Algerien: Bouteflikas Kandidatur provoziert Proteste

Seit Sonntagabend kommt es in Algier und anderen wichtigen Städten Algeriens wieder zu Protesten. Zuvor hatten die Behörden angekündigt, dass Präsident Abdelaziz Bouteflika trotz Massenopposition nicht zurücktreten werde. Stattdessen wird er für die herrschende Nationale Befreiungsfront (FLN) für eine fünfte Amtszeit kandidieren.

Eine Protestveranstaltung am letzten Freitag in Algerien

Die Kandidaten hatten bis Sonntagabend Zeit, ihre Kandidatur einzureichen. Bouteflikas Berater reichten die Papiere erst am letzten Tag in seinem Namen ein. Der 82-jährige Präsident, der seit 1999 an der Macht ist, soll sich zwecks medizinischer Behandlung praktisch ständig in der Schweiz aufhalten. Seit seinem Schlaganfall im Jahr 2013 wurde er nur noch selten in der Öffentlichkeit gesehen, und er tritt kaum mehr öffentlich auf. Der algerische Botschafter in Frankreich sah sich am Montag gezwungen, gegenüber einem Reporter von CNews zu versichern, dass Bouteflika „natürlich noch am Leben ist“.

Um eine Ausbreitung der Proteste zu verhindern, wurde am Sonntag eine Botschaft von Bouteflika im Staatsfernsehen verlesen. Darin kündigte der Präsident an, er werde im Falle eines Wahlsiegs nur ein Jahr lang im Amt bleiben und danach Neuwahlen ausrufen, ohne sich daran zu beteiligen. Verschiedene Fraktionen des Regimes, das sich auf das Militär und den Geheimdienst stützt, wollen in Absprache mit den imperialistischen Mächten einen Nachfolger suchen.

Bouteflikas Botschaft enthielt auch eine implizite Drohung. Er beglückwünschte „die Nationale Volksarmee für ihre Bereitschaft, unter allen Umständen ihre verfassungsgemäße Aufgabe zu erfüllen“. Um den wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse einzudämmen, machte er das leere Versprechen, „schnell Maßnahmen zu ergreifen, um eine gerechtere Verteilung des nationalen Reichtums zu erreichen und die Marginalisierung und soziale Ausgrenzung abzuschaffen“.

Die Ankündigung löste am Sonntagabend Proteste aus, vor allem von Studenten, die die treibende Kraft der Demonstrationen seit dem 22. Februar bilden. In Algier, Tlemcen, Ghardaia und weiteren Städten riefen Demonstranten: „Bouteflika, es wird kein fünftes Mandat geben.“ In Algier legte die Polizei die U-Bahnstationen still, und die Bereitschaftspolizei setzte Wasserwerfer gegen Studenten ein, die von der Université des Sciences et de la Technologie zum Gebäude des Verfassungsrats zogen.

In den letzten zwei Wochen eskalierten die Proteste, und letzten Freitag demonstrierten Hunderttausende. Momentan sind diese Proteste sozial heterogen. Die Parolen richten sich überwiegend gegen Bouteflika, der zum Rücktritt aufgefordert wird. Allerdings werden sie von der Wut über die enorme soziale Ungleichheit in dem Land mit 40 Millionen Einwohnern gespeist.

Die herrschende Klasse befürchtet vor allem, dass die Proteste zu einer breiten Bewegung der Arbeiterklasse werden, und dass soziale Forderungen gegen die weit verbreitete Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ungleichheit erhoben werden könnten. Die sozialen Verhältnisse in Algerien sind enorm angespannt. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung liegt bei 28 Jahren, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 25 Prozent. Die Proteste wurden fast ausschließlich über soziale Netzwerke organisiert, ursprünglich hatte keine Partei dazu aufgerufen.

Millionen junge Menschen, darunter auch Universitätsabsolventen, haben keine Aussicht auf eine angemessene Zukunft. Tausende sind bei dem Versuch ertrunken, das Mittelmeer zu überqueren und in Europa ein besseres Leben zu finden. Gleichzeitig hat sich eine Schicht von Milliardären und Multimillionären mit engen Beziehungen zum Regime herausgebildet, die sich maßlos bereichert.

Am Dienstag sollte parallel zu den Protesten eine Veranstaltung stattfinden, zu der eine Tarnorganisation des Agrar- und Einzelhandelskonzerns Cevital aufgerufen hatte. Cevital gehört dem Milliardär Issad Rebra, und dieser will die Wut über die hohe Arbeitslosigkeit nutzen, um staatliche Restriktionen der Geschäftstätigkeit Cevitals in der Region Kabylien zu beseitigen. Letzten Dezember hatten sich mehrere tausend Menschen an einer ähnlichen Veranstaltung beteiligt. Am Montag sagte Cevital die Veranstaltung jedoch ab, da das Unternehmen jede Erwähnung von sozialen Problemen für gefährlich und explosiv hält.

Cevital ließ erklärenn, es sei „nicht die Zeit für branchenspezifische Forderungen“ und fügte hinzu, die Forderung nach einem „Regimewechsel“ müsse die „einzige und alleinige Parole“ der anhaltenden Proteste sein.

