Bayern: Kommunen und Gewerkschaften schreiben Bedingungen im Nahverkehr auf Jahre hinaus fest

Der bayrische Kommunale Arbeitgeberverband (KAV) und die Gewerkschaften Verdi und NahVG haben sich am 22. Juni auf einen neuen Manteltarif- und Lohntarifvertrag verständigt. Sie schreiben damit für tausende Fahrer im öffentlichen Personennahverkehr die aktuellen, von Stress und Niedriglohn geprägten Bedingungen auf Jahre hinaus fest.

Der Vertrag gilt für rund 6300 Beschäftigte im öffentlichen Personennahverkehr in den bayrischen Städten und Gemeinden. In München bejubeln ihn sowohl die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi als auch die Spartengewerkschaft NahVG als „guten Abschluss“. So lobte Norbert Flach, Tarifexperte von Verdi, damit werde „ein guter Schritt nach vorne gemacht“. Die NahVG hat dem Angebot sogar schon früher als Verdi zugestimmt, weil es „so nah an der Erfüllung der Forderungspunkte der NahVG [sei], dass es sträflich gewesen wäre, es abzulehnen“.

In Wirklichkeit verbessert der neue Vertrag die Situation der Fahrer in keiner Weise. Er sieht gerade mal eine Lohnerhöhung von 3,19% ab Juni 2018 und weitere 3,3% ab 1. Juli 2019 vor. Er orientiert sich stark am Ergebnis in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes im April 2018, das ganz bewusst aus Rücksicht auf die Große Koalition in Berlin Zurückhaltung übte und einen Arbeitskampf durch 30 Monate Tariffrieden von vorneherein unmöglich macht. Die WSWS schrieb dazu: „Verdi schließt die Reihen mit der Regierung.“

Auch der neue Manteltarifvertrag in Bayern läuft 27 Monate lang, bis Ende August 2020, was bedeutet, dass in dieser Zeit kein Arbeitskampf geführt werden darf. Dies in einer Situation, in der sich der Stress für die Fahrer in Städten wie München, Nürnberg oder Augsburg täglich steigert, während wenig neue Fahrer eingestellt werden. Auch sind in München die Mieten mittlerweile fast unbezahlbar, so dass vielen Fahrern mit Familie kaum genug zum Überleben bleibt.

Besonders für die unteren Lohngruppen erfüllt der neue Vertrag trotz gegenteiliger Behauptungen nicht einmal die bescheidenen Forderungen der Gewerkschaften. Beide Gewerkschaften hatten einen sofortigen Sockelbetrag von mindestens 200 Euro gefordert. Die allermeisten Fahrer sind in Lohngruppen zwischen 2200 und 2800 Euro eingruppiert, und mit dem Ergebnis von 3,19% werden sie lediglich eine Bruttolohnerhöhung von 70 bis 90 Euro – einen Tropfen auf den heißen Stein – erhalten.

Die Gewerkschaften preisen speziell auch die Möglichkeit im neuen Manteltarifvertrag an, ab 2020 einen Teil der Lohnerhöhung gegen fünf Tage mehr Urlaub einzutauschen. Sie glauben wohl, dass die Arbeiter nicht rechnen können. Um diesen Zusatzurlaub zu bekommen, muss man auf 2,5% des Monatslohns verzichten, was aufs Jahr gerechnet deutlich mehr Geld ist, als man in den fünf Tagen sonst verdienen würde. Das Ganze läuft auf ein recht teuer erkauftes Freizeitangebot hinaus!

Für viele Fahrer, die schon eine Zeitlang dabei sind, ist es keine Überraschung, dass die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi sich auf einen derartigen Ausverkauf einlässt und noch dazu versucht, ihn als „guten Abschluss“ zu verkaufen. In München zum Beispiel sitzen die Verdi-Betriebsräte in allen unternehmerischen Aufsichtsgremien. Seit Jahren begleiten sie den Prozess der Deregulierung der Stadtwerke (SWM), der mit Lohnsenkung und Arbeitsverdichtung einhergeht.

Die Münchner Stadtwerke sind eins der europaweit größten kommunalen Versorgungs- und Dienstleistungsunternehmen mit über 9000 Beschäftigten. Sie wurden seit 1998 in eine GmbH im Besitz der Stadt München umgewandelt. Alle Teilbereiche wurden systematisch in selbständige Töchter transformiert, die eigenprofitabel wirtschaften müssen. In diesem Zusammenhang wurde 2012 die Münchner Verkehrsgesellschaft MVG zum selbständigen Unternehmen, das seinerseits private Partnerfirmen beschäftigt.

