Zehntausende protestieren gegen rechtsradikalen Terror in Chemnitz

Nach den Neonazi-Ausschreitungen in Chemnitz in der letzten Woche protestierten in ganz Deutschland Zehntausende gegen Rechts. In Berlin gingen am Donnerstag in Neukölln etwa 10.000 Arbeiter und Jugendliche spontan auf die Straße. Am Freitag versammelten sich mehrere hundert Demonstranten vor der Sächsischen Landesvertretung in der Hauptstadt. Auch in anderen Städten, darunter Frankfurt und Chemnitz, protestierten viele Tausende.

In Berlin sprachen Reporter der World Socialist Web Site mit Stefan, 29, der in Potsdam studiert, aber ursprünglich aus Chemnitz stammt: „Ich war am Wochenende nicht vor Ort, aber ich bin in Chemnitz geboren. Das rückt sehr nah an einen heran, wenn man die Stadt kennt und sieht, was sich dort für Szenen abspielen. Das ist ein neuer Höhepunkt einer Jahrzehnte andauernden Entwicklung. Es hat mich einfach wahnsinnig schockiert, ein Gefühl der Hilflosigkeit hinterlassen. Deswegen bin ich heute hier, um ein Zeichen zu setzen.“

Stefan

Er stehe „für eine Welt und für ein Land, in dem Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe und ihrem Glauben zusammenleben können. Eine Welt, in der Menschen friedlich miteinander kooperieren und nicht in Hass leben müssen“, sagt Stefan. Deswegen sei er heute hier und zeige Präsenz. „Denn ich glaube, wenn man jetzt nicht anfängt, sich einzusetzen, dann ist es irgendwann zu spät und ich möchte mir später nicht vorwerfen müssen, nicht dagewesen zu sein, als es darauf ankam.“

Er sehe „Parallelen“ zu den 1920er und 1930er Jahren, die ihn sehr beunruhigten. „Wenn man sich die Geschichte der NSDAP ansieht hat sie mal als ganz kleiner Haufen angefangen, der als brauner Mob verschrien war. Dann hat es zehn Jahre gedauert, bis diese Partei an die Macht gekommen ist. Zehn Jahre ist eine sehr lange Zeit und man hat diese Partei sehr lange unterschätzt und ich glaube, dass wir jetzt hier die Gelegenheit haben das zu verhindern.“ Er habe die „ganz große Angst, dass wenn man jetzt nicht entschieden dagegen vorgeht, dass sich so etwas wiederholen kann.“

Auf die engen Verflechtungen zwischen Rechtsextremisten, Polizei und Regierung gerade in Sachsen angesprochen, erklärt Stefan: „Ich bin 2015 bei den Gegenprotesten von Pegida dabei gewesen und eines ist von Anfang an immer klar gewesen: Wenn man sich angesehen hat, wie die Polizei gehandelt hat, wusste man, auf welcher Seite einige Beamte innerlich stehen. Dass es da eine rechte Tendenz gibt, ist ganz klar. Ich denke auch, dass der Staatsapparat in Sachsen und die Polizei und die Behörden an sich eine magnetische Anziehungskraft haben für Leute mit diesem Gedankengut. Und das beschränkt sich nicht nur auf Sachsen. Ich glaube, dass sich nationalistisches Gedankengut und staatliche Institutionen sehr gut vereinbaren lassen, weil diese staatlichen Institutionen ja eben für die Erhaltung des Nationalstaats stehen.“

Das Publikum auf dem Konzert in Frankfurt

In Frankfurt am Main nahmen am Antikriegstag am 1. September über 10.000 Menschen an einem „Rock gegen Rechts“-Konzert auf dem Opernplatz teil.

Dennis aus Offenbach sagt zu dem Naziaufmarsch in Chemnitz: „So was darf überhaupt nicht passieren. Die AfD ist eine eindeutig menschenfeindliche Partei.“ Einen wichtigen Grund für das Aufkommen der Nazis sieht der Student, der nebenher als selbständiger Sporterzieher arbeitet, in der Politik der Großen Koalition. Besonders die Beteiligung der SPD daran, ist für ihn „eine riesige Enttäuschung. Momentan präsentieren sie sich im [hessischen Landtags-]Wahlkampf als Verfechter sozialer Werte. Aber in Realität setzen sie nichts davon um, sondern machen in der Großen Koalition alles mit, um an der Macht zu bleiben. Dadurch sind sie daran mitschuldig, was passiert.“ Besonders übel findet Dennis die Flüchtlingspolitik der Großen Koalition. „Wir müssen ganz klar sagen: Wir wollen das nicht, dass jetzt überall Ankerzentren errichtet werden. Wir wollen, dass Menschen wie Menschen behandelt werden, aber nicht wie Probleme.“