Unter den Funktionären des europäischen Imperialismus breitet sich die Befürchtung aus, dass die Lage in Algerien außer Kontrolle gerät. In Frankreich, das Algerien bis 1962 als seine Kolonie mit brutaler Härte regierte, veröffentlichte Le Monde am Montag einen Leitartikel über die Ankündigung der Regierung mit dem Titel „Abdelaziz Bouteflika: zu wenig, zu spät“. Darin erklärte die Zeitung, Bouteflika könne es sich nicht leisten, erst in einem Jahr einen Nachfolger zu ernennen. Stattdessen müsse er jetzt zurücktreten, damit das Regime aufrechterhalten – ohne seine Galionsfigur – aufrechterhalten werden könne.

In Le Monde heißt es weiter: „Die Hunderttausende von Algeriern, die auf die Straße gegangen sind, haben bisher eine bemerkenswerte Zurückhaltung an den Tag gelegt“, während die Polizei „eindeutig Anweisungen erhalten hat, nicht mit blindwütiger Unterdrückung zu reagieren“. Weiter heißt es, Algerien „hält den Atem an. Ein derart verantwortungsbewusstes Verhalten in einer solchen Situation hält selten lange an.“ Der französische Präsident Emmanuel Macron äußerte sich zwar nicht öffentlich, hat aber seine ganze diplomatische Maschinerie mobilisiert, um die Krise in Algerien im Blick zu halten.

Die Macron-Regierung hat große Angst vor den Auswirkungen der Proteste auf Frankreich und auf die zahlreichen algerischen Immigranten. Am Sonntag nahmen Tausende von ihnen in ganz Frankreich an Solidaritätsprotesten teil, darunter 6.000 in Paris. Gleichzeitig zeigt sich in der anhaltenden „Gelbwesten“-Bewegung die brodelnde Wut der französischen Arbeiterklasse über die soziale Ungleichheit. Am meisten fürchtet die herrschende Klasse in Frankreich eine gemeinsame Bewegung der Arbeiter und Jugendlichen in Frankreich und Nordafrika.

Es geht um immense geostrategische Interessen. Algerien besitzt die größten nachgewiesenen Gasreserven Nordafrikas. Insgesamt wurde dort letztes Jahr so viel Gas gefördert wie in keinem anderen Land Afrikas. Algerien ist Europas drittgrößter Gaslieferant nach Russland und Norwegen. Spanien bezieht von dort die Hälfte seines Bedarfs.

Der französische Staat verlässt sich darauf, dass Algerien in Nord- und Westafrika seine Kriege und Aufklärungsoperationen durchführt. Die europäischen Regierungen stützen sich außerdem bei ihren kriminellen Bemühungen, Migranten aus Europa fernzuhalten, auf das Bouteflika-Regime.

In den letzten zwei Jahren haben Autokonzerne wie Peugeot-Citroen, Toyota und VW in Algerien und Marokko Autofabriken errichtet, da sie mit einer steigenden Autoproduktion in Afrika rechnen. Vor allem Frankreich hat sich voller Sorge über die zunehmenden wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und der algerischen Regierung geäußert. China ist heute der größte Importeur aus Algerien und der größte Exporteur in das Land.

Die algerische Regierung ist aufgrund der Krise des Weltkapitalismus zunehmend mit wirtschaftlichen Problemen konfrontiert. Das nationalistische Programm der bürgerlichen FLN, die nach dem Sieg über den französischen Kolonialismus im Krieg von 1954 bis 1962 an die Macht kam, konnte keins der Probleme lösen, die aus Algeriens historischer Unterdrückung durch den Imperialismus erwachsen sind.

Hohe Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt ermöglichten es der Regierung 20 Jahre lang, bescheidene Subventionen für Wohnungen, Gesundheitsversorgung und Lebensmittel zu finanzieren, auch wenn die Ungleichheit weiter anstieg. Doch die Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport, die 90 Prozent der algerischen Exporte ausmachen, sind aufgrund des Ölpreisverfalls seit 2014 von 74 Milliarden Dollar im Jahr 2007 auf 24 Milliarden Dollar im Jahr 2017 gesunken. Letztes Jahr kündigte die Regierung den Abbau von Subventionen an, machte aber angesichts massiver Empörung einen Rückzieher.

Das Regime baut darauf, dass die völlig unterwürfige offizielle bürgerliche „Opposition“ die revolutionäre Stimmung in der Arbeiterklasse und den unterdrückten Massen im Zaum halten wird. Die Arbeiterpartei (PT) von Louisa Hanoune, die sich als linke Gegnerin des Regimes präsentiert, hat die FLN jahrzehntelang unterstützt. Im Jahr 2014 lehnte sie die Forderung ab, Bouteflika solle nicht zur Wahl antreten.

Die PT kündigte an, die Wahl im April zu boykottieren. Sie ist besorgt, dass sie sich durch eine Teilnahme zu offen entlarven würde, vor allem da unklar ist, ob die Wahl tatsächlich stattfinden wird, da der französische Imperialismus Bouteflikas Kandidatur ablehnt.

Hanoune blieb auf der Linie von Le Monde und warnte das Regime, Bouteflikas Rücktritt sei die „einzige Möglichkeit, eine Pattsituation zu vermeiden“. Sie erklärte: „Wenn die Befürworter des Status Quo so starrköpfig sind, an Bouteflikas Kandidatur festzuhalten, lassen sich die künftigen Folgen und die Reaktionen der Mehrheit unmöglich vorhersagen.“

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