Frankreich: Massenproteste und Streiks gegen Macrons Rentenkürzungen gehen weiter

Bevor der französische Premierminister Édouard Philippe gestern in einer einstündigen Rede die Eckpunkte der Rentenreform der Macron-Regierung verkündete, demonstrierten am Dienstag mehr als 800.000 Arbeiter und Jugendliche in ganz Frankreich gegen die geplanten Kürzungen. Gleichzeitig setzten Beschäftigte der Bahn, der Verkehrsbetriebe und großer Teile des öffentlichen Dienstes die Streiks fort, die am 5. Dezember begonnen hatten.

Streikende der RATP-Linie 9

Die Streikbewegung in Frankreich findet vor dem Hintergrund eines mächtigen weltweiten Auflebens von Arbeitskämpfen und politischem Widerstand der Arbeiterklasse statt. In Algerien nehmen die Proteststreiks gegen die Wahl am 12. Dezember zu. Sie sind Teil einer Massenbewegung gegen das Militärregime. Zuvor hatten in Großbritannien die Bahnarbeiter gestreikt, in den USA die Autoarbeiter und Lehrer. Zu weiteren Massenprotesten kam es u.a. im Libanon, dem Irak, Chile, Bolivien und Ecuador. Unter diesen Bedingungen entwickelt sich der wachsende politische Widerstand gegen Macrons Austeritätsmaßnahmen sehr schnell zu einer Machtprobe zwischen der Arbeiterklasse und der Regierung.

Der Streik zeigt einmal mehr die immense gesellschaftliche Kraft der Arbeiterklasse. Der französische Zugverkehr und der öffentliche Nahverkehr in Paris kamen fast völlig zum Erliegen. Zudem beteiligen sich mehr als zehn Prozent des Personals der öffentlichen Schulen am Streik. Am Dienstag schlossen sich große Gruppen von Oberschülern und Studierenden im ganzen Land den Protesten an.

Am Dienstag gab es wieder große Streiks in der französischen Energiebranche. Sieben der acht Ölraffinerien werden bestreikt und blockiert, sodass es an den Tankstellen zu Treibstoffengpässen kommen könnte, vor allem da nächste Woche Streiks bei den Lastwagenfahrern geplant sind. Daneben streikte etwa ein Viertel der Beschäftigten von Electricité de France, sodass die Atomkraftwerke des Landes 6.000 Megawatt weniger Strom produzierten.

Ein Teil des Streiks

Laut der stalinistischen Confédération générale du travail (CGT) haben sich in ganz Frankreich 880.000 Arbeiter und Jugendliche an Demonstrationen beteiligt, 160.000 davon in Paris. Weitere Großveranstaltungen fanden u.a. in Lille, Lyon, Marseille, Rennes, Nantes und Toulouse statt. Als Protest gegen die Unterdrückung durch die Polizei hielten die Teilnehmer Bilder von Odile Maurin hoch, einer Behinderten, die nicht an Protestveranstaltungen teilnehmen darf, weil sie angeblich schwerbewaffnete Bereitschaftspolizisten mit ihrem Rollstuhl angegriffen hat.

Unter Arbeitern herrscht nicht nur große Wut auf Macron, sondern zunehmend auch Misstrauen gegenüber den Gewerkschaften, die versprechen, sie könnten seine Rentenreform durch Verhandlungen verbessern. Wie schon so oft in der Geschichte Frankreichs versucht die CGT, die Arbeiter durch ihre Verhandlungen mit einer kapitalistischen Regierung, die der Arbeiterklasse feindlich gegenübersteht, in eine Sackgasse zu führen. Doch die Macron-Regierung betont, dass sie keine nennenswerten Änderungen an ihren Plänen, die Renten und andere wichtige Sozialprogramme wie die Kranken- und Arbeitslosenversicherung zu kürzen, machen wird

Diese Angriffe lassen sich nur aufhalten, wenn breite Schichten der Arbeiterklasse und der Jugend für einen Kampf zum Sturz von Macron mobilisiert werden und an die Unterstützung der Arbeiter im Rest der Welt appellieren. Das bedeutet, die Arbeiter müssen ihre eigenen Aktionskomitees gründen, um den Gewerkschaften die Kontrolle über den Streik zu entreißen und die Streikbewegung unabhängig von den national basierten Gewerkschaftsbürokratien zu koordinieren, die eng mit der Macron-Regierung zusammenarbeiten. Großen Teilen der Arbeiter bei den Protesten wird immer klarer, dass ihnen diese Organisationen nichts zu bieten haben.

