„Die Gewerkschaften kümmern sich nicht um die Leiharbeiter“

Ein Gespräch mit einem Leiharbeiter aus Duisburg

Ende vorletzter Woche sprach ich mit Andreas B. über seine Arbeit. Ich hatte ihn während der hitzigen Diskussion über den Tarifabschluss der IG Metall in der nordwestdeutschen Stahlindustrie in einer geschlossenen Facebook-Gruppe von Thyssenkrupp-Beschäftigten kennengelernt. Die IG Metall hatte Mitte März eine Lohnerhöhung von 3,7 Prozent bei einer Laufzeit von 26 Monaten vereinbart. Das Ergebnis bedeutet auf das Jahr umgerechnet eine Steigerung von gerade einmal 1,7 Prozent. Das liegt unter der Inflationsrate.

Warnstreik vor Thyssenkrupp in Duisburg 13. Februar

Arbeiter liefen Sturm und ließen ihrer Wut in den sozialen Netzwerken freien Lauf. Nachdem die Tarifkommission der IG Metall dem Ergebnis einstimmig zugestimmt hatte, riefen viele Arbeiter zum Austritt aus der IG Metall auf.

Andreas beteiligte sich an der Diskussion, weil er seinen beruflichen Weg bei Thyssen Stahl begann und nun als Leiharbeiter immer wieder mal im Duisburger Stahlwerk eingesetzt wird. Er zeigte Verständnis für die Empörung der Stahlarbeiterkollegen und war solidarisch mit ihnen, erinnerte aber auch an seine eigene Situation. Er erhalte gegenwärtig den Mindestlohn, das ergebe im Monat weniger als 1100 Euro netto.

2003 hatte Wolfgang Clement (SPD) als Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit die Zeitarbeitsbranche im Rahmen der Agenda 2010 dereguliert, um den „Arbeitsmarkt zu flexibilisieren“. Seither hat sich die Zahl der Zeitarbeiter verdreifacht. Sie liegt aktuell bei knapp über einer Million. Fast jede dritte bei den Jobcentern gemeldete freie Stelle ist eine Stelle in der Leiharbeit, in der Niedriglöhne gezahlt werden. Die meisten Leiharbeiter erhalten wie Andreas nur den Mindeststundenlohn von derzeit 9,49 Euro brutto.

Andreas ist 47 und lebt im Duisburger Norden. Jahrelang war er in wechselnden Zeitarbeitsfirmen beschäftigt. „Seit 2016 bin ich nun fest in einer Zeitarbeitsfirma“, berichtet er. „Ich bin Kranführer, Staplerfahrer, Lokführer … vorher habe ich aber meist in Helferjobs gearbeitet.“ In den letzten Jahren hatte er auch immer wieder Arbeitseinsätze bei Thyssenkrupp Stahl und „Eisenbahn und Häfen“ (heute Thyssenkrupp Logistics) in Duisburg.

Wenn er nun wieder bei Thyssenkrupp als Zeitarbeiter eingesetzt wird, dann meist als Kranführer, hin und wieder aber auch als Verlader. „Dann muss ich halt Material, das vom Warmbandwerk oder Kaltwalzwerk kommt, auf Rheinschiffe verladen – Coils, Brammen und so, früher auch Schienen. Die gehen in alle Welt, Brasilien, China, Frankreich usw.“

Coils, das sind tonnenschwere aufgewickelte Metallbänder. Während einer Werksbesichtigung hatte mir ein Thyssen-Stahlarbeiter vor Jahren erklärt, dass die Verladung dieser riesigen Bänder ein knochenharter „Schweinejob“ sei. Das würden junge Leiharbeiter machen, und auch das nicht lange, wurde mir damals versichert.

Andreas ist 47 Jahre und schwerbehindert. „Ich habe den Rücken kaputt und Arthrose in den Knochen“, erklärt er mir. Aber wie macht er dann diesen Job? „Zum Glück bin ich meist auf dem Kran. Aber trotzdem, manchmal muss ich auch richtig knüppeln. Dann kann ich nur aus den Knien heben“, sagt er und macht mir eine entsprechende Bewegung vor. „Ich habe dann extreme Schmerzen, das geht nicht ohne Schmerzmittel. Aber da das meine Vorgesetzten wissen, muss ich nicht so oft ran. Wenn es ganz hart kommt, helfen mir auch jüngere Kollegen. ‚Lass man stecken‘ sagen sie dann und gehen mir zur Seite; ich kann mich dann etwas schonen.“

Aktuell arbeitet Andreas bei RBH Logistics im benachbarten Oberhausen-Osterfeld als Lokführer. RBH, das ist die frühere Zechenbahn der Ruhrkohle AG. Als Lokführer bekommt er 3 Euro mehr pro Stunde. Er zeigt mir seine letzte Abrechnung: rund 1.400 Euro netto. „Das sind 300 mehr als sonst.“ Immerhin.

„Ich fahre alles Mögliche die Rhein- und Ruhrschiene entlang: Container, Stahl, Chemikalien.“ Andreas arbeitet in Früh- und Spätschicht. Aber er sei nach der Frühschicht, die offiziell bis 14 Uhr dauert, selten vor 16 Uhr hier. Gerade deshalb müsse man sich doch vor allem um Niedriglöhner wie ihn kümmern, sagt er. „Bei meinem Lohn bin ich doch quasi gezwungen, Überstunden zu machen. Alles wird teurer. Ich zahle hier 540 Euro Kaltmiete“, sagt er und meint seine kleine Zweieinhalbzimmerwohnung in einer Werkssiedlung aus den 1960er Jahren.

