Frankreich: Zweite „Gelbwesten“-Versammlung in Commercy

Am 21. Dezember reisten WSWS-Reporter in die Stadt Commercy im Nordosten Frankreichs, um an der zweiten außerordentlichen Versammlung der „Gelbwesten“ teilzunehmen. Über 100 Arbeiter, Freiberufler, Kleinunternehmer und Arbeitslose versammelten sich, um über die weiteren Perspektiven im Kampf gegen den französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu diskutieren.

Diese Versammlung stellte eine wichtige Erfahrung für die internationale Arbeiterklasse dar: Die „Gelbwesten“ hatten sie gegen das gesamte politische Establishment und völlig unabhängig von jeglicher Gewerkschaftsbürokratie organisiert. So zeigt die Versammlung beispielhaft, wie Arbeiter und ihnen nahestehende unterdrückte Schichten sich den Gewerkschaftsbürokraten und kapitalistischen Politikern entziehen können, um ihre Kämpfe selbst in die Hand zu nehmen. Wenn sich solche Versammlungen in ganz Frankreich und Europa ausbreiten, und wenn die marxistische Vorhut ihnen eine revolutionäre Perspektive bietet, dann könnten sie der Arbeiterklasse als Organe dienen, um die Staatsmacht zu übernehmen.

Trotz der Verleumdungen der Medien, die die „Gelbwesten“ als ignorante und zerstörerische Krawallmacher denunzieren, haben diese in Commercy eine dreistündige, intensive Diskussion vor allem über zwei Fragen organisiert: Erstens welcher Art Macrons angebliche Zugeständnisse seien, mit denen er versucht, die Bewegung zu stoppen, und zweitens, welche Perspektive notwendig sei, damit die Bevölkerung selbst die Macht ausüben könne.

Als erstes wurde ein Video vorgeführt, das Macrons angebliches Versprechen, den Mindestlohn anzuheben, akribisch zerpflückte. Diese Maßnahme ist in Wirklichkeit temporär, besteht aus ansteigenden Boni und wird über Schulden sowie Ausgabenkürzungen im öffentlichen Sektor gegenfinanziert. Da Macron zudem die Reichensteuer immer noch weiter senkt und zig Milliarden Euro Steuerzuschüsse an Unternehmen verteilt, bleiben seine Versprechen, wie das Video aufzeigte, bei weitem unzureichend. Dieser Meinung waren die meisten Versammlungsteilnehmer.

In der darauffolgenden Diskussion ging es um taktische Fragen: Soll man zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Paris demonstrieren, oder soll man „Beschwerdebriefe“ an Macron schicken? Für beides gab es Anträge. Auch kritisierten die „Gilets Jaunes“ Macron, weil er die sozialen und demokratischen Rechte aus der Verfassung von 1946 (nach der Befreiung von der Nazi-Besetzung) mit Füßen trete. Mit dem Vorschlag eines Bürgerinitiativen-Referendums (RIC) forderten einige das Recht, Gesetze einzuführen und abzuschaffen, Beamte abzusetzen und die Verfassung unabhängig von der Französischen Nationalversammlung abzuändern.

Als ein Gewerkschaftsvertreter sich meldete und vorschlug, aus Umweltgründen müsse man eine stärkere Besteuerung der Importe aus entfernten Regionen fordern, wies die Versammlungsmehrheit dies zurück. Mehrere Teilnehmer betonten, allein schon aus Kostengründen sei es nicht praktikabel, nur noch „französisch zu kaufen“.

Die Diskussion wandte sich dann der Frage der Machtübertragung an die Bevölkerung zu. Ein Sprecher umriss verschiedene Beispiele regionaler Selbstverwaltung: die Pariser Kommune von 1871, die indigene Selbstverwaltung der Chiapas in Mexiko oder das kurdische Rojava, eine im Schatten des blutigen Nato-Stellvertreterkrieges in Syrien entstandene unabhängige Enklave. Andere erinnerten an die Widerstandsmilizen von Limousin, die während des Zweiten Weltkriegs gegen die Nazi-Okkupation gekämpft hatten.

Einwände wurden laut, die auf die Schwierigkeiten einer Machtübergabe an die Bevölkerung in Frankreich hinwiesen und argumentierten, der Staat kontrolliere die Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen, und die meisten Beispiele zeigten, dass die Guerillakämpfer mehr oder weniger unabhängig vom Staat existierten.

Alexandre Lantier von der Parti de l’égalité socialiste (PES) sprach kurz, um die Bedeutung der Versammlung zu betonen und darauf hinzuweisen, dass die Arbeiter der ganzen Welt den Kampf der „Gelbwesten“ für soziale Gleichheit und gegen Macrons brutale Unterdrückung mit großer Sympathie verfolgten. Er unterstrich die Notwendigkeit, Arbeiter in Frankreich und weltweit gemeinsam für den Kampf zu mobilisieren und gleichzeitig jeden Versuch zurückzuweisen, die „Gilets Jaunes“ dem politischen Establishment unterzuordnen. Wenn sich eine internationale Bewegung der Arbeiterklasse mit einem sozialistischen Programm bewaffne, dann werde sie in der Lage sein, die Kontrolle über die Wirtschaft und die politische Macht zu übernehmen.

