USA: Soziale Konterrevolution und sinkende Lebenserwartung

Eine Studie, die diese Woche im Journal of the American Medical Association (JAMA) veröffentlicht wurde, beschreibt detailliert das Absinken der Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten von 2015 bis 2017. Diese Entwicklung ist in der Moderne beispiellos.

Professor Steven H. Woolf von der Virginia Commonwealth University und Heidi Schoomaker, die an der Eastern Virginia Medical School studiert, analysierten die Lebenserwartungsdaten für den Zeitraum von 1959 bis 2016 sowie die ursachenspezifischen Sterblichkeitsraten für die Jahre 1999 bis 2017. Die Daten zeigen, dass der Rückgang der Lebenserwartung keine statistische Anomalie ist, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Angriffe auf die Arbeiterklasse.

Der Bericht wirft ein Schlaglicht auf die USA als ein Land, das von einer tiefen sozialen Krise heimgesucht wird. Die Rekord-Aktienkurse, die von Trump als Erfolg gefeiert werden, sind in Wirklichkeit ein Maß für die immer schärfere wirtschaftliche Ausbeutung, die die Ursache für die sinkende Lebenserwartung der Arbeiter ist.

Im September demonstrierten Teilnehmer einer Kundgebung in Philadelphia für eine Einrichtung zum begleiteten Drogenkonsum. Das Bild zeigt mehrere Teilnehmer bei der Aufstellung eines provisorischen Mahnmals für die Drogentoten des vergangenen Jahres. [Quelle: AP Photo/Matt Rourke]

Tausende Fabriken und Bergwerke wurden geschlossen, unzählige Geschäfte aufgegeben und Löhne, Renten sowie Gesundheitsleistungen gekürzt, um die Forderungen der Wall-Street-Spekulanten zu erfüllen. Im Verlauf dieser Entwicklung wurden Hunderttausende von Arbeitern in den Vereinigten Staaten buchstäblich getötet.

Seit 1959 stieg die Lebenserwartung jährlich an, bis diese Entwicklung im Jahr 2010 zum Stillstand kam. Nach einem Höchststand von 78,9 Jahren begann sie im Jahr 2014 ihren Abstieg. Bis 2017 ist die Lebenserwartung auf 78,6 Jahre gesunken.

2010 war nicht zufällig auch das Jahr, in dem Obamacare in Kraft trat. Dieser Angriff auf die Gesundheitsversorgung wurde als progressive Reform verkauft. Der Rückgang der Lebenserwartung seit dieser Zeit unterstreicht den rückschrittlichen Charakter des Gesundheitsprogramms, das nur eines der reaktionären Vermächtnisse der Obama-Regierung ist.

Obamacare war Teil eines bewussten Vorstoßes der herrschenden Klasse, um die Lebenserwartung der arbeitenden Bevölkerung zu senken. Für die Strategen des amerikanischen Kapitalismus gilt: Je länger die Lebensdauer älterer und pensionierter Arbeiter, die keine Gewinne mehr für die Konzerne erwirtschaften und stattdessen auf eine staatlich subventionierte Gesundheitsversorgung angewiesen sind, desto höher die Summen, die aus den Kassen der Reichen und des Militärapparats abgezweigt werden müssen.

In einem Strategiepapier aus dem Jahr 2013 stellte der Autor Anthony H. Cordesman vom Center for Strategic and International Studies (CSIS), einem Think Tank aus Washington, die wachsende Lebenserwartung einfacher Amerikaner unverblümt als immense Krise für den US-Imperialismus dar. „Für die USA gibt es keine ausländische Bedrohung, die so schwerwiegend ist, wie ihr Versäumnis, sich mit … den wachsenden Kosten für staatliche Sozialleistungen auseinanderzusetzen“, schrieb Cordesman. Die Schuldenkrise sei „fast ausschließlich auf wachsende Ausgaben des Staates für umfassende Gesundheitsprogramme, [die staatliche Rentenversicherung] Social Security sowie auf die Kosten [zurückzuführen], die aus den Nettozinsen für die Schulden entstehen.“

Unterdessen waren die Bedingungen für die Reichen noch nie besser. Dies spiegelt sich in der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich bei der Lebenserwartung wider. Das reichste eine Prozent der Männer lebt 14 Jahre länger als das ärmste eine Prozent und das reichste Prozent der Frauen 10 Jahre länger als das ärmste.

Obwohl die Vereinigten Staaten pro Kopf weitaus mehr für die Gesundheitsversorgung ausgeben als andere große kapitalistische Länder, sind sie hinsichtlich der Lebenserwartung und Sterblichkeit weit zurückgefallen. Seit den 1980er Jahren fallen die USA immer weiter hinter den anderen entwickelten Ländern zurück. Ab 1998 fielen sie im Vergleich zu anderen Mitgliedsländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unter den Durchschnitt.

Der erste Wendepunkt, an dem sich das Wachstum bei der Lebenserwartung deutlich verlangsamte, liegt in den frühen 1980er Jahren. Er fällt zusammen mit der sozialen Konterrevolution, die durch die Regierung von Ronald Reagan eingeleitet wurde. Zur Politik der sozialen Angriffe unter Reagan gehörten u.a. die systematische Unterdrückung von Gewerkschaften und Streiks, Lohnkürzungen und Werksschließungen auf nationaler Ebene sowie Kürzungen im Bildungssystem, bei der Gesundheitsversorgung und anderen Sozialprogrammen. Der Startschuss erfolgte mit der Unterdrückung des Streiks der PATCO-Fluglotsen im Jahr 1981, an der der Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO maßgeblich beteiligt war. Reagans Sozialpolitik wurde schnell von den Demokraten übernommen und von den Regierungen Clinton und Obama fortgesetzt.

