Rechte Hetze gegen Flüchtlingshelfer auf dem Mittelmeer

Die Schließung der italienischen Häfen für die zivilen Rettungsschiffe durch den Lega-Innenminister Matteo Salvini geht mit Lügen und Verleumdungen über die NGO-Rettungsschiffe einher. Politiker und Journalisten versuchen, die freiwilligen Helfer zu isolieren und in der Bevölkerung Stimmung gegen sie zu machen.

Am 10. Juni verweigerte Salvini der „Aquarius“ mit 630 geretteten Schiffbrüchigen an Bord die Landung in Italien. Darauf brachte das Schiff der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen seine Passagiere auf einer gefährlichen und langwierigen Fahrt in das spanische Valencia. Wenige Tage später dehnte der Innenminister das Landeverbot auf alle NGO-Schiffe aus, und die Fünf-Sterne-Bewegung in der Regierung stimmte ausdrücklich zu.

Diese Entscheidung stellt eine offene Verletzung des internationalen Seerechts dar, das die Verpflichtung beinhaltet, Menschen in Seenot zu retten und in den nächstgelegenen, sicheren Hafen zu bringen. Die „Aquarius“ hat nichts anderes getan, als diese Pflicht zu erfüllen: Sie hat schiffbrüchige Menschen gerettet. Diese Menschen waren zuvor aus Libyen geflohen, wo sie übelsten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt waren. In internationalen Gewässern vor der libyschen Küste waren sie in Seenot geraten, und hätte die Crew der „Aquarius“ sie nicht rechtzeitig gefunden, wären sie ertrunken.

Gerettet. 25. Mai 2018 (Chris Grodotzki / Sea-Watch.org)

Auf dem Mittelmeer spielt sich seit Jahren eine unermessliche Tragödie ab. Allein in den letzten vier Jahren sind nach Schätzung von SOS-Méditerranée über 13.000 Menschen ertrunken. Ärzte ohne Grenzen dokumentieren seit Anfang 2018 mehr als 500 Ertrunkene. Dass nicht noch mehr Menschen auf diese Weise umkommen, ist den NGO-Schiffen zu verdanken, die in den letzten Jahren Zehntausenden das Leben gerettet haben.

Aber damit haben sich die NGO-Schiffe vor der libyschen Küste in direkten Konflikt zur offiziellen Politik Italiens, Deutschlands und der ganzen EU gebracht. Die Regierungen sind gerade dabei, die Außengrenzen Europas komplett dicht zu machen und die verzweifelten Geflüchteten zurück nach Nordafrika zu deportieren. Dort will die EU neue, so genannte „Hotspots“ finanzieren, die nichts anderes als Konzentrationslager für Hunderttausende gestrandete Flüchtlinge sein werden. Gleichzeitig bezahlen Italien und die EU die libysche Küstenwache dafür, dass sie die Flüchtlinge abfängt und zurück nach Libyen schleppt, wo die Menschen weiterhin der Folter und Todesgefahr ausgesetzt sind.

Das bestätigte am Montag auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), als sie Italien anlässlich des Besuchs des neuen italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte in Berlin ausdrücklich die „Solidarität“ der deutschen Regierung zusagte. Merkel zählte die Themen auf, um die es jetzt gehe, und sagte: „Wie kommen wir zu einer stabilen Regierung in Libyen, wie können wir die Küstenwache Libyens besser ausbilden, wie können wir gegebenenfalls dort auch schon asylrechtliche Verfahren durchführen?“ In diesen Fragen wolle sie sehr eng mit der italienischen Regierung zusammenarbeiten. „Völlig einig“ seien sich Italien und Deutschland „im Bereich des Schutzes der Außengrenze: dass Frontex hier weiter verstärkt werden muss.“

Das Mittelmeer betrachten die imperialistischen Mächte als Aufmarschgebiet für ihre Kriege im Nahen Osten und in Nordafrika. Dort kreuzen mittlerweile zahlreiche Schiffe der italienischen, amerikanischen, britischen und deutschen Marine im Rahmen der Nato-Antiterror-Mission, der EU-Mission „Sophia“, der Bundeswehr-Mission „Sea Garden“ oder von Frontex.

Dieser Politik und diesem militaristischen Aufmarsch sind die Schiffe der NGO-Seenotretter offensichtlich im Weg. Das ist der Grund, warum die freiwilligen Helfer immer stärker unter Druck gesetzt und abgedrängt werden. Gleichzeitig beschimpfen die Politiker sie als Menschenschmuggler und machen sie für die Situation der Flüchtlinge verantwortlich.