„Die Gewerkschaften kümmern sich nicht um die Leiharbeiter“, sagt er verbittert. „Einen Betriebsrat gibt es in meiner Firma nicht. Und von den Betriebsräten der Unternehmen, in denen ich eingesetzt bin, kommt auch nie einer zu mir“, sagt Andreas und muss dann doch kurz einschränken. „Es gibt eine Ausnahme, ein einziger Betriebsrat von Thyssenkrupp, den ich schon lange kenne, hat sich für mich eingesetzt, konnte mir dann aber auch nicht helfen.“

Sein 73-jähriger Vater, der ihm etwas vorbeigebracht hat und inzwischen mit am Wohnzimmertisch sitzt, hört aufmerksam zu. „Mein letzter Bruttostundenlohn als Lokführer bei Eisenbahn und Häfen“, wirft er ein, „lag bei 28 Euro.“ Das sei im Jahr 2000 gewesen. „Dann bin ich in Frührente.“ Heute kriege aber keiner mehr diesen Lohn. „Das dürften heute 15 oder 16 Euro sein, nicht viel mehr.“

„Wie kommt das?“ frage ich. „Na, die Gewerkschaften sind halt nicht mehr das, was sie einmal waren“, entfährt es dem älteren Arbeiter spontan. Es folgt ein Kraftausdruck, gerichtet an die Gewerkschaften, der sich diplomatisch mit Ja-Sager übersetzen lässt. „Gewerkschaften sind heute doch selbst Unternehmen“, empört sich der Rentner. „Alles wird immer schlechter. Rentner müssen Pfandflaschen sammeln und in Berlin und Brüssel erhöhen sie sich die Diäten. Wenn die [Abgeordneten] in Rente gehen, kriegen die monatlich 25.000 Euro.“ Das stimmt zwar nicht ganz, doch die meisten Abgebordneten erhalten mehrere Tausend Euro Monatsrente für ihre Mandatszeit.

Und wie sieht Andreas seine Zukunft? „Ich müsste ja eigentlich noch 20 Jahre arbeiten, bis 67“, gibt er zu Bedenken. „Aber nicht in diesem Job. Mal sehen, was kommt.“ Als Schwerbehinderter in Frührente gehen, könne er sich aber auch nicht leisten. „900 Euro würde ich momentan kriegen. Das mache ich nicht, ich will nicht in die Grundsicherung fallen. Dann könnte ich vielleicht meine Wohnung hier nicht halten. Nein das ist im Moment keine Option.“

Und so schuftet Andreas weiter – für 9,49 Euro brutto in der Stunde.

Die Hauptursache für seine eigene Situation und die aller Leiharbeiter sieht Andreas darin, dass die Gewerkschaften nichts für die Leiharbeiter tun. „Ich habe schon 2007 einem Betriebsrat von Thyssenkrupp gesagt“, berichtet er, „sie und die IG Metall müssten etwas für die Leiharbeiter tun und die Spaltung überwinden.“

Das ist nun zwölf Jahre her. Ich entgegne, dass die Gewerkschaften nicht nur nichts tun, sondern für die gegenwärtige Situation verantwortlich sind.

Als die SPD 2002 die Hartz-Kommission einsetzte, saßen die Gewerkschaften mit am Tisch. Die Kommission arbeitete unter dem Vorsitz des IG-Metall-Mitglieds und Personalvorstands von Volkswagen Peter Hartz einen langen Katalog sozialer Angriffe aus.

Als sich zwei Jahre später Massenproteste gegen die Hartz-Gesetze regten, lehnten die Gewerkschaften ihre Teilnahme daran ab. Und als 2013 das neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) gleiche Bezahlung (Equal Pay) für Leiharbeiter wie für fest Angestellte festlegte, sprang der DGB ein. Denn in dem Gesetz stand, Equal Pay gelte nur, „wenn dem kein Tarifvertrag entgegensteht“. Der DGB vereinbarte kurzerhand einen Tarifvertrag mit der Verhandlungsgemeinschaft Zeitarbeit (VGZ), um die Niedriglöhne aufrechtzuerhalten.

In den letzten Jahrzehnten ist klar geworden, dass es die Gewerkschaften sind, die die Arbeiter spalten: im Betrieb nach Stamm-, Leih- und Werkvertragsarbeitern, im Konzern nach Standorten und weltweit nach Nationen.

Diese Spaltung kann nur eine von den Gewerkschaften unabhängige Mobilisierung der Arbeiter überwinden. Dazu sind völlig neue Organisationsformen notwendig. Daher schlägt die Sozialistische Gleichheitspartei vor, in den Betrieben gewerkschaftsunabhängige Aktionskomitees zu gründen, die alle Arbeiter des Betriebs umfassen, unabhängig davon, wer nun gerade formell der Arbeitgeber jedes einzelnen ist.

Diese Komitees müssten sofort Kontakt aufnehmen zu anderen Arbeitern – an anderen Standorten und weltweit. Denn alle Arbeiter stehen den gleichen Kontrahenten gegenüber, der internationalen superreichen Unternehmens- und Finanzelite, und dementsprechend vor den gleichen Herausforderungen.

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