Marie-Hélène, eine Pflegekraft aus Paris, erklärte gegenüber Reportern der World Socialist Web Site während der Kundgebung in Paris, sie sehe den Streik als Reaktion auf die jahrzehntelangen internationalen Bestrebungen der Finanzaristokratie, die Arbeiterklasse in die Armut zu treiben.

Marie-Hélène

Sie erklärte: „Ich beteilige mich ganz einfach deswegen, weil meine Rente auf unter 1.000 Euro im Monat sinken wird. Von weniger als 1.000 Euro im Monat kann man aber in Frankreich nicht leben. ... Wir haben in Frankreich und weltweit in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung einer ultra-liberalen marktwirtschaftlichen Politik erlebt, in der es bei allem nur um Profite und den Kapitalismus an sich geht. Die ersten Opfer sind die Arbeiter, und alle Länder sind betroffen. Über Frankreich wird vielleicht mehr berichtet als über andere, weil hier die ‚Gelbwesten‘-Bewegung entstanden ist, aber alle Länder auf der ganzen Welt haben darunter zu leiden.“

Marie-Hélène betonte, dass sich die Kürzungen nur verhindern lassen, wenn die Arbeiter weiterhin dagegen mobil machen, obwohl die Gewerkschaften versuchen, einen faulen Kompromiss mit Macron auszuhandeln. Sie erklärte: „Mit Macron gibt es nichts zu verhandeln, aber die Gewerkschaftsführung will es offenbar tun. Aber wir sind die Arbeiter, und wir sagen klar und deutlich: Diese Reform wird es nicht geben. Wir werden auf der Straße bleiben, solange es notwendig ist, aber diese Reform wird es nicht geben.“

Marie-Hélène, die seit über einem Jahr Mitglied der „Gelbwesten“-Bewegung ist, äußerte ihre Verachtung gegenüber den Vorwürfen in den Medien, die Bewegung sei neofaschistisch: „Ich bin eine Pflegekraft. Ehrlich, wie könnte ich eine Faschistin sein? Diese Vorwürfe sind in Wirklichkeit nur erfunden. Alle meine Freunde und ich sind ruhige und anständige Menschen. Wir wären nie auf die Straße gegangen, wenn diese Reformen nicht so zutiefst schädlich wären.“

Die Wut über das perverse Ausmaß der sozialen Ungleichheit, die der Kapitalismus verursacht, wächst immer weiter. Yoann und Martin, zwei Lehrer aus dem Raum Paris, erklärten gegenüber der WSWS, durch Macrons Rentenkürzungen würden sich ihre Renten um bis zu 500 Euro monatlich verringern. Yoann erklärte mit Blick auf Bernard Arnault, den reichsten Mann der Welt, der sein Vermögen im Jahr 2018 um 23 Milliarden Euro steigern konnte: „Es ist natürlich empörend, wenn wir jeden Cent umdrehen müssen oder zum Monatsende sogar Schulden machen.“

Martin und Yoann

Schüler in Arbeitervierteln sind zudem mit überfüllten und unterfinanzierten Schulen konfrontiert. Yoann erklärte: „Familien kommen nicht bis zum Ende des Monats über die Runden. Es bricht einem das Herz, wenn man einen Schüler hat, der Sport treiben will, aber seine Familie sich die notwendigen 25 Euro nicht leisten kann.“

Der Verkäufer James erklärte gegenüber der WSWS, warum er Gewerkschaftsführern wie dem CGT-Generalsekretär Philippe Martinez misstraut: „Diese Leute sind eigentlich Teil des Systems, ihre Gewerkschaften kriegen riesige staatliche Subventionen. Die Arbeiter an der Basis sind diejenigen, die den Kampf aufgenommen haben. ... Leute wie Martinez sind Teil des Systems. Deshalb verhandeln sie, aber was heißt das, was kommt bei ihren Verhandlungen raus? Nichts. Die Leute haben genauso viel Schwierigkeiten wie zuvor, aber sie haben immer noch ihren Posten und ihr angenehmes Leben.“

Diese Äußerungen verdeutlichen den unüberbrückbaren Klassengraben zwischen den Arbeitern auf der einen Seite und der Finanzaristokratie, den staatlichen Funktionären sowie den Gewerkschaftsbürokraten, die auf der anderen Seite die Politik aushandeln. Philippes Verkündung der Rentenkürzungen bestätigt einmal mehr, dass Verhandlungen mit der Macron-Regierung zu nichts führen werden. Die einzige Lösung ist ein Kampf für ihren Sturz.

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