Den Auftakt bildete Salvini selbst, der die NGO-Schiffe mit dem Menschenhandel in Verbindung brachte. Auf Twitter erklärte er am Tag seiner Entscheidung, die Häfen zu schließen: „Ab heute sagt auch Italien Nein zum Menschenhandel.“ Am 17. Juni teilte Salvini auf Facebook mit, Italien werde „kein Komplize beim Geschäft mit der illegalen Einwanderung“ mehr sein, und beschuldigte die NGOs, mit den Schleppern zusammenzuarbeiten.

Transportminister Danilo Toninelli von der Fünf-Sterne-Bewegung (MoVimento 5 Stelle, M5S) twitterte, dass die Anwesenheit der NGO-Schiffe „Seefuchs“ und „Lifeline“ in libyschen Gewässern eine gefährliche Situation herbeiführe. Diese Schiffe, die von den deutschen NGOs „Sea-Eye“ und „Mission Lifeline“ genutzt werden, operieren unter niederländischer Flagge. Toninelli forderte Holland auf, die Schiffe zurückrufen. Schon im Wahlkampf hatte der Parteichef und Vizepremier Luigi Di Maio (M5S) die NGO-Schiffe als „Taxi des Meeres“ bezeichnet und behauptet, es sei unklar, wie sie sich finanzierten.

Am 17. Juni behauptete der sizilianische Staatsanwalt Carmelo Zuccaro am Rande einer Konferenz in Catania zum Thema Migration: „Die NGO sind Teil eines zutiefst verfehlten Systems, das die Tore nach Europa den Menschenhändlern überlässt, die skrupellose Verbrecher sind.“ Schon zuvor hatte Zuccaro den Vorwurf erhoben, Flüchtlingshelfer würden sich als Schlepper betätigen.

Diese Unterstellung, die NGOs machten gemeinsame Sache mit den Schmugglern und Menschenhändlern, ist eine atemberaubende Lüge. Bei den Ermittlungen, die Zuccaro seit Februar 2017 gegen die NGOs führt, ist bisher nicht das Geringste herausgekommen. Seither verlegt er sich auf die Behauptung, dass allein schon die Gegenwart von NGO-Schiffen vor der libyschen Küste einen so genannten „Pull-Faktor“ darstelle, d.h. dazu beitrage, dass mehr Menschen die gefährliche Überfahrt riskierten.

Auch deutsche Medien greifen solche und ähnliche Lügen auf. In Deutschland findet seit Wochen eine beispiellose Hetzkampagne gegen Flüchtlinge und Einwanderer statt, die auch all diejenigen kriminalisiert, die den Geflüchteten Sympathie und Hilfe entgegenbringen. „Anti-Abschiebeindustrie“, so lautet die zynische Bezeichnung von Alexander Dobrindt (CSU) für die Flüchtlingshelfer und freiwilligen Übersetzer, Anwälte, Ärzte, Seenotretter und andere Helfer.

Die CDU-Politikerin Barbara John äußerte sich in einem Tagesspiegel-Kommentar vom 17. Juni mit dem Titel: „Wollen die Flüchtlingsretter die Rückkehr nach Afrika verhindern?“. Sie kritisiert darin die Crew der „Aquarius“, weil sie „das viel näher gelegene Tunis erst gar nicht angesteuert“ habe. John geht mit keinem Wort auf das offizielle Zurückweisungsverbot nach Tunesien ein, das auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof bestätigt hat. Empört wirft sie die Frage auf: „Geht es den Rettern etwa nur um die Schleusung in ein europäisches Asyl?“

Die der SPD nahestehende Zeit erhob am 12. Juni die groteske Behauptung, die Menschenrechtler in den NGOs seien für den Wahlsieg der Rechten in Italien verantwortlich. In einem Kommentar mit dem Titel „Das Gute, das Böse und dazwischen Salvini“ wirft Ulrich Ladurner dort die Frage auf, „was eigentlich jene Europäer den Italienern anzubieten haben, die sich selbst als Nicht-Rassisten sehen, als Idealisten und Verteidiger der Menschenrechte?“ Die NGOs „sollten mitbedenken, welche Folgen es für Italien hat, wenn mit ihrer Hilfe Hunderttausende Menschen an den Küsten ankommen.“

