Perspektive

Massenproteste in Hongkong

Die riesige Demonstration gegen geplante Änderungen des Auslieferungsgesetzes am Sonntag in Hongkong ist ein unverkennbares Zeichen für die politische Radikalisierung breiter Bevölkerungsschichten und ihre Entschlossenheit, demokratische Rechte zu verteidigen.

In Hongkong ist eine Änderung des Flüchtlingsrechts geplant, mit dem die allgemeinen Auslieferungsregelungen auf China ausgeweitet würden. Viele Menschen befürchten nun, dass das Regime in Peking die neue Gesetzgebung ausnutzen könnte, um politische Gegner und religiöse Dissidenten – bzw. alle, die als Bedrohung angesehen werden – unter falschen Anschuldigungen nach Festlandchina zu holen, um sie dort vor Gericht zu stellen und einzusperren.

Nach Angaben der Organisatoren nahmen mehr als eine Million Menschen an der Protestaktion am 9. Juni teil – also fast jeder siebte der 7,4 Millionen Einwohner Hongkongs. „Keine Auslieferung an China!“ und „Tritt zurück, Carrie Lam!“, war auf Plakaten und Spruchbändern zu lesen. Carrie Lam ist als Regierungschefin der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong für die Gesetzgebung verantwortlich.

Unter den Menschenmassen waren eine Vielzahl von Studentenorganisationen vertreten, außerdem Wanderarbeiter aus Südchina, politische Parteien, religiöse Gruppen und gemeinnützige Organisationen sowie Tausende betroffene Einzelpersonen. Mindestens 90 Geschäfte blieben geschlossen, um ihren Mitarbeitern die Teilnahme zu ermöglichen.

Mit dem Ruf „Öffnet die Straße!“ durchbrachen die Demonstranten Polizeibarrikaden, um den Legislativrat, die gesetzgebende Versammlung in Hongkong zu umstellen- Dort ist am Mittwoch eine weitere Anhörung zum neuen Gesetz geplant. Fünf Stunden nach Beginn des Marsches war der Gebäudekomplex des Legislativrates noch immer umstellt, und die Organisatoren kündigten weitere Proteste an. In den frühen Morgenstunden des Montags setzte die Bereitschaftspolizei Schlagstöcke und Pfefferspray ein, um die verbleibenden Demonstranten gewaltsam auseinanderzutreiben.

Kleinere Proteste gegen das Auslieferungsgesetz fanden auch in 29 Städten im Ausland statt, darunter New York, San Francisco, Sydney, Tokio, Toronto und Taipeh. „Ich bin heute hier, weil ich befürchte, dass ich wegen Verbrechen, die ich nicht begangen habe, an Festlandchina ausgeliefert werde“, erklärte Henry Lee, ein Hongkonger, der derzeit in Melbourne lebt, gegenüber der South China Morning Post.

Seit der Ankündigung des neuen Auslieferungsgesetzes im Februar haben sich die Proteste ständig ausgeweitet, obwohl die Regierungschefin Lam zugesichert hat, dass politische und religiöse Dissidenten nicht gefährdet seien und die Unabhängigkeit der Hongkonger Gerichte gewährleistet sei.

Doch da die Exekutive versucht hat, die Gesetzesänderung ohne ordentliche Anhörung vor dem zuständigen Ausschuss im Eilverfahren durch den Legislativrat zu boxen, fühlt sich die Bevölkerung bedroht. Das undemokratische Vorgehen führte zu physischen Auseinandersetzungen zwischen Abgeordneten.

An der Mahnwache in Hongkong zum Jahrestag des Tiananmen-Massakers am 4. Juni beteiligten sich mehr als 180.000 Menschen, die alle sechs Fußballfelder und angrenzenden Bereiche des Victoria-Parks der Stadt füllten. Es ging ihnen nicht nur um das Gedenken an den barbarischen Militäreinsatz vor 30 Jahren, sondern auch um die Abwehr des Auslieferungsgesetzes. Zweifellos waren unter den Demonstranten viele Menschen, die 1989 nach Hongkong flohen und nun befürchten, verhaftet und zurückgeschickt zu werden.

Die ehemalige britische Kolonie Hongkong war 1997 an China übergeben worden. Dabei wurde vereinbart, dass Hongkong als Sonderverwaltungszone mit einem hohen Maß an Autonomie ausgestattet sein würde. Im Rahmen von Pekings Politik „Ein Land, zwei Systeme“ blieben die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse in Hongkong bestehen. Dies wiederum diente der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) zur Beschleunigung der kapitalistischen Restauration auf dem Festland. Ausländische, aber auch chinesische Unternehmen ließen sich in Hongkong nieder, wo ihre Aktivitäten in China durch das althergebrachte Handelsrecht geschützt waren.

