Perspektive

Der globale Krieg gegen Flüchtlinge

Eine Reihe von Ereignissen in den letzten zwei Wochen haben zu massiver Empörung über die systematische Misshandlung und Brutalisierung von Flüchtlingen durch kapitalistische Regierungen auf der ganzen Welt geführt.

Hunderttausende Menschen haben sich gegen die Verhaftung von Carola Rackete, der 31-jährigen deutschen Kapitänin des Rettungsschiffs Sea Watch 3, durch die italienische Regierung und ihren faschistischen Innenminister Matteo Salvini am Samstag ausgesprochen. Racketes „Verbrechen“ bestand darin, 53 afrikanische Flüchtlinge gerettet und ihre sichere Überfahrt zur italienischen Insel Lampedusa gewährleistet zu haben. Unter den 53, die am 12. Juni im Mittelmeer in Seenot geraten waren, befanden sich schwangere Frauen und Kinder.

Über zwei Wochen lang kreuzte die Sea Watch auf dem Mittelmeer, auf der Suche nach einem Hafen in der Europäischen Union (EU), der sie einlaufen ließ. Keine EU-Regierung – einschließlich Frankreich, Deutschland und Spanien – erklärte sich bereit, die wenigen Dutzend Flüchtlinge aufzunehmen. Der Besatzung blieb keine andere Wahl, als Lampedusa anzulaufen und das illegale Verbot der italienischen Regierung, die Einreisen von Asylbewerbern über den Seeweg unter Strafe gestellt hat, zu ignorieren.

Mit der Anordnung Rackete freizulassen reagierten italienische Richter gestern Abend auf die enorme Unterstützung in der Arbeiterklasse für die Kapitänin. Bis gestern Nachmittag war der von den Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf eingerichtete Fonds zur Übernahme der Anwaltskosten von Sea Watch auf über 950.000 Euro angewachsen. Es wurden über 35.000 Einzelspenden registriert. Knapp 500.000 Euro erhielt eine weitere Spendenaktion auf Facebook. Über 330.000 Menschen unterzeichneten eine Petition, die die sofortige Freilassung von Rackete forderte.

Das Urteil des italienischen Gerichts bedeutet indessen keineswegs, dass sich die Angriffe auf all jene, die sich bei der Rettung von Flüchtlingen engagieren, abschwächen werden. Rackete soll aus Italien ausgewiesen werden und bleibt auch juristisch bedroht. Zudem hat Italien Pia Klemp, die Kapitänin der „Iuventa“, die vor ihrer Verhaftung im Jahr 2017 14.000 Menschen das Leben gerettet hatte, wegen „Beihilfe zur illegalen Migration“ angeklagt. Ihr drohen 20 Jahre Haft.

Mit abstoßender Heuchelei äußerten europäische Regierungspolitiker, darunter Bundespräsident Frank Walter-Steinmeier (SPD) und der französische Innenminister Christophe Castaner, scharfe Kritik an Salvini und vergossen Krokodilstränen über das Schicksal der Flüchtlinge. Jeder weiß jedoch, dass die EU, mit Frankreich und Deutschland an vorderster Front, für die „Festung Europa“ mit Stacheldraht und Maschinengewehren und für die Einstellung der staatlichen Seenotrettung im Mittelmeer verantwortlich ist. Die EU hat die Gewässer zwischen Europa und Nordafrika in ein Massengrab verwandelt. Salvini bringt die Politik der gesamten EU lediglich auf die direkteste und rücksichtsloseste Weise zum Ausdruck.

Im Jahr 2015 kündigte die EU die „Operation Triton“ an, während sie libysche Milizen als „Küstenwache“ engagierte. Deren Aufgabe besteht darin, Menschen einzufangen, die nach Europa fliehen wollen, und sie in Konzentrationslager in Libyen zu verschleppen. In diesen Lagern werden Flüchtlinge erwiesenermaßen gefoltert, vergewaltigt, ermordet und als Sklaven verkauft. Während die EU ihre Rettungsmissionen beendete, wurden die Kapitäne und Besatzungen der privaten Seenotrettung verfolgt und ihrer Zulassung beraubt.