Dann wirft Ladurner den NGOs vor, dass sie den Verhaltenskodex des früheren PD-Innenministers Marco Minniti scharf kritisiert und seinen Deal mit den libyschen Milizen „in die Nähe des Faschismus und Rassismus gerückt“ hätten. „Dabei hatte er nichts anderes als Realpolitik gemacht“, so der Autor. Er fährt fort: „Bevor Menschenrechtler nun ihre ganze Energie darauf verschwenden, den neuen italienischen Innenminister Salvini wegen seiner Härte anzugreifen, sollten sie sich fragen, wie sehr sie durch ihren apolitischen Idealismus erst zu seinem Erfolg beigetragen haben. Sie haben Minniti beschimpft, anstatt anzuerkennen, dass die Arbeit der NGOs koordiniert werden muss (…) Nun ist Salvini Innenminister, und sie müssten erkennen, dass ihr Anteil an seinem Aufstieg so klein nicht ist.“

Das ist wirklich atemberaubender Zynismus! Demnach gelten das internationale Seerecht und die UN-Menschenrechtskonvention nur noch für „apolitische Idealisten“, und der schmutzige Deal Italiens und der EU mit den libyschen Folterknechten ist „nichts anderes als Realpolitik“. Den NGOs wird die Verantwortung dafür angelastet, dass „Hunderttausende Menschen an den Küsten ankommen“. Diese Tirade stellt wahrhaftig die Realität auf den Kopf.

Es ist vollkommen unsinnig zu behaupten, die Flüchtlinge würden die Schlauchboote nur besteigen, weil die eventuell mögliche Rettung durch ein NGO-Schiff einen attraktiven „Pull-Faktor“ für sie darstelle. Die Menschen wissen genau, dass sie ertrinken können. „Wir sind dort draußen nur, weil es keine sicheren und legalen Wege nach Europa gibt“, erklärte Ruben Neugebauer, Pressesprecher der Sea-Watch.

Die Flüchtlinge versuchen verzweifelt, der absolut mörderischen Situation in Libyen zu entkommen. Dort leben heute rivalisierende Milizen vom blühenden Geschäft mit Entführungen und Lösegelderpressung. Die EU billigt und unterstützt ein ausgedehntes Gefängnisnetz, um die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten. Der Nato-Krieg von 2011, der eine funktionierende Gesellschaft zerstörte und völlig destabilisierte, hat das Land für Flüchtlinge in eine Hölle verwandelt.

Die Website der Organisation Sea-Watch dokumentiert den Bericht eines 25-jährigen Äthiopiers, der aus politischen Gründen sein Land verlassen hatte. Er war bei Bani Walid in Gefangenschaft geraten und hatte zehn Monate in einem libyschen Foltergefängnis verbracht. Wie er berichtet, war er zusammen mit etwa 500 Menschen eingesperrt, und er erlebte, wie 82 Menschen sterben, einer nach dem andern. „Wir wurden gezwungen, Massengräber in der Wüste zu graben, um die Leichen der Menschen zu begraben, die allmählich starben (…) Bis sich mindestens drei Leichen in dem Raum befanden, in dem wir zusammengepfercht waren, wurden die Leichen nicht wegbracht.“

Derselbe junge Mann bestätigte auch die kursierenden Berichte über Sklavenmärkte. Es sind besondere Treffpunkte, wohin die Menschen in Gruppen von 10 bis 40 Personen gebracht werden. Sie werden nach Nationalität eingeteilt und für 200 bis 800 libysche Dinar verkauft. „Sie verkaufen uns wie Ziegen“, so der Mann. Am 21. April 2018 wurde er von SeaWatch-3 gerettet. Es war sein dritter Versuch, auf dem Seeweg aus Libyen zu entkommen.

Die aktuelle wütende Hetzkampagne gegen die NGOs ist der Tatsache geschuldet, dass die freiwilligen Helfer in der Bevölkerung große Sympathie und Unterstützung genießen, weil sie die einzigen sind, die den bedrängten und vom Tod bedrohten Flüchtlingen zu Hilfe eilen.

Während Politiker und Journalisten alle Prinzipien fallenlassen und sich auf die Seite Salvinis stellen, reagiert ein wachsender Teil der Bevölkerung völlig entgegengesetzt und sucht nach einer Möglichkeit, den Kampf dagegen aufzunehmen. Das zeigen Demonstrationen wie der Massenprotest „Nie wieder!“ von 70.000 gegen die AfD in Berlin oder die jüngsten Proteste unter dem Motto „Öffnet die Häfen“ in Italien.

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