Dieser Beitrag rief mehrere Fragen hervor: erstens zur Notwendigkeit eines internationalen Kampfes, und zweitens zu dem Begriff „sozialistisch“, ob es denn andere „sozialistische“ Perspektiven gebe, die nichts mit Frankreichs Sozialistischer Partei (PS), einer wirtschaftsfreundlichen, allgemein verhassten Partei, zu tun habe? Darüber diskutierten die PES-Mitglieder mit mehreren Versammlungsteilnehmern weiter.

Eine alleinerziehende Mutter widersprach energisch dem Vorschlag einiger Teilnehmer in der Versammlung, Lebensmittel im Wesentlichen bei den ortsansässigen Bio-Bauern zu kaufen. Sie sagte, sie habe schon jetzt kaum genug Geld für Lebensmittel, kaufe sehr oft welche mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum und sei außerstande, Bio-Bauern zu subventionieren.

Adam, ein Organisator der Versammlung, sagte der WSWS: „Anfangs war ich von der Präsidentschaftswahl [2017] begeistert, aber bald war ich sehr enttäuscht, als mir klar wurde, dass nur der freie Markt gestärkt wurde. Als dann die Gelbwesten als apolitische Bewegung auftauchten, dachte ich, damit könnten wir uns endlich Gehör verschaffen. Ich musste einfach nach Commercy kommen und an der Debatte teilnehmen (…) Ich war so enttäuscht und fragte mich, was kann ich überhaupt konkret tun, wenn nicht einmal Wahlen funktionieren?“

Er ergänzte: „Die Menschen werden im Namen der kapitalistischen Wirtschaft an den Rand gedrängt. Das ist inakzeptabel. Frankreich hat angeblich ein auf Solidarität basierendes Sozialsystem. Aber wer es sich genauer anschaut, stellt fest, dass das in Wirklichkeit gar nicht stimmt. Letztlich entscheidet der private Profit.“

Eine Frau namens Martine sagte der WSWS, sie habe sich der Bewegung angeschlossen, weil es „so viele Menschen gibt, die sehr schlecht, mit sehr eingeschränkten Mitteln leben müssen (…) Ich habe Kinder von einem Mann anderer Hautfarbe, und sie fragen mich: Mutter, warum ist Frankreich so übel? Und es fällt mir wirklich schwer, stark zu bleiben und ihnen zu sagen, dass wir unsern Werten treu bleiben müssen.“

Sie betonte, für sie sei die internationale Unterstützung für die „Gelbwesten“ besonders wichtig, wie auch der Widerstand gegen die imperialistischen Kriege Frankreichs in Afrika. Dann sagte sie: „Überall auf der Welt sind die Arbeiter es satt, dass sie arbeiten müssen wie Sklaven.“

Madame Laurent, eine weitere Teilnehmerin, sagte der WSWS, sie sei zu den „Gilets Jaunes” gestoßen, „weil ich drei Kinder durchfüttern muss. Wie soll ich das mit 600 Euro im Monat machen? Ich stecke gerade in einem Scheidungsverfahren, mein Mann zahlt mir 100 Euro Alimente für die Kinder, damit habe ich 600 Euro, um davon zu leben. Wie soll das gehen? Niemand hilft, jeder tritt uns mit Füßen (…) Das Arbeitsamt lässt mich abblitzen. Sie sagen ‚Sie haben kein Auto, also können sie nicht an einer Ausbildung teilnehmen‘, oder dies oder jenes. Das ist ein Teufelskreis.“

Sie fügte hinzu: „Jetzt an Weihnachten gibt es nichts bei uns zuhause – keinen Weihnachtsbaum, keine Dekoration, nichts. Meine Möbel sind vom Sperrmüll oder geschenkt oder geliehen, denn ich habe nichts. Aber das juckt keinen Beamten.“ Auf die Frage, ob irgendeine Gewerkschaft oder politische Partei ihr geholfen habe, antwortete sie: „Überhaupt nicht.“ Sie ergänzte: „Vielleicht, wenn alle Frauen auf die Straßen gingen und sich den Polizisten entgegenstellten, vielleicht würden sie dann einlenken.“

Sie sagte noch, sie würde es unterstützen, wenn solche Volksversammlungen international gegründet würden: „Wenn es jedem helfen könnte, auf der ganzen Welt, warum nicht? Es müsste wirklich jeder mitmachen, denn die Politiker sind vollkommen verdorben. Sie sind alle gleich schlecht.“ Sie fügte hinzu: „Wir brauchen Volksversammlungen, die aus normalen Leuten bestehen. Wir könnten solche Versammlungen abhalten, und immer, wenn etwas Wichtiges ansteht, können wir ja oder nein sagen.“

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