Seither werden alle neuen Bus-, Tram- und U-Bahn-Fahrer über die MVG eingestellt, während nur noch wenige Fahrer direkt bei der SWM beschäftigt sind. Nur für diese letzteren Fahrer und SWM-Nahverkehrs-Mitarbeiter gilt der neu verhandelte Tarifvertrag. Für alle MVG-Beschäftigten läuft dagegen ein eigener Haustarifvertrag, der erst im Sommer 2019 ausläuft, und für die Beschäftigten privater Subunternehmer gelten wiederum andere, noch schlechtere Verträge. Einer Mitteilung der MVG vom 13. Juni zufolge ist bereits jeder zweite Busfahrer bei einem „Kooperationspartner ohne Tarifbindung“ beschäftigt.

Diesen Prozess der Deregulierung auf Kosten der Mitarbeiter hat Verdi von Anfang an mit organisiert und mitgetragen. Deshalb stößt die Dienstleistungsgewerkschaft bei den Fahrern im öffentlichen Nahverkehr in wachsendem Maß auf Misstrauen und Ablehnung.

Der Konflikt mit Verdi hat eine lange Geschichte. Vor zehn Jahren führte die Wut über die fortgesetzte Kollaboration von Verdi dazu, dass viele Arbeiter sich von ihr abwandten und in die GDL, die Spartengewerkschaft der Lokführer, eintraten, welche Ende 2012 in die NahVG überging.

In den Tarifverhandlungen im Jahr 2010, als Verdi das Angebot des Arbeitgebers annahm, weigerte sich die damalige GDL (heute NahVG) zu unterschreiben und rief zum Streik auf. Bei der Neugründung der MVG versuchte Verdi deshalb, sich gegen die NahVG eine Art Hausmacht zu sichern, indem sie sich im ersten MVG-spezifischen Haustarifvertrag eine Klausel ausbat, die den Verdi-Mitgliedern ein monatliches Extra von 50 Euro garantiert, das jeweils am Jahresende als 600-Euro-Verdi-Bonus ausbezahlt wird.

Doch auch die Spartengewerkschaften sind dazu keine Alternative. Sie gründen ihre Taktik auf dieselbe kapitalistische Logik wie die DGB-Gewerkschaften. So lässt sich NahVG zum Beispiel in den Tarifverhandlungen vom staatstreuen Deutschen Beamtenbund dbb vertreten. Spätestens 2015 wurde deutlich, dass sie als Gewerkschaft genauso auf der Seite der Arbeitgeber steht wie Verdi.

2015 stellte die NahVG fest, dass die Teilzeitbeschäftigten bei der Schichtzulage nicht gemäß des Tarifvertrages bezahlt werden. Obwohl mehrere Kollegen Klage eingereicht hatten, unterschrieb die NahVG dennoch den Tarifvertrag 2016, in dem der Ausverkauf der Teilzeitbeschäftigten verankert wurde. Die Kollegen erhielten vor Gericht zwar Recht – aber der neue Tarifvertrag fiel ihnen in den Rücken!

In den letzten Jahren entpuppte sich NahVG mehr und mehr als neue Verdi, bzw. als Gewerkschaft, die mit beiden Beinen im Lager der Arbeitgeber steht. Dies hat sich im jüngsten Tarifkampf sehr klar gezeigt.

In diesen Verhandlungen war sie in ihren Forderungen kaum von der Dienstleistungsgewerkschaft zu unterscheiden. Wo Verdi 7% forderte, forderte NahVG 8%, dafür betrug ihr geforderter Sockelbetrag 200 Euro, während Verdi einen Sockelbetrag von 220 Euro forderte. In der Laufzeit ging NahVG sogar von Anfang an von zwei Jahren aus – im Unterschied zu Verdi, die ursprünglich eine 12-monatige Laufzeit forderte.