Der zweite große Wendepunkt war der Wall Street Crash von 2008, auf den einerseits die Bankenrettung folgte, bei der Billionen ausgegeben wurden, und andererseits die brutale Sparpolitik gegen die Arbeiterklasse. Das folgende Jahrzehnt war geprägt von der Opioidkrise, die sich explosionsartig über die Gemeinden der Vereinigten Staaten ausbreitete.

Dem JAMA-Bericht zufolge ist der Rückgang der Lebenserwartung das Ergebnis von fast drei Jahrzehnten wachsender Sterblichkeitsraten bei Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter zwischen 25 und 64 Jahren. Dies ist vor allem auf einen dramatischen Anstieg der Todesfälle durch Drogenkonsum, Alkoholismus, Selbstmord und eine Reihe von Erkrankungen des Organsystems zurückzuführen.

Altersbereinigte Sterblichkeit durch unbeabsichtigte Drogenüberdosierung (nach Ethnien, Erwachsene in den USA im Alter von 25-64, über die Jahre 1999-2017). Werte in Klammern zeigen einen relativen Anstieg der altersbereinigten Sterblichkeitsraten nach Ethnien zwischen 2010 und 2017. [Quelle: CDC WONDER]

Zwischen 1999 und 2017 stieg die Sterblichkeit durch Drogenüberdosierung bei denjenigen im Haupterwerbsalter um gewaltige 386,5 Prozent – von 6,7 auf 32,5 Todesfälle pro 100.000 Einwohner. Der Anstieg der Sterblichkeit war mit einem Wert von 531,4 Prozent am stärksten bei den Jüngsten in dieser Kohorte im Alter von 25 bis 34 Jahren.

Der Bericht ergab, dass die Gesamtsterblichkeitsrate in der Lebensmitte zwischen 2010 und 2017 von 328,5 auf 348,2 pro 100.000 Einwohner angestiegen ist. Es kam zu 33.307 Todesfällen, die bei gleichbleibender Rate nicht eingetreten wären.

Vom Anstieg der Sterblichkeit sind Arbeiter aller Ethnien betroffen, wobei die größte Zahl der übermäßigen Todesfälle unter weißen Arbeitern auftrat – was das Konzept der „weißen Privilegiertheit“ auf besonders bittere Weise widerlegt. Mit derlei rassistischen Konzeptionen versucht die herrschende Klasse, ethnische und nationale Spannungen zu schüren, und klammert dabei die Realität des sozialen Lebens aus. Diese zeigt deutlich, dass die Interessen der Arbeiter aller Ethnien und Nationalitäten im Wesentlichen dieselben sind.

Woolf und Schoomaker fanden heraus, dass der größte relative Anstieg der Sterblichkeitsrate im Erwerbsalter auf New England und das Ohio Valley konzentriert war. Diese zwei Gebiete wurden von den Auswirkungen der Deindustrialisierung und der Opioidkrise besonders hart getroffen. Etwa ein Drittel der übermäßigen Todesfälle seit 2010 ereignete sich in nur vier der 50 US-Bundesstaaten – Ohio, Pennsylvania, Indiana und Kentucky. Von den zehn Bundesstaaten, die die meisten übermäßigen Todesfälle zu verzeichnen haben, befinden sich acht im Mittleren Westen und in der Appalachenregion.

„Uns ist nicht verborgen geblieben, was in diesen Staaten vor sich geht“, erklärte Woolf gegenüber der New York Times. „Der Zeitpunkt, an dem dieser Trend im Gesundheitsbereich seinen Anfang nahm, fällt mit diesen wirtschaftlichen Veränderungen zusammen – in der Produktion gingen Arbeitsplätze verloren, Stahl- und Autowerke wurden geschlossen.“

Die JAMA-Analyse deckt ein Verbrechen von gewaltigem Ausmaß auf. „Wenn aber die Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, dass sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen“, schrieb Friedrich Engels 1845 in Die Lage der arbeitenden Klasse in England, „und doch diese Bedingungen bestehen lässt – so ist das ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen“.

Die Verantwortung dafür, dass die Arbeiter schon in jungen Jahren in den Tod getrieben werden, trägt das kapitalistische System mit seinen unersättlichen Forderungen nach immer höheren Gewinnen. Die wichtigsten Komplizen waren hierbei die Gewerkschaften, die nach wie vor als Betriebspolizei der Unternehmen für den geordneten Ablauf von Werksschließungen sorgen und einen Tarifvertrag nach dem anderen abschließen, durch den die Rechte von Arbeitern ausverkauft werden.

In diesem wahnsinnigen Streben nach Profit werden die Arbeiter über die Grenze der Belastbarkeit hinausgedrängt. Die Amazonisierung der Arbeitsprozesse und das Anwachsen der sogenannten „Gig Economy“ in den letzten zehn Jahren haben die Ausbeutung dramatisch verschärft. Die Arbeiter werden in den Missbrauch starker Schmerzmittel wie Oxycontin und Opioiden getrieben, nur um die Verletzungen und Krankheiten zu bewältigen, die durch Überarbeitung entstehen.

Das Wiederaufleben des Klassenkampfes in den USA und international zeigt einen Weg nach vorne. Während jedoch im letzten Jahr Zehntausende von Autoarbeitern, Lehrern und Arbeitern in anderen Bereichen gestreikt haben, wurden ihre Kämpfe von den Gewerkschaften verraten.

Um der Arbeiterklasse das zu geben, was sie zum Leben braucht, bedarf es einer bewussten politischen Führung mit einem sozialistischen Programm. Auf der Grundlage eines solchen Programms können Arbeiter die Kontrolle über die Banken und Unternehmen übernehmen und sie demokratisch führen, damit diese den menschlichen Bedürfnissen dienen und nicht privaten Profitinteressen.

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