In den letzten drei Jahren sind bei dem Versuch, Europa zu erreichen, mindestens 14.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Die spanische Hilfsorganisation Caminando Fronteras veröffentlichte letzte Woche einen Bericht, laut dem von Januar 2018 bis Juni 2019 allein in der Straße von Gibraltar mindestens 1.020 Menschen in 70 Schiffswracks ertrunken sind.

Vor achtzig Jahren verweigerten Regierungen auf der ganzen Welt Juden, die vor dem Nazi-Regime geflohen waren, die Einreise, was im Europa der 1930er Jahre in den allermeisten Fällen den sicheren Tod bedeute. Heute verfolgt die EU eine Politik des Massenmords, um Flüchtlingen eine Botschaft zu übermitteln: Der Versuch, in Europa ihr juristisches und demokratisches Recht auf Asyl geltend zu machen, wird wahrscheinlich den Tod durch Ertrinken zur Folge haben.

In den Vereinigten Staaten hat die Trump-Regierung ein Netzwerk von Konzentrationslagern für Einwanderer innerhalb des Landes und entlang der Grenze zu Mexiko aufgebaut. Die dortigen Bedingungen sind derart von Missbrauch geprägt, dass der Kinderarzt Dr. Lucio Sevier, der in der vergangenen Woche Lager mit inhaftierten Kindern in Texas besuchte, diese mit „Folterlagern“ verglich.

Gestern berichtete die Abgeordnete der Demokratischen Partei Alexandria-Ocasio Cortez über ihren Besuch in einem Gefangenenlager in Texas, in dem Frauen ohne Wasser in Zellen gehalten und von Grenzschutzbeamten aufgefordert werden, aus den Toiletten zu trinken. Einen Tag zuvor enthüllte die investigative Nachrichtenplattform ProPublica eine geheime Facebook-Gruppe, in der faschistische Grenzbeamte Witze über Gewalt gegen Einwanderer posten und Cortez vor ihrem Besuch mit sexueller Gewalt drohten.

Die Abscheu und Opposition gegen Trumps faschistische Einwanderungspolitik, die in der Bevölkerung herrscht, kam am Sonntag bei einer Demonstration von mehr als 200 amerikanischen Juden vor einem Gefängnis der Einwanderungs- und Zollbehörde (ICE) in New Jersey zum Ausdruck. Unter anderem riefen die Demonstranten „Never again means now!“ („Nie wieder heißt jetzt!“). Sechsunddreißig von ihnen wurden verhaftet. Ein junger Teilnehmer berichtete, er fühle sich „gut“, weil seine Großeltern, die gegen die Nazis gekämpft hatten, „sicher gewollt hätten, dass ich gegen Konzentrationslager protestiere“.

Die weltweiten Angriffe auf Flüchtlinge gehen weit über Europa und Amerika hinaus. Am 27. Juni bejubelte US-Präsident Trump die migrantenfeindliche Politik Australiens, die von der liberal-nationalen Koalitionsregierung und der „oppositionellen“ Labor Party durchgesetzt wird. Trump erklärte, dass man von dem Programm „Operation Sovereign Borders“ (etwa: „Operation Souveräne Grenzen“), das in Australien parteiübergreifend vertreten wird, „viel lernen“ könne. Im Rahmen dieser Politik wird das Militär eingesetzt, um völkerrechtswidrig alle Flüchtlinge abzufangen und zu blockieren, die versuchen, Australien zu erreichen.