Als Verdi für den 14. Juni zu einem äußerst schwachen, gerade mal vierstündigen, unbezahlten „Signalstreik“ in den ruhigen Morgenstunden aufrief, ging dies der NahVG schon zu weit. Sie griff den Warnstreik von rechts an und rief ihre Mitglieder zum Streikbruch auf mit der wörtlichen Begründung: „Es sind nicht eure Forderungen, und wer geht schon für die Forderungen des Anderen auf die Straße?“

Nur wenige Stunden später akzeptierte die NahVG das Verhandlungsergebnis. Am 16. Juni teilte sie ihren Mitgliedern mit, dass sie sich „in den Abendstunden“ des 15.06. mit dem Arbeitgeber geeinigt habe. Stolz schrieb die NahVG, das Ergebnis sei „ohne Stress, ohne Ärger und vor allem ohne Arbeitskampfmaßnahmen“ erreicht worden.

Damit hat sich die NahVG öffentlich als Handlanger der Unternehmensführung gezeigt. Sie ist auf dem besten Weg, in die Fußstapfen von Verdi zu treten.

Beide Gewerkschaften sorgen bewusst dafür, dass die Fahrer und alle andern Arbeiter niemals einen gemeinsamen, umfassenden Arbeitskampf organisieren können. Dies hat sich in diesem Jahr sehr deutlich gezeigt. Anfang des Jahres hatten die Metallarbeiter Warnstreiks durchgeführt, die die Unternehmer durch ihre starke Beteiligung und Militanz überraschten. Doch Verdi wartete ab, bis die Metallerstreiks durch einen faulen Abschluss abgewürgt wurden, ehe sie begann, Warnstreiks im öffentlichen Dienst zu organisieren. Auch diese wurden ohne wirksames Ergebnis erstickt und ausgetreten, mit Rücksicht auf die neue Regierungskoalition in Berlin, die im April ins Amt trat.

Erst danach wurden die Tarifforderungen für den bayrischen Nahverkehr vorgebracht. Der dbb kündigte den Manteltarif, der am 31. Mai auslief, und machte am 19. April die Forderungen der NahVG bekannt. Es war derselbe Tag, an dem Verdi das Tarifergebnis für den öffentlichen Dienst (TVöD) annahm und die Warnstreiks in diesem Bereich beendete. Der Tarifkampf für die meisten Münchner Bus-, Tram- und U-Bahn-Fahrer wiederum wird erst im nächsten Jahr aktuell werden.

Dies alles zeigt deutlich, auf welche Art und Weise die Gewerkschaften die Arbeiter spalten, ihre Kämpfe isolieren und sie in eine ausweglose Sackgasse führen. Das ist eine allgemeine und internationale Entwicklung. Das Programm der Gewerkschaften war stets darauf ausgerichtet, mit den Unternehmern im Rahmen des Nationalstaats einen Ausgleich zu erzielen. Die Globalisierung der Produktion hat dieser nationalen Perspektive vor Jahrzenten den Boden entzogen. Die Gewerkschaften haben darauf reagiert, indem sie sich in Co-Manager verwandelt haben und ihre Aufgabe ganz wie die Unternehmer darin sehen, die Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität der deutschen Wirtschaft auf Kosten der Arbeiter zu erhalten.

Auch die soziale Stellung der Gewerkschaftsfunktionäre hat sich immer weiter von der der Arbeiter entfernt. Viele verdienen mehrere Male so viel wie die Mitglieder, die sie angeblich vertreten. Hinzu kommen lukrative Posten in Aufsichtsräten und anderen Gremien. Oft dient ihnen die Gewerkschaft nur als Sprungbrett für lukrative Spitzenjobs in den Vorständen von Unternehmen oder privatisierten Kommunalbetrieben. Im öffentlichen Dienst kommt hinzu, dass viele Gewerkschaftsfunktionäre derselben Partei angehören wie die Mitglieder der Kommunal- oder Landesregierung und häufig von einer Seite auf die andere wechseln.

Um ihre Rechte und Errungenschaften zu verteidigen und wirksame Arbeitskämpfe zu organisieren, müssen sich Arbeiter in Aktionskomitees organisieren, die unabhängig von allen Gewerkschaften und Unternehmergremien arbeiten. Sie müssen sich weltweit zusammenschließen und auf die Solidarität der internationalen Arbeiterklasse bauen, und nicht auf die kapitalistischen, national basierten Gewerkschaften.

Für diese Perspektive kämpfen nur das Internationale Komitee der Vierten Internationale und seine deutsche Sektion, die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP). Nur sie vertreten eine sozialistische und internationale Perspektive, die den Widerstand gegen den sozialen Niedergang und die weltweite Kriegsgefahr mit dem Kampf gegen ihre Ursache, den Kapitalismus, verbindet.

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