die nächsten 400 Seiten entwickeln würde. In solchen Fällen muss man sich die Frage stellen, wie glaubwürdig der Ankläger ist, und vor allem, wer von der Tat profitiert.

Wer es für offensichtlich hält, dass Russland Skripal vergiftet hat, sollte sich an die Anthrax-Anschläge in den USA im Jahr 2001 kurz nach den Anschlägen vom 11. September erinnern. Damals erhielten mehrere US-Regierungsvertreter per Post einen tödlichen Stamm von Milzbranderregern, durch den fünf Menschen getötet und siebzehn weitere infiziert wurden. Auch damals machten die Medien sofort das Land verantwortlich, gegen das sich die Kriegsdrohungen der USA und Großbritannien richteten – den Irak. Die Behauptungen, das irakische Regime würde Massenvernichtungswaffen besitzen und Beziehungen zu Al-Qaida pflegen, erwiesen sich später als Lügen, die Washingtons außenpolitischen Interessen im Vorfeld des Irakkriegs dienten.

Nachdem die USA den Irak überfallen und besetzt hatten und sich herausstellte, dass es dort keine Massenvernichtungswaffen gab, wurde bekannt, dass das Anthrax, das in den Anschlägen verwendet worden war, auf Washingtons eigenes Massenvernichtungswaffenprogramm in Fort Detrick (Maryland) zurückging. Der amerikanische Wissenschaftler Steven Hatfill soll Gerüchten zufolge dafür verantwortlich gewesen sein, doch er wurde nach einer Untersuchung freigesprochen.

Bis heute ist nicht geklärt, welche amerikanischen Regierungsvertreter an der Durchführung der Anthrax-Anschläge beteiligt waren. Das FBI machte einen weiteren Wissenschaftler namens Bruce Edwards Ivins für den Anschlag verantwortlich. Dieser hatte 2008 Selbstmord begannen. 2010 beendete das FBI seine Ermittlung, doch wie die amerikanische National Academy of Sciences elf Jahre später herausfand, konnte die US-Regierung nicht ausreichend nachweisen, dass der eingesetzte Anthrax-Erreger von Ivins stammte.

Im Fall des Anschlags auf Skripal ist unklar, wie Moskau davon profitieren sollte. Die Attacke ereignete sich kurz vor der Wahl in Russland, die in dieser Woche stattfindet. Gleichzeitig verschärfen die Nato-Mächte ihre Konfrontation mit Russland, nachdem ihr Krieg für einen Regimewechsel in Syrien gescheitert ist. In den letzten Wochen wurden russische Söldner in Syrien von US-Truppen getötet. Für Putins Gegner in der Nato ist der Anschlag auf Skripal eine ideale diplomatische und politische Waffe, die sie gegen Russland einsetzen können.

Teile der britischen und europäischen herrschenden Klasse, die Kriegshysterie gegen Russland schüren, und Teile der amerikanischen herrschenden Elite, vor allem aus dem Umfeld der CIA und der Demokratischen Partei, profitieren viel eher von dem Giftanschlag als Moskau. Die Demokraten arbeiten eng mit der CIA zusammen, um Trump als angeblichen Agenten Russlands zu diskreditieren. Der Anschlag auf Skripal ermöglicht es diesen Teilen der Elite, enormen Druck auf rivalisierende Sektionen der europäischen herrschenden Klasse auszuüben. Vor allem Teile der französischen und deutschen Regierung fordern eine unabhängigere europäische Militärpolitik und engere Beziehungen zu Russland.

So veröffentlichte der ehemalige französische Präsident François Hollande am Montag in der Zeitung Le Monde einen scharfen und kaum verhohlen Angriff auf seinen Nachfolger Emmanuel Macron, der eng mit Berlin zusammenarbeitet. Er warf der Nato vor, ihre derzeitige Politik erlaube Moskau und der syrischen Regierung, „den Widerstand zu liquidieren und ihr eigenes Volk zu massakrieren“, und forderte eine Konfrontation mit Moskau: „Russland rüstet seit mehreren Jahren auf. Wenn Russland droht, muss es ebenfalls bedroht werden.“

Der ehemalige US-Außenminister Rex Tillerson erklärte am Dienstag, die USA hätten „volles Vertrauen“ in die britische Einschätzung des Anschlags. Doch kurz darauf widersprach er sich selbst, indem er erklärte, Russland sei nur „vermutlich verantwortlich“. Obwohl Trump ihn kurz nach diesen Äußerungen entließ, wiederholte er Tillersons Anschuldigungen gegen Russland und erklärte: „Wenn man alle vorliegenden Beweise in Betracht zieht, hört es sich für mich so an, als wenn es Russland gewesen sein könnte.“

Wenn man die politische Situation und die Erfahrung der Anthrax-Anschläge berücksichtigt, muss man im Fall Skripal Teile des britischen und amerikanischen Staates als Hauptverdächtige in Betracht ziehen.

Londons Vorwürfe gegen Russland basieren ausschließlich auf Analysen der Biowaffenforschungsanlage Porton Down, die zufällig nur sechzehn Kilometer von Salisbury entfernt liegt. Ursprünglich hatte Großbritannien behauptet, Skripal sei mit dem synthetischen Opioid vergiftet wurden, das deutlich stärker als Heroin ist. Am 7. März erklärten Vertreter der britischen Regierung jedoch, bei dem Gift habe es sich um ein Nervengas wie Sarin oder VX gehandelt. Dabei erklärten sie nicht, wie eine Einrichtung wie Porton Down, die seit Jahrzehnten auf die Produktion von Nervengas spezialisiert ist, ein solches Gas nach dem Einsatz nicht korrekt erkennen konnte.

Am Montag meinte May, das eingesetzte Nervengas sei in Wirklichkeit „Nowitschok“, eine besondere Chemiewaffe, die ursprünglich von der sowjetischen Regierung produziert wurde. Allerdings hat London Moskaus Forderung zurückgewiesen, ihr gemäß der Chemiewaffenkonvention (CWC) Proben der Substanz, die bei dem Anschlag in Salisbury benutzt wurde, zur Verfügung zu stellen. Bisher beruhen die Vorwürfe gegen Russland nur auf den Aussagen der Porton-Down-Forschungseinrichtung.

Doch Porton Down ist keine zuverlässige Quelle. Dort finden bereits seit langem illegale oder heimliche Tests mit biologischen und chemischen Waffen an britischen Staatsbürgern statt. So wurde von dort aus 1942 die Gruinard Island mit Milzbranderregern verseucht, bis sie 1986 von der britischen Regierung dekontaminiert wurde. 1953 wurde der Soldat Ronald Maddison bei einem Test mit Sarin-Gas getötet. Von 1963 bis 1975 wurden in der Lyme Bay biologische Waffen versprüht. Im Jahr 2008 zahlte die britische Regierung drei Millionen Pfund an die Opfer dieser Tests, ohne aber die Verantwortung zu übernehmen.

Die Vorwürfe, die diese Quellen jetzt im Fall Skripal gegen Russland erheben, sind in keiner Weise glaubwürdig. Nur eine vollständige, objektive und internationale öffentliche Untersuchung, deren Ergebnisse während der Ermittlungen veröffentlicht werden, kann die Wahrheit ans Licht bringen. Arbeiter in den USA, Europa und auf der ganzen Welt müssen der antirussischen Kriegshysterie der herrschenden Elite und der Gefahr einer offenen Konfrontation zwischen den beiden größten Atommächten der Welt entgegentreten.

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