Die Tatsache, dass es sich bei den Angriffen auf Flüchtlinge um eine universelle Entwicklung handelt, zeigt, dass sie nicht einfach auf die faschistische Gesinnung einzelner Politiker wie Trump und Salvini zurückzuführen ist. Sie ist ein besonders schmutziger Ausdruck des erneuten, historischen Zusammenbruchs des kapitalistischen Nationalstaatensystems. Dutzende Millionen Männer, Frauen und Kinder fliehen vor den gesellschaftlichen Zusammenbrüchen und dem Massensterben, die das Resultat eines Vierteljahrhunderts von Kriegen im Nahen Osten und in Afrika sind, die von den Vereinigten Staaten und ihren imperialistischen Verbündeten in der EU geführt wurden.

Die Zahl der Flüchtlinge ist heute größer als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Laut einem UN-Bericht, der letzte Woche veröffentlicht wurde, hat sich die Zahl der gewaltsam vertriebenen Menschen weltweit von 43,3 Millionen im Jahr 2009 auf 70,8 Millionen im Jahr 2018 fast verdoppelt. Im Jahr 2018 wurden jede Minute 25 Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Knapp 1 Prozent der Menschheit, einer von 108 Menschen, ist auf der Flucht.

Im Jahr 1940, zwei Jahre bevor die faschistischen Regime Europas den Völkermord an den Juden, die sogenannte „Endlösung“, in Gang setzen, warnte der große russische Revolutionär Leo Trotzki: „Heute versucht die verfaulende kapitalistische Gesellschaft, das jüdische Volk aus all ihren Poren herauszupressen; siebzehn von den zweitausend Millionen Erdbewohnern, d.h. weniger als ein Prozent, können auf unserem Planeten keinen Platz mehr finden! Inmitten der ungeheuren Landflächen und den Wundern der Technik, die dem Menschen Himmel und Erde erschließen, hat es die Bourgeoisie fertiggebracht, unseren Planeten in ein widerwärtiges Gefängnis zu verwandeln.“

Heute fördern kapitalistische Regierungen, die mit einer sich verschärfenden Krise der Weltordnung und einer wachsenden innenpolitischen Opposition konfrontiert sind, jene Formen des Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit, die das Markenzeichen der faschistischen Rechten in den 1930er Jahren waren. Die universelle Anwendung drakonischer Maßnahmen gegen Flüchtlinge ist das Mittel, mit dem die extreme Rechte von den herrschenden Eliten auf der ganzen Welt rehabilitiert wird.

Die autoritären Maßnahmen gegen Flüchtlinge richten sich, ebenso wie der Antisemitismus der 1930er Jahre, gegen die Arbeiterklasse als Ganzes. Die Konzentrationslager, in die heute Flüchtlinge eingesperrt werden, können morgen gegen Arbeiter und politische Gegner von Krieg und Militarismus, Sparpolitik und sozialer Ungleichheit genutzt werden.

Die starke Unterstützung für Flüchtlinge innerhalb der Arbeiterklasse kann und muss mobilisiert werden. Das einzige Mittel, um einen erneuten Rückfall in Barbarei und Krieg zu verhindern, besteht jedoch darin, die Opposition gegen faschistische Angriffe auf Flüchtlinge mit einem bewusst sozialistischen und internationalistischen Programm zu bewaffnen. Das bedeutet unter anderem, jedem Versuch entgegenzutreten, Einwanderer zum Sündenbock für die durch den Kapitalismus verursachte soziale Krise zu machen, und das Recht jedes Arbeiters zu verteidigen, dort zu leben, wo er oder sie will – ausgestattet mit vollen Bürgerrechten, einschließlich des Rechts auf Freizügigkeit und Arbeit.

Nur wenn die Arbeiterklasse auf internationaler Ebene die politische Macht übernimmt, können die Ressourcen der Gesellschaft von der Kontrolle durch die Wirtschaftsoligarchie befreit und ein hoher Lebensstandard für jeden Menschen auf der Welt, frei von Armut und Unterdrückung, garantiert werden.

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