Trotz seines Anspruchs, die Autonomie Hongkongs zu wahren, hat das KPCh-Regime wiederholt versucht, demokratische Rechte zu beschneiden, um die politische Opposition vor seiner Haustür niederzuhalten. Im Jahr 2003 demonstrierten eine halbe Million Menschen in Hongkong gegen ein Gesetz zur nationalen Sicherheit, das die polizeilichen Maßnahmen Chinas auf die Stadt ausgedehnt hätte. Das Gesetz wurde daraufhin auf unbestimmte Zeit verschoben.

Im Jahr 2014 kam es zu Massenprotesten gegen Pläne Pekings, die Auswahl des Hongkonger Regierungschefs, der über weitreichende Befugnisse verfügt, weiterhin streng zu kontrollieren. Während bürgerlich-liberale Oppositionelle wie der Gründer der Demokratischen Partei, Martin Lee, kompromissbereit waren, gingen Studentengruppen auf die Straße, um freie Wahlen zu fordern. Ihre Straßenbesetzungen ebbten erst nach Wochen ab und wurden schließlich von der Polizei aufgelöst. Bei der sehr restriktiven Überprüfung der Kandidaten für das Amt des Regierungschefs von Hongkong hatte Peking keinerlei Zugeständnisse gemacht.

Wenn die aktuellen Proteste gegen das Auslieferungsgesetz Erfolg haben sollen, müssen die Lehren aus den Erfahrungen der Vergangenheit gezogen werden. Dabei geht es vor allem um eine politische Perspektive.

Das Scheitern der Besetzungsbewegung 2014 war nicht auf einen Mangel an Entschlossenheit und Mut der jungen Teilnehmer zurückzuführen. Der Grund war vielmehr, dass ihre Anführer von der Hong Kong Federation of Students and Scholarism zwar militanter vorgingen und offensivere Forderungen stellten, aber keine politische Alternative zu konservativen Liberalen wie Martin Lee hatten.

Auch heute spielen Vertreter der Demokratischen Partei wie Lee bei den Protesten gegen das Auslieferungsgesetz eine prominente Rolle. Sie orientieren sich an Teilen der Unternehmenselite Hongkongs, die sich ebenfalls gegen die geplante Gesetzgebung aussprechen, weil sie befürchten, dass die Rechtsprechung und die Attraktivität Hongkongs als Basis für Investitionen in China untergraben werden könnten.

Außerdem verbreiten Lee und seine Verbündeten die gefährliche Illusion, dass die USA zum Kampf für demokratische Rechte in Hongkong herangezogen werden könnten. Im vergangenen Monat leitete Lee eine Delegation nach Washington, die unter anderem mit US-Außenminister Mike Pompeo sowie der Regierungsbehörde „Congressional-Executive Commission on China“ zusammentraf. Die Trump-Regierung interessiert sich nicht im Geringsten für die Menschenrechte in Hongkong oder anderswo. Ihr geht es darum, die Protestbewegung für ihre Kriegsvorbereitungen gegen China auszunutzen.

In Hongkong sind die sozialen Gegensätze so ausgeprägt wie in kaum einer anderen Stadt der Welt und nehmen von Jahr zu Jahr zu. Die Wirtschaft wird von einer Handvoll Multi-Milliardäre dominiert, während die Mehrheit der Bevölkerung darum kämpft, überhaupt ein Dach über den Kopf zu haben. Viele sind gezwungen, als „Käfigmenschen“ in provisorischen Drahtverhauen zu leben.

Der Kampf für demokratische Rechte in Hongkong muss sich auf die Arbeiterklasse stützen. Er ist mit dem umfassenderen Kampf gegen Sozialkürzungen und für soziale Grundrechte wie menschenwürdige Arbeitsplätze und Löhne verbunden. Es geht also darum, der gegenwärtigen Dominanz von Persönlichkeiten wie Lee und anderen Verteidigern des Kapitalismus, denen jede Mobilisierung der Arbeiterklasse ein Gräuel ist, den Kampf für ein sozialistisches Programm entgegenzustellen.

Dies bedeutet, all denjenigen entgegenzutreten, die ihre Opposition gegen das Auslieferungsgesetz mit einer angeblichen Ausnahmestellung Hongkongs begründen und nicht nur das KPCh-Regime ablehnen, sondern Chauvinismus gegenüber den Festlandchinesen im Allgemeinen schüren. Der Kampf für demokratische Rechte in Hongkong hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn er mit den Kämpfen der chinesischen Arbeiter um ihre demokratischen und sozialen Rechte zusammenkommt.

Vor allem muss in der Arbeiterklasse eine revolutionäre Führung aufgebaut werden, die auf den historischen Lehren aus dem langen Kampf der trotzkistischen Bewegung für den sozialistischen Internationalismus gegen den Stalinismus in all seinen Formen basiert – einschließlich des Maoismus, der für das Polizeistaatsregime in Peking verantwortlich ist. Für diese Perspektive kämpft das Internationale Komitee der Vierten Internationale.

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