Aaron

Aaron, der gerade sein Abi absolviert hat, findet das Auftreten der Neonazis beängstigend. „Sie nutzen den Mord an einem Unschuldigen dazu aus, um ihre rechte Ideologie zu verbreiten. Aber wir dürfen der rechten Hetze keinen Platz einräumen. Gerade in Deutschland sollte man das besser wissen, wir haben alle gesehen, wo das hinführt.“ Über Chemnitz sagt Aaron: „Man konnte sehen, dass diese Kräfte stundenlang freie Hand hatten. Offenbar hat die Polizei nichts aktiv dagegen unternommen.“ Zum Vergleich solle man sich nur ansehen, „was letztes Jahr beim G20-Gipfel in Hamburg passierte, und wie die Polizei dort gegen die Linken vorging. In Chemnitz hatten die Rechten alle Freiheiten.“

Anne und Tim

Anne und Tim sind extra zum Konzert nach Frankfurt gekommen. „Es ist jetzt wichtig, gegen rechts aufzutreten!“ betont Anne, die in Mainz studiert. Auch Tim, der aus einem kleinen Ort in Nordhessen kommt, findet es wichtig, „etwas gegen die Rassisten zu tun. Bei uns auf dem Dorf gibt es – leider – davon noch zu viele“, so Tim. An der Regierungskoalition stört die beiden, „dass unser Staat so viel für das Militär ausgibt“. Das sei „ein Unding“, sagt Anne. „Die ganze Vorbereitung auf neue Kriege – das ist die falsche Richtung. Es geht ihnen nur um die Kontrolle über Ressourcen. Mir kann keiner erzählen, dass es humanistische Gründe seien. Sonst könnten sie ja als erstes die Menschen im Mittelmeer retten. Das will aber keiner.“ Tim ergänzt: „Erst verkaufen sie tödliche Waffen in alle Welt – und dann beschweren sie sich darüber, dass es Flüchtlinge gibt.“

In Chemnitz blockierten am Samstag tausende Menschen einen sogenannten „Trauermarsch“ der Rechtsextremen, bei dem es erneut zu gewaltsamen Übergriffen auf Journalisten und linke Demonstranten kam.

Reporter der World Socialist Web Site und Vertreter der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) vor Ort sprachen mit Herta (50), aus der Nähe von Chemnitz: „Es ist eine Schande, dass die Rechten hier so marschieren können. Wir wollen zeigen, dass auch viele Menschen dagegen sind.“ Die etablierten Parteien hätten zwar zu den Protesten gegen Rechts aufgerufen, würde aber in Wirklichkeit „nichts gegen die Nazis machen“. Auf die Frage, bei wem sie die Verantwortung für das aggressive Auftreten der Rechtsextremen sieht, antwortete Herta: „Die CDU macht die selbe Politik wie die AfD, da muss man sich nicht wundern.“

Marvin (18) kam mit Freunden aus Dresden zur Demo. Es darf nicht sein, dass Nazis hier Menschen durch die Stadt jagen. „Ich habe Angst, dass es hier wie unter Hitler wird.“ Vielen jungen Leuten, die er kennt, gehe es genauso. Er ist empört über die Polizei, die nichts tue, um Ausländer und Flüchtlinge zu schützen. „Obwohl die AfD-Demo groß ist, glaube ich, die meisten sind hier gegen die AfD.“ Wenn es zu weiteren Demos gegen rechts kommt, wollen sie auf jeden Fall wieder auf die Straße gehen.

Am heutigen Montag ist ein „Rock gegen Rechts“-Konzert in Chemnitz geplant, mit bekannten Bands wie den Toten Hosen und Kraftklub geplant, zu dem Zehntausende erwartet werden. Auf Facebook haben bereits mehr als 30.000 ihr Kommen angekündigt, weit über 100.000 haben sich mit dem Event solidarisiert. Mitglieder der SGP und ihrer Jugend- und Studierendenorganisation IYSSE werden in Chemnitz und in vielen anderen Städten, wo weitere Demonstrationen gegen Rechts geplant sind, vor Ort sein, um die Notwendigkeit eines sozialistischen Programms gegen Kapitalismus, Faschismus und Krieg zu diskutieren.

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